"Euro-Notruf 112"

Die Entstehungsgeschichte einer (über)lebenswichtigen Hotline

Begonnen hatte alles im Jahre 1969 in jenem Ort, der 2009 durch einen jugendlichen Amokläufer in die Schlagzeilen geriet: in Winnenden in der Nähe von Stuttgart.

Björn STEIGER, ein Schuljunge, wird auf dem Heimweg vom Schwimmbad von einem Auto erfasst. Passanten alarmieren sofort Polizei und Rotes Kreuz. Bis ein Krankenwagen eintrifft, dauert es fast eine ganze Stunde. Es ist ein Auto, mit dem normalerweise kranke und gebrechliche Menschen ins Krankenhaus gefahren werden. Es ist kein Rettungswagen, wie man das heute kennt. So war das damals: Wirtschaftswunder, aber keinerlei medizinische Notfallversorgung. Der regierenden Partei in Stuttgart, aber auch in Bonn, den "christlichen" Demokraten, stand die "Wirtschaft" näher als die Menschen.

Nur ein Beispiel: Asbest. Es war die Blütezeit aller Asbestverarbeitenden Unternehmen. Und jedes Jahr waren es an die 10.000 Tote, die an dem toxischen Material erst erkrankten und dann verstarben (mehr unter www.ansTageslicht.de/Asbestkrimi). Die Zahl der Verkehrstoten: doppelt so hoch.

Und so starb auch Björn STEIGER: nicht an seinen Verletzungen, sondern am Schock danach während der Autofahrt ins Krankenhaus. Dies war am 3.Mai 1969.

Die Eltern, die das nicht verstanden, machren aus ihrer Trauer das Beste: sie gründeten einen gemeinnützigen Verein, eine Stiftung, wollten in Deutschland den Aufbau einer Nothilfe anregen und diese Aufgabe dann denen überlassen, die dazu finanziell, infrastrukturell und politisch in der Lage sind: Politikern, Staat und Behörden. Eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen privatem Engagement und staatlicher Umsetzung.

Diese Umsetzung indes gestaltete sich schwierig. Es gab nichts: keine einheitliche Telefonnummer, keine Leitstellen, bei denen solche Notrufe auflaufen konnten, keine spezifischen Rettungswagen mit Erster Hilfe-Einrichtung, keine Notärzte, keine Luftrettung, keine staatlichen Zuständigkeiten und schon gar nicht - besonders wichtig in einem Land wie hierzulande: keine gesetzlichen Regelungen oder Vorschriften. Es gab einfach nichts. Null Infrastruktur. Und kein Ministerium fühlte sich zuständig: deutsche Bürokratenphilosophie.

Der Vorschlag von Börn STEIGER's Eltern, das zu ändern, traf auf Unverständnis: zu teuer. Der Vater ließ nicht locker. Was es denn kosten würde, für den Regierungsbezirk Nord-Württemberg mit seinen 19 Landkreisen eine solche Nummer einzurichten?

Da ist die Bürokratie genau: "387.000 Mark"!

Der Vater machte sich ans telefonieren. Mit allen 19 Landräten. Kostenpunkt für jeden: rund 20.000. Überschaubar.

In 5 Tagen waren alle 19 dafür. In Baden-Württemberg, im Land des "schaffe, schaffe, Häusle baue" geht so etwas dann schnell. 

Nur nicht bei der Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Die waren dagegen. Zu teuer für die ganze Republik!

Der Vater, clever wie er war, drohte mit einer Klage gegen die Bundesrepublik wegen "vorsätzlich unterlassener Hilfeleistung". Eine rechtliche Grundlage dafür gab es natürlich nicht. Aber er wusste, dass sich für eine solche Aktion auch die Medien interessieren. Die stiegen auch mit ein. Und um den Druck zu erhöhen, reichte Vater STEIGER tatsächlich die angekündigte Klage vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht ein: gegen das Land Baden-Württemberg und gegen die Bundesrepublik.

Die Verhandlung war schnell vorbei. Der Richter zeigte volles Verständnis. Aber er konnte nichts entscheiden: nicht zuständig, Klage abgelehnt (Az: II 139/73)!

Das war der "Politik" dann doch zu peinlich, denn die Menschen im ganzen Land verstanden den bürokratischen Widerstand nicht. Drei Wochen später auf der nächsten Sitzung der Ministerpräsidenten der Länder und dem Bundeskanzler wurde die Einführung des bundesweiten Notrufs beschlossen. Die Nummer "112" gab es da schon lange. Und jetzt wurde es amtlich!

Die zunächst familäre "Björn-Steiger-Stiftung" hatte vor dieser Entscheidung bereits unabhängig vom politischen Hick-Hack hinvestiert: zunächst in Funkgeräte. Preis pro Stück: 7.500 DM - soviel wie für einenen "Volkswagen". Also viel Geld. Die Björn-Steiger-Stiftung bot daher den Landkreisen an, ein Drittel der notwendigen Geräte mitzufinanzieren, wenn die staatlichen Institutionen selbst zwei Drittel der Kosten übernahmen. Dieses Angebot bzw. Finanzierungskonzept erwies sich überraschend als erfolgreich. Es wurde nach und beispielgebend für die gesamte Bundesrepublik.

1969 gab es bereits Sprechfunk: für die Taxis. Krankenwagen hatten so etwas nicht. Krankenwagen waren damals auch keine Rettungswagen, sondern Fahrzeuge, in denen man Kranke oder eben auch Schwerverletzte einlud, um sie ins Krankenhaus zu fahren. Die Idee, dass ein Auto bereits mit Erster Hilfe-Einrichtung bestückt werden kann, um wertvolle Zeit zu sparen, die Leben retten kann, auf diese Idee kam man erst später. Nochmals später dann die Notfallwagen, in denen auch ein Notarzt sitzt. Das erste Funkgerät wurde noch im selben Jahr übergeben: an das Deutsche Rote Kreuz.

Neben diesem finanziellen Engagement gründeten die Eltern STEIGER die "Arbeitsgemeinschaft Rettungsdienst Nord-Württemberg", in der neben den damals überhaupt vorhandenen Hilfsorganisationen die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk, aber auch die Behörden und Ministerien vertreten waren - von der Bundeswehr bis zuir Deutschen Bundespost, die damals das Telefon- und Funkmonopol besaß. Außerdem natürlich die Polizei, das Innen- und das Sozialministerium und die Krankenkassen. Es war die erste Institution, die auf breiter Ebene unter Einbindung aller denkbaren Entscheidungsträger und Verantwortlichen die Idee nach und nach flächendeckend in die Tat umsetzte.

Die Idee einer bundesweit einheitlichen Nummer war dann der nächstlogische Schritt. Dass es nicht die "111" wurde, hing mit der analogen Telefontechnik zusammen. Ein dreimaliges identisches Signal "1" hintereinander mit einer Wählscheibe eines Telefons verursachte technische Störungen. Also die "112" für den Notruf und die "110" für die Polizei.

"Politik ist das beharrliche und ausdauernde Bohren dicker Bretter", hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der bekannte Soziologe Max WEBER einmal geschrieben. Heute würde er diesen Satz sicher ergänzen: Nicht nur auf das beharrliche Bohren kommt es an, sondern auch auf die Cleverness, wo man überall und gleichzeitig beharrlich und ausdauernd bohren muss.

Im Jahr 2022 lag die Anzahl der Verkehrstoten bei weniger als 3.000 pro Jahr. Und Asbest ist inzwischen verboten. Dass es sehr oft die Zivilgesellschaft ist, die Änderungen anschiebt, und nicht die "hohe Politik", die das dann nur umsetzen kann und muss, dokumentieren wir an anderer Stelle: www.ansTageslicht.de/Zivilgesellschaft.

Weitere Informationen zur inzwischen internationalen "112"-Notrufnummer auf der Website der Björn-Steiger-Stiftung.

2023, im 50. Jahr der bundesweiten Einführung der Notrufnummer, hat der aktuelle Präsident der Björn-Steiger-Stiftung, der Bruder des damals achtjährigen verstorbenen Jungen, Pierre-Enric STEIGER, im Berliner "Tagesspiegel" ein Interview gegeben: Ist die Notfallrettung noch zu retten? (Paywall!).

Wer sich für das beharrliche und clevere Bohren auch in den späteren Jahren interessiert, als andere engagierte Bürger den Rettungsdienst in Stuttgart und Umgebung verbessern wollen, der lese Wie die mangelhafte Notfallrettung in die öffentliche Wahrnehmung geriet - eine Chronologie. Diesen Text zur "112" können Sie auch getrennt und direkt aufrufen unter www.ansTageslicht.de/112.

(JL)