Weitere Berichte zum Thema Tierarzt, 13.11.2010

von Christina HUCKLENBROICH

Ein Herz für Tierärzte

Der Montagmorgen beginnt mit einer jungen Stimme auf dem Anrufbeantworter. Eine Fünfzehnjährige aus einem der umliegenden Dörfer will ein Praktikum beim Tierarzt machen. "Wahrscheinlich will sie Tierärztin werden", sagt Sarah Nolte*. "Vielleicht kann man es ihr noch ausreden."

Die Neunundzwanzigjährige steht am Fenster des Behandlungsraums, zwischen dem Ultraschallgerät und einem Brett, an dem lederne Maulkörbe in unterschiedlichen Größen hängen. Mit fünfzehn war Sarah Nolte selbst einmal Praktikantin in dieser Praxis. Heute ist sie hier als Tierärztin angestellt. Dazwischen lagen Abitur und Veterinärmedizinstudium, das Staatsexamen und anschließend mehrere Jahre Arbeit in zwei der renommiertesten Tierkliniken in Deutschland. Ein Berufsweg, von dem in diesem Jahr wieder 5500 junge Leute träumten - so viele Abiturienten bewarben sich um einen Studienplatz in Veterinärmedizin. Nur eine von fünf Bewerbungen war erfolgreich; der Numerus clausus für das Wintersemester liegt bei 1,0 bis 1,6, je nach Bundesland.

Nolte kennt den Andrang auf die Studienplätze. "Noch sickert wenig durch", sagt sie. "Nur untereinander sprechen Tierärzte offen darüber, dass sie von ihren Gehältern nicht mehr leben können." Man schweige aus Scham, sagt Nolte. "Scham darüber, dass man damals so naiv war." Damals: Für Sarah Nolte ist das die Zeit nach dem Abitur, das sie am städtischen Gymnasium ein paar Straßen weiter gemacht hat. "Wenn ich die Zeit um zehn Jahre zurückdrehen könnte", sagt sie heute, "dann würde ich Lehrerin oder Ärztin werden. Ich würde einfach einen richtigen Brotberuf lernen."

Der Tierarztberuf ist das nicht mehr. Das sieht nicht nur Sarah Nolte so. Ruft man die Berufsverbände an, bestätigen deren Sprecher diese Sicht ohne Umschweife. "Wir betrachten es mittlerweile als große Tragik, dass begabte junge Leute Veterinärmedizin studieren und nach dem Examen erkennen müssen, dass sie von ihrem Gehalt nicht leben können", sagt Katharina Freytag, Juristin und Geschäftsführerin der Bundestierärztekammer in Berlin. Frank Menz, der Geschäftsführer der Tierärztekammer Hessen, spricht von einer "katastrophalen Gehaltssituation". "Wir hier bei der Kammer sehen das an den Pflichtbeiträgen zum Versorgungswerk, deren Höhe vom Gehalt abhängt. Die Lage ist drastisch."

Vor zwei Jahren veröffentlichte Bettina Friedrich, eine Doktorandin der Tierärztlichen Hochschule Hannover, eine Studie, für die ein Großteil der 4300 angestellten Tierärzte in Deutschland Auskunft über ihre Gehälter und Arbeitsbedingungen gegeben hatte. Das geringste Monatsgehalt auf einer Vollzeitstelle beträgt demnach 580 Euro brutto bei Frauen, 900 Euro bei Männern. Im Durchschnitt liegt das Gehalt für in Vollzeit angestellte Tierärzte in den alten Bundesländern bei 2500 Euro, in den neuen bei 2000 Euro brutto - unabhängig von der Anzahl der Berufsjahre.

Die Hälfte der Arbeitnehmer, die diese Angaben machten, war bereits promoviert. Die Studie dokumentiert außerdem einen harten Arbeitsalltag: Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit angestellter Tierärzte beträgt 48 Stunden, wobei Notdienste noch nicht berücksichtigt sind. Drei von vier Angestellten erhalten keine Vergütung für Notdienste. Männer verdienen im Schnitt 550 Euro mehr im Monat als Frauen. Besonders hart sind die Arbeitsbedingungen in Pferdekliniken, wo die Angestellten auf eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 55 Stunden kommen.

"Wir beobachten flächendeckend Verstöße gegen geltendes Recht, etwa das Arbeitszeit- und das Gleichbehandlungsgesetz", sagt Stephanie Jette Uhde. Die Sechsunddreißigjährige aus Kiel gründete Anfang des Jahres den Verband "Vet Lobby", der Interessen und Rechte von Frauen im Tierarztberuf vertreten will. Damit trägt man dem Umstand Rechnung, dass Tierarzt ein Frauenberuf geworden ist. Fast neunzig Prozent der Studierenden und drei Viertel der angestellten Tierärzte sind Frauen. "Die Frauen im Tierarztberuf kennen ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt nicht", sagt Uhde, die selbst als angestellte Tierärztin in einer Kleintierpraxis arbeitet. "Nicht nur Berufsanfängerinnen werden schlecht bezahlt. Das Gleiche gilt für Frauen mit zehn Jahren Berufserfahrung und Fachtierarzttitel."

Der Verband "Vet Lobby" will für seine Mitglieder - ob angestellt oder selbständig - ein Mentorinnenprogramm installieren. Außerdem sollen Tariflöhne vereinbart werden - erstmals in der Geschichte des Berufsstandes. Uhde rechnet schon jetzt mit handfesten Konflikten. Über die Gründungsversammlung von "Vet Lobby" verrät sie deshalb nur, man habe sich Anfang des Jahres "in einem kleinen Ort bei Berlin" getroffen. Die Namen der Gründungsmitglieder werden geheim gehalten. "Die Angestellten unter unseren Mitgliedern befürchten Repressalien von ihren Arbeitgebern, die Niedergelassenen haben Angst davor, als Nestbeschmutzer zu gelten."

Auch Sarah Nolte will ihren wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen - und auch nicht den ihrer Chefin oder den der Stadt, in der beide arbeiten, einem beschaulichen Kurort in Westdeutschland. Die halbe Stelle in der Praxis, in der sie als Schülerin zu hospitieren begann, ist eine Übergangslösung. An den freien Nachmittagen schreibt sie jetzt Bewerbungen für den öffentlichen Dienst - bisher mit wenig Erfolg: Der einzige Bereich, der Veterinären noch ein Hochschulabsolventengehalt sichert, ist überlaufen. Als Nolte einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, erschienen mit ihr dreißig Tierärztinnen. Hätte es geklappt mit der Stelle im Veterinäramt, dann hätte sie dort Leberwurst und Räucherlachs untersucht, im Labor Keimkolonien gezählt und Abmahnungen an Eisdielen mit mangelhafter Hygiene geschickt.

Geträumt hat sie von etwas anderem, als sie den Beruf ergriff: von Fällen wie Kalle. Der zitternde Terriermischling ist der erste Patient an diesem Morgen. "Seit einer Woche hockt er sich immer hin wie ein Welpe, wenn er Pipi macht", sagt seine Besitzerin. "Und seit ein paar Tagen sind überall Pfützen in der Wohnung, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme." Nolte drückt sanft auf Kalles Bauch und mustert anschließend den Urin, der in einen Becher getröpfelt ist, unter dem Mikroskop. Es sind Kristalle darin. "Das deutet auf eine Blasenentzündung hin", sagt sie. Kalles Besitzerin bekommt eine Schachtel Antibiotikatabletten - "zwei morgens, zwei abends" - und eine Tube mit essbarer Paste, die die Kristalle auflösen soll.

Nicht immer ist die Diagnose so einfach. Manchmal muss Sarah Nolte wissenschaftliche Literatur und Fortbildungsunterlagen wälzen oder Kollegen in der Uni anrufen, um einer Krankheit auf den Grund zu kommen. Und viele Tierhalter sind heute auch bereit, dafür zu zahlen. Gerade im städtischen Milieu, wo Hunde und Katzen für ihre Besitzer oft die Rolle von Ersatzkindern einnehmen, werden selbst bei langwierigen chronischen Erkrankungen hohe Rechnungen in Kauf genommen.

Sarah Nolte wird an diesem Vormittag noch einer zuckerkranken Katze Insulin verordnen und einem Hund mit Bluterkrankheit ein Langzeitmedikament aus der Humanmedizin. Sie wird der Besitzerin eines krebskranken Dackels versprechen, dass sie zu ihr in die Wohnung kommt, wenn der Hund eingeschläfert werden muss. Es klingt glaubwürdig, wenn Branchenkenner sagen, dass mit dieser Arbeit viel Geld verdient wird.

"Wenn es noch eine New Economy in Deutschland gibt, dann ist das die Kleintiermedizin" - so formuliert es Heiko Färber. Der Diplom-Kaufmann ist Geschäftsführer des Bundesverbandes Praktizierender Tierärzte, der mehr als siebentausend klinisch tätige Tierärzte unter seinem Dach versammelt hat - überwiegend Inhaber von Praxen und Kliniken. "In Deutschland boomt der Markt für Tierzubehör", sagt Färber. Man müsse sich nur einmal die Wachstumsraten der Firma "Fressnapf" ansehen. "Fressnapf" überzieht Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre mit Franchise-Läden für Tierzubehör - riesigen Supermärkten voller Hundeleinen, Dosenfutter und Hamsterkäfigen. "Die Kette verzeichnet jedes Jahr eine Umsatzsteigerung von zehn Prozent", sagt Färber. Er ist sich sicher: Die Deutschen geben Geld aus für ihre 23 Millionen Hunde, Katzen, Nager und Ziervögel. Aber Färber weiß auch, dass dieses Geld nicht bei den Frauen landet, die in Praxen und Kliniken als Tierärztinnen angestellt sind.

Färber zögert einen Moment, bevor er weiterspricht. Von seinem Konferenztisch aus blickt er auf die Fassaden der Frankfurter Bürostadt Niederrad, wo der Tierärzteverband eine weitläufige Etage gemietet hat. Im Grunde sei die ganze Sache ein Generationenkonflikt, sagt Färber schließlich. "Die jungen Frauen haben andere Vorstellungen und Ziele als die ältere Tierärztegeneration. Sie sind wenig bereit, aus den Großstädten aufs Land zu ziehen, und strömen vor allem in die Kleintiermedizin." Gleichzeitig verändere sich die Bedeutung der angestellten Tätigkeit. Berufsanfänger seien zwar immer schon mit niedrigen Gehältern abgespeist worden, sagt Färber, doch früher habe sich ein junger Tierarzt nach wenigen Jahren selbständig machen können. "Bis in die achtziger Jahre war es leicht, mit einer eigenen Praxis zu Wohlstand zu kommen." Heute sei das fast unmöglich, weil die Einrichtung einer Praxis, die den gewachsenen Ansprüchen der Kundschaft genüge, für schlecht bezahlte Angestellte unerschwinglich geworden sei.

Tiermedizin ist heute Hightech: Tumore werden bestrahlt, Mägen gespiegelt und Bandscheiben operiert, wie in der Humanmedizin. Man braucht jetzt teure Geräte und wie eh und je viel praktische Erfahrung. Wissen ist für junge Tierärztinnen zu einer Währung geworden, die das Gehalt ersetzt. Deshalb würden besonders in großen Praxen Anstellungen zu allen Bedingungen akzeptiert, sagt Stephanie Jette Uhde. Das sei allerdings ein Glücksspiel. "Es ist möglich, dass man nach fünf Jahren eine ganze Palette von OPs selbst durchführen kann. Man kann aber auch fünf Jahre in einem Betrieb arbeiten und hat am Ende noch nicht mal eine Hündin kastriert." Dann habe man in dieser Zeit nur Laborergebnisse ausgewertet, Narkosen überwacht oder spät in der Nacht vors Auto gelaufene Hunde mit Infusionen am Leben gehalten, bis der Chef eintraf und selbst operierte.

Auch Sarah Nolte sammelte ihre ersten Erfahrungen nach dem Examen in einer renommierten Kleintierklinik: Siebzig-Stunden-Wochen für 850 Euro brutto im Monat, unbezahlte Nacht- und Wochenenddienste. Nach zwei Jahren wechselte sie an eine andere große Klinik. Der neue Chef bot ein etwas höheres Gehalt, hatte aber angeordnet, dass alle Nachtdienste von Frauen zu verrichten seien. Solche Ungleichbehandlungen seien keine Seltenheit, sagt Frau Uhde. Fast die Hälfte der angestellten Tierärztinnen, die an der Hannoveraner Studie teilnahmen, gab an, aufgrund ihres Geschlechtes schon einmal benachteiligt worden zu sein. "Es kommt zum Beispiel häufig vor, dass Schwangere gekündigt werden", sagt Uhde.

"Vet Lobby" bietet seinen Mitgliedern in solchen Fällen Beratung von Fachanwälten für Arbeitsrecht an. Wissenschaftler unterstützen den neuen Verband. "Es ist zu begrüßen, dass sich eine Interessenvertretung bildet, die eine einheitliche Haltung vertritt", sagt Arwid Daugschies, Dekan der Veterinärmedizinischen Fakultät in Leipzig und Vorsitzender des Veterinärmedizinischen Fakultätentags. "Mittlerweile schaden die prekären Gehälter und die widrigen Arbeitsbedingungen nämlich dem Ansehen des Berufes." Außerdem mache die hohe Schwundrate Sorgen: Zwanzig Prozent der Absolventen gingen gar nicht erst in den Beruf, sagt Daugschies. Tierärzte sind deshalb inzwischen knapp. Auf 14 Stellenangebote komme ein Gesuch, schrieb unlängst ein Branchenblatt. Dass die Gehälter dennoch nicht steigen, lässt sich nur schwer erklären. "Eine solche Situation kann entstehen, wenn es den Beschäftigten um die Tätigkeit selbst geht bis hin zur Selbstverleugnung", sagt Daugschies. "Auf der anderen Seite ist bei den Arbeitgebern die Haltung entstanden, nur das Mindeste zu zahlen, was sie zahlen müssen. Die Verantwortung und die Solidarität untereinander fehlen."

Zwei Generationen scheinen hier nicht zusammenzukommen. Auf der einen Seite stehen junge Frauen, die sich mit dem Tierarztberuf einen Kindheitstraum erfüllen wollten. Auf der anderen Seite stehen alte Männer, oftmals Söhne von Metzgern und Landwirten, die Tierarzt pragmatisch als Aufstiegsberuf gewählt haben. Bis Mitte der siebziger Jahre war gerade ein Viertel der Erstsemester in der Veterinärmedizin weiblich. Dann wurden die Frauen Jahr für Jahr mehr. Heute sind es fast neunzig Prozent. "Die Gründe für diese Entwicklung werden im Berufsstand oft diskutiert", sagt Daugschies.

Immer wieder werde vermutet, dass Frauen mit ihren besseren Abiturnoten bei der Studienplatzvergabe eben im Vorteil seien. "Ich habe eher den Eindruck, dass Männer sich erst gar nicht bewerben", sagt Daugschies. "Männliche Abiturienten sind viel einkommens- und karriereorientierter als Frauen. Sie wollen sich ein so anstrengendes Studium nicht antun, um hinterher weniger zu haben als ein Verkäufer im Supermarkt." Das bestätigt die Vergabestelle für Studienplätze, die ZVS: Auch unter den Bewerbern für das Fach Veterinärmedizin sind nur noch fünfzehn Prozent Männer.

Beate Högemann* begann 1980 mit dem Studium. Es war das Jahr, in dem sich erstmals genauso viele Frauen wie Männer für das Fach Veterinärmedizin einschrieben. Heute gehört ihr die Praxis, in der Sarah Nolte angestellt ist. Im vierten Jahr nach dem Examen erhielt Nolte von ihrer Chefin ein großzügiges Angebot: 2300 Euro brutto für eine halbe Stelle - für eine zweite volle ist die Praxis nicht groß genug. Für Beate Högemann war dieser Schritt ein kleiner Sieg über die Verhältnisse, unter denen sie früher selbst gelitten hatte. Den letzten Anstoß dazu gab die Geburt ihrer Tochter. Kennzeichnend für "die Verhältnisse" ist denn auch, dass nicht einmal dreißig Prozent der angestellt arbeitenden Tierärztinnen in Deutschland Kinder haben, wie die Hannoveraner Studie ergab.

Beate Högemanns Tochter ist mittlerweile siebzehn und wird im kommenden Jahr Abitur machen. Was, wenn sie Tierärztin werden will? Beate Högemann schaut überrascht. "Meine Tochter will Psychologie studieren", sagt sie. Es klingt erleichtert. Dann überlegt sie. "Wenn sie es von Herzen wollen würde, dann würde ich ihr nicht im Wege stehen", sagt sie schließlich. "Aber es ist kein Beruf, den ich einer Frau empfehlen würde."


*Name geändert