So liefen die Recherchen in Sachen Notfallrettung - ein Making-of

Was journalistische Recherchen bewirken können - ein Rückblick des Stuttgarter Nachrichten-Redakteurs Jürgen BOCK

Routineeinsatz: Ein Allerweltstermin

Es ist der 8. Februar 2008, und der Terminplan sieht einen Routineeinsatz für den Lokalredakteur vor. Zwei Stuttgarter Bürgerinitiativen laden zur Pressekonferenz. Ihr Ziel: Sie wollen die europäische Notrufnummer 112 bekannter machen und stellen deshalb passend zur Zahlenkombination am 11.2. einen Aktionstag auf die Beine. Viel zu wenige Menschen wissen ihrer Meinung nach, dass die 112 bei weitem nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen Urlaubsländern die zentrale Notrufnummer für Feuerwehr und Rettungsdienst ist. Das Gespräch verläuft völlig normal, da könnte ein kleiner Bericht draus werden, denkt man sich.

Alarm: Routine wird zum Notfall

Doch plötzlich ändern sich die Vorzeichen. Wie so oft, kommt der spannende Teil nach dem offiziellen Gespräch. Im Stehen plaudert man noch kurz mit den Gastgebern, und dabei stellt sich heraus, dass die Bürgerinitiative Rettungsdienst und die Bürgerinitiative Forum Notfallrettung Stuttgart sich nicht nur mit der 112 befassen. Sie wollen den Rettungsdienst insgesamt verbessern. In einem Nebensatz fallen die zentralen Worte, die den Stein ins Rollen bringen: „Es sollen neuerdings ja sogar Zahlen vorliegen, die beweisen, dass Stuttgart schlechter als alle anderen vergleichbaren deutschen Städte ausgestattet ist“, sagt Tjark Neinhardt vom Forum Notfallrettung. Da soll es sogar ein offizielles Schriftstück aus dem Rathaus geben, heiße es.
Bei mir schrillen alle Alarmglocken. Zurück in der Redaktion, unterhalte ich mich mit meinem Kollegen Wolf-Dieter Obst. Er ist Polizeireporter und hat die erwähnten Missstände seit Jahren auf dem Kieker, aber nie belegen können. Er bestärkt mich darin, jetzt alle Hebel in Bewegung zu setzen. Nur eine halbe Stunde später ist es auf verschlungenen Kanälen gelungen, das ominöse Schriftstück in Händen zu halten. Es handelt sich dabei um eine nichtöffentliche Antwort der Verwaltung auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Rathaus. Verglichen mit anderen Städten sei „Stuttgart absolutes Schlusslicht“, schreibt Ordnungsbürgermeister Martin Schairer da.
Aber es kommt noch dicker: Durch diese schlechte Ausstattung halte die Notfallrettung in Stuttgart noch nicht einmal die gesetzlich vorgeschriebene Hilfsfrist ein, also die Zeit von der Alarmierung bis zum Eintreffen am Unfallort. Und das, obwohl Baden-Württemberg mit 15 Minuten ohnehin schon die lockerste Regelung bundesweit aufweist. Die Stellungnahme ist drei Monate alt. Geschehen ist bisher nichts. Und die Bürger wissen nicht, in welcher Gefahr sie schweben, wenn sie Notarzt oder Rettungswagen benötigen. Die Allerweltsgeschichte ist zum Aufmacher geworden.

Großeinsatz: Die Welle setzt sich in Bewegung

Es ist der 9. Februar 2008, und das Telefon steht nicht mehr still. Die Geschichte hat eine Welle ausgelöst. Zahlreiche Patienten schildern, wie sie teils stundenlang auf die Hilfskräfte gewartet haben – zum Teil mit schlimmen gesundheitlichen Folgen. Aber auch etwas Unerwartetes geschieht: Nicht nur Patienten rufen an oder schreiben, sondern auch viele Rettungsdienstmitarbeiter. Auch sie bestätigen die Verhältnisse und klagen über ihre Lage und Belastung. Die meisten tun das anonym, weil sie fürchten, bei Nennung ihres Namens ihren Job zu verlieren. Aus der ganzen Region melden sich die Betroffenen, Stimmen aus dem gesamten Bundesland werden laut. Es scheint, als hätten sie alle nur darauf gewartet, ein Ventil für ihren Ärger zu finden und die Verantwortlichen anzuprangern. Nur – wer sind die überhaupt?

Nachtschicht: Intensive Recherche

Um jetzt keinen Fehler zu machen, muss ich mich gründlich in das komplizierte Konstrukt Notfallrettung einarbeiten. Ich rede mit vielen Anrufern und den Stuttgarter Bürgerinitiativen. Auch dort sind zahlreiche Rettungsdienstmitarbeiter vertreten. In einer Kneipe treffe ich mich am Abend mit einigen ihrer Vertreter. Stundenlang schildern sie mir die Situation, übergeben mir stapelweise Unterlagen und Schriftverkehr mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), der Stadt und der Landesregierung.
Im Blickpunkt stehen nun mehrere Akteure: Der Ordnungsbürgermeister, der als Rechtsaufsicht zwar als erster konkrete Zahlen erhoben, aber bisher nicht auf die offenkundigen Missstände reagiert hat. Das Land, namentlich das Sozialministerium, das durch die laxe Gesetzgebung die Situation verschärft. Und schließlich der Bereichsausschuss, der in der Stadt für die Organisation des Rettungsdienstes zuständig ist und vom Ordnungsbürgermeister kontrolliert wird. Dort sitzen die Vertreter der Rettungsdienste und der Krankenkassen.

Intensivstation: Der Patient soll gar nicht so krank sein, wie es scheint

Nach und nach werden alle Betroffenen mit dem Sachverhalt konfrontiert. Resultat: Unter den Teppich kehren. Alles ist ja gar nicht so schlimm, wissen Sie. Da braucht man sich keine Gedanken machen, gell. Man tut es trotzdem. Das Resultat: Der Ordnungsbürgermeister erklärt, er habe noch mehr Zahlenmaterial sammeln wollen, bevor er handelt. Unsere Attacken empfindet er als ungerecht. Immerhin: Von diesem Moment an ist er voll bei der Sache, reagiert schnell und steht Rede und Antwort. Süffisante Note am Rande: Heute spricht er davon, dass „wir diese Sache gemeinsam ins Rollen gebracht“ hätten.
Die Verantwortlichen bei den Rettungsdiensten, vor allem beim DRK, sind dagegen weitaus weniger begeistert von der Berichterstattung als ihre Mitarbeiter. Sie spielen die Probleme herunter, obwohl ja gerade sie von einer Aufstockung der Rettungsmittel profitieren würden. Schnell wird klar: Hier spielen auch politische Interessen mit. Zudem entstehen oftmals bei neuen Fahrzeugen höhere Kosten, als von den Kassen getragen werden. Man will gemeinsam mit der Stadt deshalb die Zahlen, die man den Grünen mitgeteilt hatte, lieber noch mal prüfen, denn „das kann ja eigentlich gar nicht sein“. Die Krankenkassen halten sich mit Kommentaren dagegen gänzlich zurück. Jedes Zugeständnis kann bares Geld kosten. Und das Sozialministerium ist der Meinung, die Notfallrettung im Land funktioniere gut und alles andere sei Sache der Bereichsausschüsse.

Notstand: Die Mitarbeiter

Die Geschichte wächst sich immer mehr aus. Wir wollen uns jetzt nochmals mit den Mitarbeitern der Rettungsdienste befassen. Wir wollen unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, sie wären schuld an den Missständen. Mit dem DRK vereinbare ich, dass ich bei einer Schicht mit dem Rettungswagen mitfahren und meine Eindrücke in einer Reportage schildern darf. Vor der Abfahrt werde ich eine Stunde lang vom Rettungsdienstleiter darauf eingeschworen, dass die Situation hervorragend sei. Die junge Besatzung des Rettungswagens schweigt die meiste Zeit bedrückt zum Thema. Nur, als ich kurz mit einigen Zivildienstleistenden zusammenstehe, bricht der ganze Ärger aus ihnen heraus.
Kurz darauf bittet die Gewerkschaft Verdi zum Pressegespräch über die Situation junger DRK-Mitarbeiter, die in Stuttgart nicht mehr nach Tarif bezahlt werden. Der Grund dafür: Mangelnde Finanzmittel von den Krankenkassen.

Vollgas: Von einem Einsatz zum nächsten

Es ist der 26. Februar, ein weiteres denkwürdiges Datum. Die Nachprüfung des Zahlenmaterials ist beendet. Es steht fest: Die Lage ist tatsächlich so schlecht, wie wir geschildert haben. Der Ordnungsbürgermeister beruft eine Krisensitzung des Bereichsausschusses ein. Am 13. März wird beschlossen, dass Stuttgart einen zusätzlichen Notarzt bekommt. Kurz darauf folgen 1,5 Rettungswagen. Alle zusätzlichen Fahrzeuge werden zunächst befristet unterwegs sein, bis neue Zahlen vorliegen. Und es geht Schlag auf Schlag weiter: Es wird verkündet, dass ein Gutachten die gesamte Struktur der Stuttgarter Notfallrettung bis Herbst auf den Prüfstand stellen soll – Zahl und Lage der Rettungswachen, Wagen, Mitarbeiter, Organisation. Der erste Schritt ist gemacht: Kurzfristig wird die Versorgung in der Stadt erheblich verbessert.
Aber damit lassen wir noch keine Ruhe. Auf Landesebene hat sich noch nichts getan. Dort herrscht verdächtige Stille. Doch eine Bürgerinitiative hat eine Petition eingereicht, die auf die Novellierung des Rettungsdienstgesetzes zielt. Im Rahmen der Berichterstattung erhält sie mächtigen Aufwind. Auch im ganzen Land werden immer mehr Kommunen und Landkreise auf das Thema aufmerksam. Aus allen Ecken kommen die Meldungen, dass es Umstrukturierungen und Diskussionen gebe.

Kriechfahrt: Neue Diskussionen

Im Herbst 2008 liegt kein Gutachten vor. Am 3. November erfahren wir, dass noch nicht einmal der Auftrag dafür erteilt worden ist. Der Bereichsausschuss müsse erst die Fragestellung erarbeiten. Unsere Informanten von den Bürgerinitiativen äußern den Verdacht, dass die Krankenkassen abblocken. Für sie könnte das Gutachten Folgen haben: Sollten grundlegende Änderungen nötig sein, zöge das enorme Kosten nach sich. Diesen Verdacht weisen sie entschieden von sich. Das Gutachten soll nun im Frühsommer 2009 vorliegen. Bis dahin muss sich die Bevölkerung mit den kurzfristigen Verbesserungen begnügen.

Nachgang: Der Einsatz geht weiter

Im April 2009, 14 Monate nach dem vermeintlichen Routineeinsatz bei der Pressekonferenz, bringt das Landeskabinett eine erste Novellierung des Rettungsdienstgesetzes auf den Weg. Noch kein großer Wurf, es bleibt noch viel Arbeit. Das Stuttgarter Gutachten soll Ende Juni vorliegen. Der Kontakt zu Bürgerinitiativen und anderen Beteiligten besteht weiterhin. Es bleibt noch viel zu tun, um den Patienten Notfallrettung über den Berg zu bringen.

 

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