Dossier der Wochenzeitung DIE ZEIT, 19.03.2015

von Stephan LEBERT, Fritz ZIMMERMANN

Der ZEIT-Bericht "Die Lohnlüge"

Seit Januar gilt der Mindestlohn – aber nur auf dem Papier: Viele Bauarbeiter, Zimmermädchen und Putzkräfte werden weiter schlecht bezahlt, sogar Köche im Luxushotel. Manchmal müssen sich Angestellte auch auf den Betrug einlassen.

Es ist etwas Besonderes, im Adlon zu arbeiten, in Deutschlands prominentestem Hotel direkt am Brandenburger Tor in Berlin. "Adlon oblige" heißt der Leitspruch für das Personal: Adlon verpflichtet. In Schulungen wird den Mitarbeitern eine besondere Adlon-DNA vermittelt, in Morgenmeetings teilen Abteilungsleiter den Bediensteten mit, welche Stars sich im Hotel befinden. Und sie verkünden den Wert des Tages, zum Beispiel: "Wir sind am Menschen orientiert."

Thomas Nemeth* ist ein großer, starker Mann von Anfang 30. Bis vor einiger Zeit war er Koch im Adlon. Zum Frühstück trank er Energydrinks, tagsüber schluckte er Schmerztabletten: Ibuprofen 800. Drei, manchmal vier Stück am Tag.
"Wenn du 14 Stunden stehst, tun dir die Füße weh", sagt er. Um nachts schlafen zu können, nahm er das Beruhigungsmittel Tetrazepam. Dennoch schreckte er oft hoch, allein mit Fragen wie diesen: "Hast du an alles gedacht? Hast du das Fleisch aus dem Ofen geholt? Hast du die Nudeln geölt?"

Nemeth sagt: "Andere Kollegen nehmen härtere Sachen, um das durchzustehen, Koks, Speed, Amphetamine – alles, was aufputscht." Für seine Arbeit im Hotel bekam Nemeth als ausgebildeter Jungkoch, Commis de Cuisine, zwischen 1.600 und 1.800 Euro brutto im Monat. Mehr als ein Jahr lang war er im Adlon beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag liegt der ZEIT vor. Das Adlon selbst gibt an, die wöchentliche Arbeitszeit der Köche betrage 38 Stunden. Doch Nemeth arbeitete mindestens zehn Stunden am Tag, oft zwölf, manchmal noch länger. "Du gehst morgens hin und weißt nicht, wann du abends wieder rauskommst", sagt er. In einer durchschnittlichen Arbeitswoche mit fünf Tagen kam der junge Koch auf 50 bis 60 Stunden. Oft musste er zusätzlich am Wochenende arbeiten, dann lag er bei mindestens 70. Und in Monaten, in denen Großveranstaltungen wie die Grüne Woche oder die Internationale Tourismus-Börse stattfanden, arbeiteten Nemeth und seine Kollegen manchmal zwei Wochen am Stück und an diesen Tagen oft 14, 15 Stunden. Sie seien nur zum Duschen nach Hause gekommen. So sei es immer noch, sagen Adlon-Köche, zu denen Nemeth nach wie vor Kontakt hat. Sie schreiben sich Nachrichten, hin und wieder telefonieren sie. Er fragt, wie es im Adlon läuft.
"Alles beim Alten", antworten sie dann. Der Mindestlohn hat offenbar an ihrer Situation nichts geändert.

Am Menschen orientiert? Das Adlon teilt mit: "In unserem Haus werden die gesetzlichen Vorgaben zur Entlohnung von Mitarbeitern selbstverständlich eingehalten." Alle Mitarbeiter würden mindestens tariflich entlohnt. Nach dem Tarif bekommen Jungköche im Adlon heute 1.830 Euro für eine 38-Stunden-Woche, ihr Stundenlohn beträgt 11,11 Euro, das sind fast drei Euro mehr als der neue gesetzliche Mindestlohn , der seit dem 1. Januar gilt. In Wirklichkeit aber bleibt der Stundenlohn weit hinter dem Tarif- und dem Mindestlohn zurück. Legt man die tatsächliche Arbeitszeit von Thomas Nemeth zugrunde, kommt ein Jungkoch im Adlon in einer 60-Stunden-Woche auf etwa sieben Euro pro Stunde, in einer 70-Stunden-Woche auf etwa sechs Euro.

Seit 2011 werden die Arbeitszeiten im Adlon elektronisch erfasst. Am Monatsende zeichnet der Mitarbeiter die Stundenaufstellung persönlich ab. Das Adlon sagt: "Jeder Mitarbeiter hat jederzeit die Möglichkeit, die Einträge zu überprüfen." Fehler beim Übertragen der Stunden in das Programm würden selbstverständlich korrigiert. Ehemalige Adlon-Mitarbeiter erzählen hingegen, einige Überstunden seien nicht erfasst worden, und das Abzeichnen der Zettel sei für sie einer Verzichtserklärung gleichgekommen. Überstunden seien einfach verfallen. Das Adlon sagt: "Sämtliche Überstunden werden durch Freizeit ausgeglichen."

Einmal, zu Beginn seiner Zeit im Adlon, hatte Thomas Nemeth es gewagt. Er hatte alle seine Überstunden dokumentiert. Daraufhin bestellte ihn sein Chef in den Kühlraum, so erzählt es Nemeth. Ein gekacheltes Zimmer, rund 30 Quadratmeter groß und vier Grad Celsius kalt. Der Chef schloss die Tür und fing an zu brüllen: Was ihm einfalle? Es sei "normal", Überstunden zu machen. Und es sei eine "Frechheit", die Stunden aufzuschreiben, wenn er, Nemeth, morgens "freiwillig" früher komme. Nemeths ehemalige Kollegen schildern ähnliche Begegnungen. Immer wieder hätten Chefs die Köche angeherrscht, keine Überstunden aufzuschreiben. Das Hotel Adlon nimmt zu diesen Vorwürfen inhaltlich keine Stellung, sagt aber, man sei an weiteren Informationen interessiert, um den Vorwürfen nachzugehen.

Thomas Nemeth erzählt, wie er an einem Montagmorgen, nach einem durchgearbeiteten Wochenende, einen halben Liter Red Bull im Bauch, in die U-Bahn stieg, schon wieder auf dem Weg zur Arbeit. Es war kurz nach acht, mitten im Berliner Berufsverkehr. Plötzlich fing Nemeth an zu weinen. Einfach so. Der Koch vom Adlon, ein Klotz voneinem Mann. Er stieg aus und setzte sich auf eine Bank. Er versuchte zu verstehen, was los war. Insgeheim wusste er es schon: Er hatte Angst vor seiner Arbeit. Und er beschloss zu kündigen.

Seit Anfang dieses Jahres gilt in Deutschland der gesetzliche Mindeststundenlohn von 8,50 Euro . Es ist das wichtigste soziale Projekt der großen Koalition, vorangetrieben von der SPD. Arbeitsministerin Andrea Nahles bezeichnete die Einführung des Mindestlohns als Meilenstein. Sie sagte: "Durch den Mindestlohn erhalten 3,7 Millionen Menschen in Deutschland mehr Lohn, darauf kann man stolz sein." Das Projekt ist ein gesellschaftlicher Feldversuch: Die Politik will der Wirtschaft zeigen, dass sie die Macht hat im Land. Doch hat sie die? Und geht das überhaupt noch: Rechte von Arbeitnehmern stärken in einem Staat, der verflochten ist mit globalisierten Arbeitsmärkten? In einer Welt, in der sich immer jemand findet, der denselben Job gern günstiger erledigt? Und in der vor allem zwei Qualifikationen verlangt werden – nämlich hyperflexibel und billig zu sein?

8,50 € DER MINDESTLOHN

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Der seit dem 1. Januar geltende flächendeckende gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro ist ein Novum in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Durchgesetzt und in dieser Höhe festgelegt wurde er von der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD.

Gewerkschaften und Arbeitgeber einzelner Berufsgruppen hatten schon früher sogenannte tarifgebundene Mindestlöhne ausgehandelt, beispielsweise erhalten Schornsteinfeger pro Stunde mindestens 12,78 Euro, Dachdecker 11,85 Euro und Gerüstbauer 10,25 Euro. Der gesetzliche Mindestlohn markiert nun die absolute Untergrenze für sämtliche Branchen. Noch gibt es allerdings Ausnahmen: Für einige bislang besonders schlecht bezahlte Berufe hat die Bundesregierung Übergangsregelungen erlaubt, etwa bei Friseuren (Mindestlohn derzeit 7,50 Euro im Osten und acht im Westen) und bei Arbeitern in der Fleischindustrie (aktuell acht Euro). Von Januar 2017 an gilt der Mindestlohn dann wirklich überall. Im selben Jahr könnte die Lohngrenze erstmals angehoben werden. Entscheiden wird darüber eine Kommission, zusammengesetzt aus Vertretern der Tarifpartner.

1,00 €
Ein Rumäne verdingt sich in Deutschland. Acht Stunden lang repariert er Europaletten. Dafür werden ihm 8,50 Euro angeboten. Macht in Relation pro Stunde etwas mehr als 1,00 €.

4,50 €
Eine Frau arbeitet beim Discounter Netto – weit mehr als vertraglich vereinbart. Würde man die von ihr geleistete Arbeitszeit auf den regulären Lohn umrechnen, käme sie auf einen Stundensatz von kaum mehr als 4,50 €.

6,00 €
Ein Jungkoch im Hotel Adlon in Berlin kommt pro Woche auf bis zu 70 Arbeitsstunden. Da nicht all seine Überstunden bezahlt werden, beläuft sich sein wirklicher Stundenlohn auf etwa 6,00 €.

6,50 €
Ein Zimmermädchen soll neun Hotelsuiten in sechs Stunden putzen. Es braucht drei Stunden länger, ohne mehr Geld zu erhalten. Setzt man das ins Verhältnis, kommt man auf einen realen Stundenlohn von wenig mehr als 6,50 €.
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Es ist etwas Besonderes, im Hotel Adlon zu arbeiten – das dachte auch Natalia Kowarczyk* aus Berlin. Weil sie ihre kranken Eltern versorgen wollte, musste sie ihre Vollzeitstelle als Verkäuferin aufgeben. Sie brauchte einen Teilzeitjob. Da sah sie diese Anzeige in einer Tageszeitung: "Zimmermädchen, 9,55 €/Std., 75 Prozent Sonn- und Feiertagszuschlag, für ein 5-Sterne-Hotel". Das Unternehmen, das die Anzeige geschaltet hatte, heißt ASN Concepts; es hat seinen Sitz in Berlin-Wilmersdorf. Zum Vorstellungsgespräch wurde Kowarczyk in ein Büro im Untergeschoss eines Hinterhofgebäudes gebeten. Die ASN-Mitarbeiterin habe eine 30-Stunden-Woche in Aussicht gestellt, sagt Kowarczyk. Perfekt, habe sie gedacht, genug Zeit, um nach der Arbeit noch nach den Eltern zu sehen.

Viele Hotels haben inzwischen Arbeiten wie Reinigung und Zimmerservice an Subunternehmen wie ASN Concepts ausgelagert. So können sie, je nach Saison, mehr oder weniger Personal bestellen. Dadurch ist ein verschattetes System entstanden, schwer zu durchblicken. Laut dem Hotelverband arbeiten deutschlandweit etwa 500.000 Menschen in der Hotellerie. Mitarbeiter von Hoteldienstleistern, also Fremdfirmen, werden jedoch nicht erfasst.

Das Zimmermädchen Natalia Kowarczyk sagt, ihm seien im Adlon jeden Morgen bis zu neun Zimmer zugeteilt worden. Alles sogenannte Deluxe-Zimmer, mal "Superior Deluxe", mal die "Royal Suite", pro Nacht zwischen 200 und 20.000 Euro. Manche Suiten sind größer als ganze Einfamilienhäuser, bis zu 220 Quadratmeter. Kowarczyks Arbeitszeit laut Vertrag: 30 Stunden. Putzen sollte sie zwischen 8 und 14 Uhr.

Sie schaffte es nicht, nie. Egal, wie sie sich mühte, es dauerte immer länger, mal zwei, mal drei Stunden. Bald ließ Kowarczyk beim Putzen mit den ätzenden Reinigungsmitteln die Gummihandschuhe weg, weil das An- und Ausziehen zu viel Zeit kostete. Jetzt waren ihre Hände entzündet, sie brauchte trotzdem bis zu neun statt sechs Stunden für die vielen Suiten.

Wenn man ihre tatsächliche Mehrarbeit in ein Verhältnis zu ihrem Lohn setzt, verdiente Kowarczyk nicht 9,55 Euro, wie es in der Anzeige hieß, sondern etwa 6,50 Euro. Es habe nie jemand aufgezeichnet, wie viele Stunden sie tatsächlich gearbeitet habe, erzählt sie. Einige Kolleginnen seien direkt beim Hotel angestellt und hätten acht Stunden Zeit für ihr Zimmerkontingent gehabt. Den ASN-Kolleginnen blieben nur sechs Stunden. Nicht zu schaffen.

Der Subunternehmer ASN Concepts weist die Vorwürfe zurück. "Wenn unsere Mitarbeiter Überstunden leisten, so werden diese nach gesetzlichen bzw. tariflichen Rahmenbedingungen abgerechnet und vergütet", schreibt das Unternehmen in einer Stellungnahme. "In dem Hotel Adlon werden die Arbeitszeiten durch unsere Housekeeping-Supervisor festgehalten und an unser Büro weitergeleitet. Die Mitarbeiter haben die Möglichkeit, ihre Arbeitszeiten jederzeit zu überprüfen. Bei Unstimmigkeiten oder Eintragungsfehlern kümmert sich unser Personal umgehend um die Klärung und veranlasst selbstverständlich eine Korrektur." Das Adlon nimmt zu den konkreten Vorwürfen keine Stellung, schreibt nur sehr allgemein: "Im Hotel Adlon gelten – dem Selbstverständnis unseres Hauses entsprechend – hohe Standards, deren Einhaltung kontinuierlich überprüft wird. Dazu gehören natürlich auch faire Arbeitsbedingungen für alle Mitarbeiter, die im Adlon tätig sind. Dies schließt ausdrücklich auch Subunternehmen ein."

Natalia Kowarczyk hat sich nicht getraut aufzubegehren. Vor wenigen Wochen hat sie gekündigt. In Hamburg sind in den vergangenen Monaten einige Zimmermädchen vor Gericht gegangen, um einen Ausgleich für ihre vielen Überstunden zu erstreiten. Sie hatten die Hostels und Hotels der Billigkette A&O geputzt, angestellt waren sie bei dem Subunternehmen Difam mit Sitz in Borsdorf, einer Gemeinde im Landkreis Leipzig. Einige der Zimmermädchen wurden von der Anwaltskanzlei Fochler & Collegen vertreten. Ein schwieriger Auftrag, weil es für Arbeitnehmer nicht einfach ist, Überstunden zweifelsfrei zu dokumentieren. Die Hotelkette A&O hat inzwischen bekannt gegeben, die Verträge mit dem Leipziger Dienstleister gekündigt zu haben. Nicht jedoch wegen der Arbeitsbedingungen, sondern wegen "unzureichender Reinigungsqualität", teilte eine Sprecherin der Hotelkette mit. Für die Zimmermädchen wird sich vermutlich nichts ändern. Denn: Eine der Nachfolgefirmen ist dem Anwalt Marc Fochler leider "gut bekannt. Gegen die haben wir auch schon Verfahren geführt."

Der Mindestlohn wurde eingeführt, um mehr Gerechtigkeit in die Arbeitswelt zu bringen. Stattdessen scheint er zu immer mehr Ungerechtigkeit zu führen. Manche Kellnerinnen beschweren sich, ihnen werde plötzlich eine Kostenpauschale für Wasser und Kaffee vom Lohn abgezogen, für Getränke, die sie während ihrer Arbeitszeit zu sich nehmen. Einige Tierpfleger müssen ihre freien Tage an Feiertagen abbummeln. Bäcker bekommen keine Zulagen mehr. Allerdings klagen nicht nur diese um den Mindestlohn Betrogenen, es klagen auch nicht nur die Gewerkschaften, die die Interessen der Niedrigverdiener vertreten.

Einer der Wortführer des Widerstandes gegen den Mindestlohn ist der CDU-Abgeordnete Carsten Linnemann, der auch Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung ist. Ein freundlicher Mann, der in seinem Berliner Bundestagsbüro erklärt, es gehe nicht grundsätzlich gegen den Mindestlohn, man müsse allerdings "dieses Bürokratiemonster" bändigen, sonst werde die deutsche Wirtschaft beschädigt. Mit dem "Bürokratiemonster" meint Linnemann die neue Dokumentationspflicht: Wer einem Angestellten weniger als 2.958 Euro bezahlt, muss jetzt dessen Arbeitszeit notieren – und die Zahlen für Kontrollen des Zolls bereithalten. Viele Unternehmer hätten Alarm geschlagen, sagt Linnemann, sie könnten die Auflagen nicht bewältigen, die staatlichen Kontrollvorschriften gingen viel zu weit, das müsse man ernst nehmen. Linnemann weiß inzwischen die Kanzlerin Angela Merkel an seiner Seite, auch CSU-Chef Horst Seehofer fordert "schnellstmögliche" Korrekturen. Arbeitsministerin Nahles von der SPD hat eine sorgfältige Prüfung bis Ostern angekündigt.

Der Mindestlohn bringt nichts, sagen die einen. Er muss unbedingt abgeschwächt werden, sagen die anderen. Wie passt das zusammen?

Für manche wirkt das Projekt Mindestlohn wie aus der Zeit gefallen, für andere ist es dringend notwendig: Nach Jahren der Deregulierung erlässt der Staat wieder Regeln für den Arbeitsmarkt. Wer vor ein paar Jahren noch als "Ich-AG" glücklich werden musste, soll jetzt nicht mehr auf sich allein gestellt sein.

Am Bodensee, an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, befasst sich der Soziologe Dirk Baecker seit einigen Jahren neben der Kulturtheorie der Computergesellschaft vor allem mit der Soziologie der Arbeit. Anders als andere Wissenschaftler kann man ihn nicht so leicht einem politischen Lager zuordnen. Er soll helfen, zu verstehen, was "eine der größten Sozialreformen der Geschichte", wie die Sozialdemokraten die Einführung des Mindestlohns nennen, für die hochkapitalisierte Bundesrepublik des Jahres 2015 bedeutet. Baecker hält eine Art Vorlesung, bestehend aus drei Kapiteln: "Die Wette", "Die Angst" und "Die Kritik".

Erstes Kapitel: Die Wette. Baecker schmeckt einem Wort nach: "Lohn". So nennt man nur das Einkommen von abhängig Beschäftigten – von Menschen also, die eher wenige Möglichkeiten haben, darüber zu bestimmen, wie sie arbeiten wollen. An der Höhe des Mindestlohns – und der Debatte darum – lässt sich in Baeckers Augen vor allem ablesen, welche Arbeitsverhältnisse unsere Gesellschaft für zumutbar hält und welche nicht. "Es ist die Wette der Politik auf die Möglichkeit ihrer Einflussnahme", sagt Baecker. "Ob sie diese Wette gewinnt, müssen wir erst noch schauen."

Wirtschaft oder Politik: Wer ist mächtiger? Bleiben wir für einen Moment bei der Wette, bevor wir der Vorlesung des Soziologen später weiter folgen.

Man ahnt, auf wen Thomas Bauer bei diesem Kräftemessen setzen würde. Man nennt ihn bei den Gewerkschaften den "schärfsten Kämpfer gegen den Mindestlohn": Er ist Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie. Seine Firma hat Bauer im oberbayerischen Schrobenhausen. Bauer sagt, er sei ja schon für einen Mindestlohn – solange der nicht vom Staat diktiert, sondern zwischen Industrie und Gewerkschaften ausgehandelt werde. Das mache man im Bau seit Jahren, "um die enormen Lohnunterschiede zwischen Deutschland und Osteuropa abzufangen und damit auch die hiesigen Unternehmen eine Chance haben". Die Bauindustrie selbst habe sich immer bemüht, den tariflichen Mindestlohn ausreichend zu kontrollieren. Allerdings müsse man sehen, dass ein Bauunternehmen kein Haus verkaufe, sondern die Stunden, die es brauche, um ein Haus herzustellen. "Deswegen muss jeder versuchen, Löhne so günstig wie möglich zu zahlen."

Bauers Kritik richtet sich vor allem gegen die Kontrolle des neuen gesetzlichen Mindestlohns, die "massiv überzogen" werde. Er empfindet den Dokumentationszwang als Schikane. Denn im Bau, einer Branche, die unter das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz fällt und deshalb verschärft überwacht wird, müssen jetzt sogar die Arbeitszeiten aller Angestellten aufgezeichnet werden, unabhängig davon, was sie verdienen. Bei Verstößen gegen die Dokumentationspflicht wird ein Bußgeld von bis zu 30.000 Euro verhängt, bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz sind es bis zu 15.000 Euro. "Diese Regelung ist reingemogelt worden in das Gesetz", sagt Bauer. "Da hat vorher nie jemand drüber geredet! Das ist total unfair!"

Die Baubranche fürchtet das Licht, das durch die Diskussion über den Mindestlohn auf manche Beschäftigungsverhältnisse fällt. Das Licht, das jetzt auch das Leben des 39- jährigen Bauarbeiters Marius Ionescu aus Rumänien ausleuchtet. Sein Fall zeigt eine Gewissenlosigkeit, wie sie gerade in der Baubranche häufig zu finden ist – solange keine Kontrolleure kommen.

Das Mindestlohngesetz war sechs Tage in Kraft, als Ionescu gemeinsam mit seinem Sohn und vier Bekannten am 7. Januar um 13 Uhr auf einem schmalen Parkstreifen am Rande von Vechta, Niedersachsen, strandete. Das Gesetz, das auch für ausländische Arbeitnehmer wie ihn gilt, konnte Ionescu nicht vor dem schützen, was er dann erlebte.

Die sechs Arbeiter waren in einem Kleinbus aus Rumänien hergebracht worden. Auf dem Parkstreifen sollten sie von einem Mann abgeholt werden, der Ionescu und die anderen als Bauarbeiter nach Deutschland bestellt hatte. Aber der Mann kam nicht. Nach zwei Stunden des Wartens nahm der Busfahrer Ionescu und seinen Begleitern die Pässe ab und fuhr zurück nach Rumänien. Der Mann, der Ionescu abholen sollte, ist ein in Niedersachsen bekannter Subunternehmer, der Bau- und Fleischbetriebe mit rumänischen und bulgarischen Billigkräften versorgt. Wie viele andere Ausbeuter seiner Art hat er selbst einen Migrationshintergrund. Immer wieder soll der Subunternehmer Menschen zu unwürdigen Bedingungen beschäftigen. Kontrolliert der Zoll, wie zuletzt im November, macht der Subunternehmer wenig später eine neue Firma auf. Seit Jahren geht das so.

Marius Ionescu und seine Freunde standen frierend, ohne Pass, in Turnschuhen und Jogginghose auf dem Parkstreifen, hinter ihnen der Wald. Gegen Abend bauten sie aus ihren Gepäckstücken ein Iglu, das den Schnee abhalten sollte. In der Nacht brachen sie einen alten Bus auf, der auf dem Parkstreifen stand. Zwei der Rumänen kauerten sich für eine Stunde auf die Rückbank, die anderen gingen draußen auf und ab. Alle hatten Angst, einzunicken und im Schlaf zu erfrieren. "Euch darf nicht warm werden", sagte Ionescu, der Älteste. "Sobald euch warm wird, kommt der Tod. Kurz vor dem Erfrieren ist euch so heiß, dass ihr euch die Kleider vom Leib reißen wollt." So hatte er es in den rumänischen Wintern im Bergwerk gelernt.

Es dauerte bis zum nächsten Mittag, bis der Subunternehmer endlich auftauchte. Er brachte die Männer nach Vechta, in eine Unterkunft, die der Landkreis eigentlich geschlossen hatte, weil es dort keinen Strom und kein Wasser gab – und weil 14 Matratzen in einem Zimmer lagen. Am nächsten Tag sollte es mit der Arbeit losgehen. Ionescu, der Bergarbeiter, sollte Europaletten reparieren, der versprochene Lohn: 25 Cent pro Stück. Ionescu ist stark und schnell, er schaffte an diesem Tag 34 Paletten. Als es Abend war, rechnete er: 8,50 Euro hatte er verdient. Macht bei acht Stunden einen Stundenlohn von gut einem Euro.

Warum kommen Arbeiter wie Marius Ionescu überhaupt nach Deutschland, für so wenig Geld? "Wir verdienen hier immer noch etwas mehr als in Rumänien", sagt Ionescu. Er stammt aus den Karpaten, und das Bergwerk, in dem er gearbeitet hatte, ist längst geschlossen. So wie Ionescu reden viele Rumänen, die Jobs annehmen, deren Bezahlung allenfalls geringfügig über dem rumänischen Mindestlohn liegt, aber an den deutschen bei Weitem nicht heranreicht. Mal sind es 700, mal 1.000 Euro im Monat, die sie erhalten. Ionescu und seine Freunde lassen sich auf solche Deals ein. Für sie zählt, dass sie ein Haus in Rumänien bauen können.

Am Ende des Arbeitstages in Vechta begriff Marius Ionescu, dass sein Lohn dieses Mal sogar rumänische Verhältnisse unterbot. Unterbieten würde, muss man sagen. Denn Ionescu hat seinen Lohn nicht bekommen. Es sei nur ein Probetag gewesen, hieß es.

Offiziell gibt es unter den Bauarbeitern in Deutschland 100.000 über Werkverträge entsandte Arbeitnehmer aus dem Ausland. Der Gewerkschafter Dietmar Schäfers von der IG Bau schätzt, dass mindestens noch einmal so viele inoffiziell hier sind. Er redet von Schlepperbanden, von Organisierter Kriminalität.

Insgesamt soll der Zoll innerhalb der nächsten Jahre 1.600 neue Fahnder einsetzen, die die Einhaltung des Mindestlohns überwachen und Schwarzarbeit aufdecken sollen. Schwarzarbeit nutzen Arbeitgeber oft als Methode, um sich vor arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu drücken – jetzt auch vor dem Mindestlohn. Zwei Ermittler, schon länger im Geschäft, sind die Kölner Zollbeamten Matthias Schulz und Udo Habbig. "Seit der tarifliche Mindestlohn 1996 im Baugewerbe besteht, wird versucht, ihn zu umgehen", sagt Schulz. "Es gibt legale Lücken, die ausgenützt werden, aber dafür sind wir nicht zuständig." Schulz und Habbig sind den Betrügern auf der Spur.

Viel an ihrer Arbeit, sagen die Beamten, beruhe auf Erfahrungswissen: So könne es nicht sein, dass eine Person eine ganze Etage in zwei Stunden putze. In komplexeren Fällen müssen die Ermittler allerdings externe Gutachter fragen: Wie viele Meter Rigipsplatten werden pro Stunde im Innenausbau verschraubt? Wie viele Leute braucht man dazu?

Sittenwidrig niedrige Löhne, Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung gibt es in allen Branchen: Die Beamten Schulz und Habbig haben Ärzte ausfindig gemacht, die ihre Sprechstundenhilfen nicht anmelden. Sie haben Behörden entlarvt, die ganze Reinigungskolonnen schwarz beschäftigen. Neulich gab es einen großen Fall: ein Reinigungsdienst, der gleich von mehreren Schulen eingesetzt wurde. Die Buchführung wirkte korrekt, wie so oft. Die Befragten sagten auch alle, sie erhielten den Mindestlohn. Aber dann traten die Details zutage: zum Beispiel eine Grundreinigung der Schulen in den Ferien. Ohne Bezahlung.

Weniger geschickt, eher dreist war der Chef, der behauptete, ein nicht gemeldeter Mitarbeiter sei ihm unbekannt. Wie es dann sein könne, dass der Mann die Uniform der Firma trage und am Fließband stehe? Die Antwort, die die Ermittler zu hören bekamen: "Hier waren gestern drei Polen zum Schrottsammeln da, die müssen ihn vergessen haben."

Schulz sagt: "An das Gute im Menschen glauben wir längst nicht mehr." Trotzdem kämpft er weiter.

Auf der anderen Seite der Lohn-Front arbeitet der Rechtsanwalt Uwe Schlegel. Er sitztnicht hinter einem holzgetäfelten Schreibtisch und empfängt Mandanten wie die Anwälte in Filmen. Schlegel erledigt seine Arbeit am Telefon, seine Mandanten bekommt er oft nicht zu Gesicht. Er beantwortet Fragen an einer Hotline, über die er Arbeitgeber in Mindestlohnfragen berät: Taxifirmen, Tankstellen, Hotels, Restaurants, Pflegedienste. Manchmal ergibt sich aus einem Gespräch ein Mandat für einen Prozess.

Um das Thema Mindestlohn für sich zu reklamieren, hat Schlegel im Januar mit einigen Kollegen einen Aufsatz im Internet veröffentlicht: Strategien zur Umgehung des Mindestlohngesetzes . Darin steht all das, was auch den Zoll umtreibt: die Auslagerung in die Selbstständigkeit und freie Mitarbeit, die Beschäftigung von Praktikanten, das Verringern der Arbeitszeit, das Zahlen von Stücklohn.

"Wir helfen natürlich niemandem dabei, das Gesetz zu brechen", beeilt Schlegel sich im Gespräch zu versichern. "Bei uns gibt's keine Ratschläge zum Thema Schwarzgeld." Allerdings lässt er keinen Zweifel daran, dass seine Loyalität, wie es sich für einen guten Anwalt gehört, bei seinen Mandanten ist, den Arbeitgebern. Manche dieser Unternehmer hätten ja selbst kaum was, sagt Schlegel. Er sehe in den Prozessen doch die Zahlen. Einige müssten sogar aufgeben, wenn sie tatsächlich den Mindestlohn zahlen würden, "das berührt mich wirklich".

Man muss keinen Unternehmer zu Straftaten auffordern, um ihm zu zeigen, wie er weniger als den Mindestlohn zahlt. Es gibt durchaus legale Möglichkeiten. Und halblegale.

Da ist zum Beispiel die Rufbereitschaft, bei der der Angestellte sich nicht am Arbeitsplatz aufhalten muss – er muss nur innerhalb einer überschaubaren Zeit dort sein können. So wie bei einem Taxifahrer, der zu Hause vor dem Fernseher sitzt und angerufen werden kann. Bei einer Rufbereitschaft wird kein Mindestlohn fällig. Es ist sogar legal, diesem Taxifahrer für die Zeit der Rufbereitschaft überhaupt nichts zu bezahlen.

Viele Logistik- und Speditionsunternehmen argumentieren seit der Einführung des Mindestlohns, ihre Fahrer befänden sich lediglich in Rufbereitschaft, selbst wenn sie bei einer Vollsperrung auf der Autobahn feststecken oder an der Be- und Entladestation stehen und 15 Minuten Zwangspause einlegen müssen, weil ein anderer Lastwagen vor ihnen entladen wird. Ist das korrekt? "In aller Regel nicht", sagt der Anwalt Schlegel. Er weist seine Klienten darauf hin, dass sie einen Graubereich betreten – aber er leuchtet ihn auch für sie aus. "Ich bin sehr für die Autonomie des Kunden. Ich muss ihn halt darauf aufmerksam machen, was er tut und welche wirtschaftlichen Risiken damit verbunden sind", sagt Schlegel.

Friedrichshafen. Der Soziologe Dirk Baecker trägt Kapitel zwei seiner Vorlesung vor. Es geht um die Frage, warum die um ihren Lohn gebrachten Arbeitnehmer sich das alles gefallen lassen. Es geht um die Angst.

"Der Mindestlohn hat zunächst zur Folge, dass er umgangen wird", sagt Baecker. "Deswegen bringt er die einzelnen Arbeitnehmer sogar in eine schwächere Situation als vorher. Sie sind gezwungen, sich auf Verhältnisse außerhalb der Legalität einzulassen. Sie begehren nicht auf, weil sie nicht glauben, dass ihnen jemand zuhören würde."

Dazu passt, was die Zollfahnder Schulz und Habbig berichten: Regelmäßig bekämen sie Ausreden nicht nur von Arbeitgebern, sondern auch von Arbeitnehmern zu hören. Sätze wie diesen: "Wir haben nicht zu lange gearbeitet, wir haben vier Stunden Mittagspause gemacht." Oder: "Ich arbeite nicht, ich helfe nur." Manchmal auch: "Der Ladenbesitzer ist gerade einkaufen gegangen. Ich stehe nur hier, bis er zurückkommt."

Die Arbeitnehmer, sagt der Soziologe Baecker, seien untereinander nicht so solidarisch und so organisiert, wie sich die Gewerkschaften das wünschen. Sie stellen eine Rechnung auf: Sie wissen, auf welche Situation sie sich einlassen – die mag unangenehm sein, aber für viele immer noch profitabel. Baecker sagt: "Es gibt ein ökonomisches Kalkül auf beiden Seiten. Beide sagen: Wir lassen uns freiwillig aufeinander ein, weil wir beide denken, dass wir davon profitieren." Bis zu dem Punkt, an dem es unerträglich wird.

Navid Hafis* putzte Neu- und -Gebrauchtwagen der Marke Audi. Er arbeitete für die arwe Service GmbH, eine Dienstleistungsfirma in der Automobilbranche. Zu deren Kunden gehören die Autovermietungen Sixt und Europcar, der Carsharing-Anbieter DriveNow sowie die Automobilfirmen BMW, Daimler, VW, Porsche und eben Audi. Nach eigenen Angaben lag der Jahresumsatz der arwe Service GmbH im Jahr 2011 bei 60 Millionen Euro. Im Audi Zentrum in Berlin-Charlottenburg hat Navid Hafis erlebt, wie das Unternehmen dieses Geld erwirtschaftet.

Hafis arbeitete jeden Tag acht Stunden im Schichtbetrieb. Mal fing er um sechs an, mal um acht, mal um halb zwei. 40 Stunden in der Woche. So war es im Vertrag festgelegt, der der ZEIT vorliegt – ein fester Stundenlohn findet sich darin nicht. Denn Hafis wurde pro Auto bezahlt, das er reinigte. Wenn viel los war, arbeitete Hafis neun Stunden durch, ohne Pause. Häufig putzte er sechs Tage am Stück. "Wenn kein Auto kam, habe ich nichts verdient", sagt er. Hafis' Lohn für die verschiedenen Arbeiten geht aus einer Liste hervor, die der ZEIT auch vorliegt.

Da ist zum Beispiel die sogenannte "Service-/Kulanzreinigung". Dafür brauchte Hafis 20 bis 30 Minuten. Er sagt, er sei einer der schnelleren arwe-Mitarbeiter gewesen. Und schnell musste er sein, denn für eine solche Reinigung zahlte arwe den Mitarbeitern 3,25 Euro brutto. An guten Tagen, an denen viele Autos zu putzen waren, kam Hafis so auf 100 Euro brutto. An schlechten Tagen erhielt er weniger als die Hälfte. "Es gab Tage, da habe ich 40 Euro verdient", erzählt er. Am schlechtesten lief es, wenn viele Autos zur sogenannten Gebrauchtwagen-Aufbereitung gebracht wurden: Dann muss das gesamte Auto von innen und von außen geputzt werden. In der Regel brauche ein Mitarbeiter dafür vier bis fünf
Stunden, sagt Hafis. Wenn man Pech habe und der Wagen sehr dreckig sei, dauere die Reinigung einen ganzen Tag. Dafür bekommt man von arwe 31 Euro brutto. Arwe gibt an, die Reinigung dauere "etwa 3,5 Stunden".

Hafis’ Vertrag wäre bis zum Herbst 2015 gelaufen, aber im Dezember hat er gekündigt. Er habe sich über die schlechten Löhne beschwert. Bei arwe habe niemand in Aussicht gestellt, dass sie nach der Einführung des Mindestlohns erhöht würden. Seine ehemaligen Kollegen, die er noch häufig sieht, sagen ihm auch, seit dem 1. Januar habe sich nichts geändert. Sie würden weiterhin nach Stücklohn bezahlt und bekämen nur dann einen Stundenlohn von 8,50 Euro, wenn sie krank oder im Urlaub seien.

Arwe weist die Schilderungen zurück und spricht von "vollkommen falschen Informationen". Nur weniger als zehn Prozent der Mitarbeiter erhielten Stücklohn. Die Liste, nach der Hafis noch im Dezember bezahlt wurde, sei nach Einführung des Mindestlohns angepasst worden. Kein Mitarbeiter verdiene weniger als 8,50 Euro, teilt der Geschäftsführer mit. Arbeitsstunden würden detailliert erfasst, die Aufzeichnungen würden archiviert. "Sie wurden unmittelbar nach ihrer Einführung vom Zoll kontrolliert und nicht beanstandet."

Bei einigen Betrieben hat sich seit der Einführung des Mindestlohns nichts geändert – bei anderen wären die Mitarbeiter froh, wenn es nur so wäre. Martina Prinz* ist seit knapp sieben Jahren geringfügig Beschäftige in einer Netto-Filiale in Sachsen. Sie sitzt an der Kasse des Supermarkts, räumt Regale ein, erledigt, was anfällt. Seit dem 1. Januar bekommt sie zwar einen Euro mehr pro Stunde, allerdings sind ihr von zuvor 52 Arbeitsstunden pro Monat vier gestrichen worden. Prinz hat jetzt am Ende des Monats 408 Euro auf ihrem Konto, etwa genauso viel wie vor der Einführung des Mindestlohns. Dazu, sagte sie, mache sie pro Woche bis zu zehn Überstunden, unbezahlt – bis zur Hälfte ihrer Zeit arbeite sie umsonst. Ihre Überstunden habe sie ihrem Arbeitgeber noch nie gemeldet. Das sei sinnlos, sie würden ohnehin nicht vergütet, glaubt Prinz. Würde man die von ihr geleistete Arbeitszeit auf den regulären Lohn umrechnen, käme sie auf einen Stundensatz von kaum mehr als 4,50 Euro.

Martina Prinz ist noch nie in den Urlaub gefahren, die Miete für ihre Einzimmerwohnung übernimmt der Staat. Sie arbeitet im Schichtsystem, ob früh oder spät, weiß sie immer erst kurz vorher. Einen Zweitjob kann sie sich so nicht suchen.

Netto gibt zwar zu, dass die Stundenzahl der geringfügig Beschäftigten nach Einführung des Mindestlohns "angepasst" worden sei, versichert aber: "Die Einhaltung der gesetzlichen und tariflichen Vorgaben ist für uns eine Selbstverständlichkeit." Alle "abgesprochenen und genehmigten Überstunden" müssten vergütet beziehungsweise ausgeglichen werden. Das gehöre zu den zentralen Unternehmensvorgaben. "Den Vorwurf von unbezahlten Mehrstunden weisen wir ausdrücklich zurück."

Stefanie Künzell* ist Taxifahrerin, genauer: ehemalige Taxifahrerin. Seit der Einführung des Mindestlohns ist sie arbeitslos. Ihr Chef hat ihr erklärt, dass er 8,50 Euro pro Stunde nicht zahlen kann. Künzell bekommt jetzt 560 Euro netto Arbeitslosengeld im Monat und macht einen Kurs für selbstständige Taxiunternehmer. Man könnte auch sagen: Es ist ein Kurs, der sie darauf vorbereitet, Ausbeutung durch Selbstausbeutung zu ersetzen. Künzell hat eine Excel-Tabelle angelegt, mit der sie ihre Existenzgründung kalkuliert. In das Feld "Unternehmerlohn" hat sie 1.300 Euro pro Monat eingetragen. Den Stundenlohn, sagt sie, rechne sie sich gar nicht aus. "Das ist einfach zu frustrierend."

Janine Zimmermann* ist Zeitungsausträgerin in Berlin. Bisher hat sie einen Stücklohn erhalten. So kam sie umgerechnet auf einen Stundenlohn von 8,10 Euro. Für Zeitungsausträger gilt der Mindestlohn erst von 2017 an, aber Janine Zimmermanns Arbeitgeber zahlt "in Vorbereitung auf den Mindestlohn" schon jetzt nicht mehr pro ausgetragene Zeitung, sondern pro Stunde: allerdings nur 6,38 Euro. Für Zeitungsausträger gilt während einer Übergangszeit ein reduzierter Mindestlohn: Dieses Jahr haben sie Anspruch auf 75 Prozent, nächstes Jahr auf 85 und von 2017 an auf die vollen 8,50 Euro. Janine Zimmermann aber verdient jetzt im Monat etwa 130 Euro weniger als zuvor. Auch die ZEIT wird dort, wo sie nicht von der Post zugestellt wird, von Austrägern zu den Abonnenten gebracht. Weil die Zeitung in ganz Deutschland erscheint, hat ein Dienstleister etwa 120 Zustellbetriebe mit der Auslieferung beauftragt. Von denen bezahlen einige nach eigenen Angaben bereits 8,50 Euro pro Stunde, andere noch den Übergangslohn.

Der Soziologe Baecker formuliert seine Kritik am Mindestlohn, Kapitel drei der Vorlesung. Damit das Projekt erfolgreich werde, sagt Baecker, müsse es von anderen Maßnahmen begleitet werden, die die Gewerkschaften nicht gerne sehen: der Verbesserung von Kündigungsmöglichkeiten und generell einer Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Baecker verweist darauf, dass in Ländern mit hohen Mindestlöhnen der Kündigungsschutz oft weniger streng ist – und dass dies arbeitnehmerfreundlicher sei, als es auf den ersten Blick wirke. "Auf flexiblen Märkten hat auch der Arbeitnehmer zumindest ein gewisses
Drohpotenzial", sagt Baecker. Wer woanders einen Job finde, der habe immerhin die Macht, gehen zu können.

Hört man Baecker reden, kommt einem der Mindestlohn vor wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das als politische Wunschvorstellung in die Wirklichkeit des Arbeitsmarktes ragt. Im Wirtschaftssystem der achtziger Jahre mit seinen abgeschlossenen Märkten hätte der Mindestlohn vielleicht problemlos funktioniert. Zu der Zeit gab es noch "vernünftige Verhältnisse", sagt Baecker. Heute gibt es Menschen wie Marius Ionescu auf dem Arbeitsmarkt, die in ihrer Heimat nichts verdienen und in Deutschland dankbar sind für Gehälter, die weit unter dem Mindestlohn liegen. Heute gibt es eine Industrie, die sich immer dahin bewegt, wo die Löhne am niedrigsten sind. Die Verhältnisse sind längst nicht mehr vernünftig.

"Wir müssen uns ökonomisch realphabetisieren. Wir müssen neu lernen, wie die Wirtschaft überhaupt funktioniert", sagt Baecker. Der Mindestlohn passe nicht zu diesem Alphabet. Er ist in einer Schrift geschrieben, die heute schwer zu verstehen ist.

Was braucht der Arbeitsmarkt? Mehr Kapitalismus? Oder doch mehr Sozialismus? Die Einführung des Mindestlohns ist ein sehr wichtiges Projekt. Wenn es gelingt, könnten sich die Arbeitsbedingungen der prekär Beschäftigten wirklich verbessern, also von 3,7 Millionen Menschen in Deutschland. Doch das Projekt droht zu scheitern – an der dramatischen Wirklichkeit der Arbeitswelt.

In einem Restaurant sitzt eine prominente Figur aus der Gastronomie. Ein Insider, seit Jahrzehnten. Ein regelmäßiger Talkshowgast. Es wird ein offenes Gespräch mit der ZEIT, das eine Wirklichkeit hinter der oft glänzenden Fassade der Gastronomie offenbart, die den meisten gänzlich unbekannt sein dürfte. Doch anscheinend war das Gespräch zu offen. Kurz vor Drucklegung wird der Name zurückgezogen, aus Furcht vor Folgen: vor polizeilichen Ermittlungen zum Beispiel, vor Anfeindungen von Kollegen und Konkurrenten. Der Insider sagt: "Ich bin doch kein Rentner, der morgen nach Afrika auswandert."

In der Gastronomie, sagt der Insider, verdiene man keinen Cent, nicht mal in der Sterneküche. Deshalb wird betrogen – nicht um Reichtümer anzuhäufen, sondern weil selbst ein Spitzengastronom kaum überlebt, wenn er sich an alle Regeln hält. Geld? Verdiene man mit Getränken, sagt der Insider – und wenn man minderwertige Lebensmittel verwende oder das Essen nicht selbst zubereite.

Natürlich könne man nicht verallgemeinern, aber häufig sei es so: "Du hast drei Möglichkeiten. Erstens: Du bescheißt den Staat. Zweitens: Du bescheißt den Gast. Drittens: Du bescheißt deine Mitarbeiter."

Köche kämen oft drei bis fünf Stunden bevor das Restaurant öffne, um Saucen vorzubereiten, Schmorbraten zu machen, Schinken zu räuchern, neue Rezepte auszuprobieren. "Diese Stunden, die eigentlich Überstunden sind, machen einem wirklichen Koch am meisten Spaß, und er hat am meisten davon. Ein Koch, der nur acht Stunden arbeitet, ist ersetzbar und austauschbar."

Unter den Köchen gebe es in den Küchen noch niedere Kasten, diese wirklich Armen der Branche sehe niemand. Es seien viele Afrikaner dabei, Polen, Rumänen. "Sie putzen und spülen. Sie arbeiten, wenn das Restaurant zu ist, von drei Uhr nachts bis acht Uhr morgens. Da kontrolliert keiner. Es gibt eine Parallelwelt in den deutschen Küchen."

So weit ist es gekommen mit der prekären deutschen Arbeitswelt. Keiner kann offen die Wahrheit sagen: Arbeitnehmer nicht, weil sie fürchten, sonst ihren Job zu verlieren.

Arbeitgeber nicht, weil sie Angst haben, dass sonst bald Ermittler vor der Tür stehen. Es ist eine Arbeitswelt, die degeneriert ist, vor allem an ihrem unteren Ende, wo Menschen Berufe haben, für die keine lange Ausbildung nötig ist, in denen man oft nicht einmal gute Sprachkenntnisse braucht. Genau in diesen Berufen kämpfen zu viele Menschen um zu
wenige Jobs.

So lange das so ist, bleibt der Mindestlohn in vielen Bereichen zu schön, um wahr zu sein. Ein Märchen.


* Die Namen und einige Lebensumstände der mit einem Stern gekennzeichneten Personen wurden zu ihrem Schutz verändert.