Süddeutschen Zeitung 2014/2015, 12.02.2014

von Bastian OBERMAYER, Uwe RITZER

Gott ist gelb

„Von Null auf Hundert“ heißt ein Krimi des ehemaligen ADAC-Präsidenten Peter Meyer. Ein Roman von herrlichster Hybris. 
Die Realität: Auto, Motor, Spott. Neue Details aus dem Vereinsleben belegen aberwitzige Zahlenspielereien und Schöpfungsphantasien 

München – Was geht wohl in einem Menschen vor, der einen Krimi schreibt und der Hauptfigur den eigenen Namen gibt? „Von Null auf Hundert – Peter Meyer sieht gelb“ heißt das Werk, und geschrieben hat es, genau: ADAC-Präsident Peter Meyer. 
  Der echte Meyer und der Meyer im Buch haben so viele Gemeinsamkeiten, dass man glatt auf die Idee kommen könnte, der echte Meyer habe sich einfach selbst als Romanfigur inszeniert: Beide fahren Jaguar, beide sind Jäger, beide sind Präsident des großen Automobilclubs mit den gelben Engeln, und sogar die Ehefrauen der beiden tragen denselben Namen. 
  Und das ist der Einstieg: „Er warf einen raschen Blick auf den Drehzahlmesser. Schlappe dreitausend Touren machte seine Jaguar-Limousine. Die Uhr zeigte kurz nach vier. Peter Meyer verließ die A45 bei Haiger/Burbach.“ Gut 200 Seiten später hat der Buch-Meyer ein paar Morde aufgeklärt, hat im Schlosshotel Lerbach einen Kochkurs absolviert und in der Münchner ADAC-Zentrale eine Präsidiumssitzung geleitet, bei der – logisch – alle Aufgaben, „von der nebensächlichsten bis zur politisch brisantesten, gleichgenommen ernst genommen wurden“. 
  Zwischendurch wird „Peter Meyer“ im Krimi Peter Meyers angeschmachtet, und zwar von der Pannenhelferin Britta Liebeneiner, eine kleine Erotikphantasie des Autors. „Britta“ also wird vom Präsidenten angerufen, der, wie es im Buch heißt, eine „angenehm sachliche Männerstimme“ hat. Er lobt sie sehr, weil sie in einem komplizierten Fall zur Stelle war. Ihre Hand zittert: „Und Sie, Herr Präsident, sind der erste Mann, der mich unheimlich nervös gemacht hat.“ 
  Nicht nur Frau Liebeneiner, auch der Autor Meyer findet den Präsidenten Meyer offenbar ganz gut. 
  „Von Null auf Hundert“ ist nur einer von drei Peter-Meyer-Krimis, die Meyer mit Co-Autor Klaus Dewes vor rund zehn Jahren im Gronenberg-Verlag veröffentlicht hat. Damals war Meyer schon ADAC-Präsident. Es ist verstörend zu lesen, wie Meyer über sich selbst schreibt – in einem Tonfall, so voller ehrlicher Anerkennung, so ehrfürchtig, dass man es kaum glauben möchte. 
  Aber dieses eigentümliche Gefühl beim Lesen, der seltsame Geruch, den diese Seiten verströmen – das ist der Geruch des ADAC. Das ist die alte Bundesrepublik, in der die „Familienmitglieder gespannt lauschen“, wenn der Buch-Meyer von seinen Abenteuern erzählt. So war das. 
  Natürlich, da gibt es auch den anderen ADAC, den Konzern, der in einem modernen Monument aus Stahl und Glas im Münchner Westend logiert, 92 Meter hoch, mehr als 300 Millionen Euro teuer. Dort werden jedes Jahr Milliarden umgesetzt, mit KFZ-Versicherungen und Autokrediten, mit Handytarifen und Damenblusen. Aber wenn in der Zentrale Präsident Peter Meyer, 65, oder ein anderer ehrenamtlicher Präsident aus den 18 Regionalclubs, die tatsächlich immer noch „Gaue“ heißen, zu Besuch kommt, dann springt das Personal wie in alten Zeiten und hält beflissen die Türen auf. Früher wurden die Schlachten in lederbeschlagenen Herrenzimmern geschlagen, jetzt in funktionalen Büros. Viel mehr hat sich bislang nicht verändert in den Strukturen, noch immer wird das Milliardenunternehmen wie ein zu groß geratener Kegelverein geführt. 
  In der Satzung des 111 Jahre alten Vereins werden die „Organe des Clubs“ unter Punkt zehn aufgeführt: „Die Hauptversammlung, der Verwaltungsrat, das Präsidium“. Nur ein paar Dutzend Leute dürfen wirklich mitreden in Deutschlands größtem Verein, die Entscheidungen treffen eine Handvoll ehrenamtlicher Funktionäre, und manchmal reichte auch nur einer: der Präsident. 
  Jetzt bricht alles zusammen. Der ADAC implodiert, und die Funktionäre ziehen übereinander her, sowohl öffentlich wie auch halböffentlich, in Hintergrundgesprächen mit Journalisten. Hintergrund bedeutet: Alles darf verwendet werden, aber nicht unter Nennung der Quelle. 
  Nun ja, es gibt viele Quellen gerade in den oberen Etagen des ADAC. 
  Gleichzeitig touren Präsidiumsmitglieder durch die Münchner Zentrale, wechseln hier und da ein paar Worte, zeigen sich verständig und gesprächsbereit. Immerhin: Es gilt bald einen neuen Präsidenten zu wählen. Hauptamtliche Mitarbeiter sind bestürzt darüber, wie Peter Meyer den Verein verlassen hat: dass er im Abschied über die Gremien ätzt, die ihm ausgerechnet jetzt, in der Krise, die Gefolgschaft verweigert hätten, und auf die Hauptamtlichen schimpft, die all die Fehler begangen hätten. „Wir kriegen nicht einmal mehr einen Rücktritt hin“, sagt einer, „das Bild, das wir abgeben, ist verheerend.“ 
  Am Dienstagmittag versammelten sich die Geschäftsführer der 18 ADAC-Regionalclubs im Konferenzraum im 21. Stock der ADAC-Zentrale. Darüber sind nur noch die Räume des Präsidiums. Die Besprechung, an der auch die Geschäftsführung teilnimmt, war schon vor einiger Zeit angesetzt worden, um – nach den Ehrenamtlichen in Köln vorigen Freitag – nun auch die Hauptamtlichen auf die geplanten Reformen einzuschwören. Die Agenda des Treffens dürfte sich durch Meyers Rücktritt verändert haben, die Stimmung sei gespannt, berichtet einer vor der Sitzung. Peter Meyer hatte ja auch am Ende noch Freunde und Verbündete im ADAC. 
  Einig sind sich alle aber nur in einem: Das Krisenmanagement war ein Desaster. 
  Und es ist ja noch nicht ausgestanden. Politiker fordern nun auch das gesamte Präsidium zum Rücktritt auf. Selbst ernannte und tatsächliche ADAC-Experten empfehlen auch Geschäftsführer Karl Obermair, Meyers Beispiel zu folgen. Zur Erinnerung: Obermair war derjenige, der bei der Verleihung des Autopreises „Gelber Engel“ davon sprach, die Berichterstattung sei ein „Skandal für den Journalismus“, und die Fakten seien „kompletter Unsinn“. 
  Wer den am Montag veröffentlichten Bericht der Analysten der Wirtschaftsprüfungsfirma Deloitte durchblättert, findet dort exakt jene Zahlen bestätigt, die in der Süddeutschen Zeitung am 14. Januar genannt worden waren. Aber der Bericht liefert noch viel mehr, er ist beinahe eine Anatomie des Fälschungsvorgangs. 
  Ende Januar, eine gute Woche nachdem Medienchef Michael Ramstetter, der mutmaßliche Manipulierer, geschasst worden war, sicherten Computertechniker von Deloitte zwei Laptops, ein iPad und ein iPhone von Ramstetter. Sie stellten 69 000 Dateien wieder her und durchkämmten mit einem speziellen Suchwerkzeug mehr als acht Gigabyte Daten nach Schlüsselbegriffen, also etwa nach Wörtern wie „Gelber Engel“, „Rang“ oder „Wahl“. Außerdem wurden alle Mails gesichtet, die Ramstetter von Oktober 2013 bis Januar 2014 geschrieben hatte. Es blieben 126 Dokumente, die als relevant eingestuft wurden. 
  Am Ende steht eine detaillierte Rekonstruktion der Ereignisse: Michael Ramstetter habe am Vormittag des 28. November 2013 – da lagen ihm die Auszählungen der Onlineabstimmung und der eingeschickten Wahlcoupons bereits vor – auf seinem Computer verschiedene „Szenarien“ entstehen lassen. 
  Sprich: Er erfand freihändig Zahlen, wie ein kleiner Gott, der Gott des ADAC. 
  In einem dieser „Szenarien“, gespeichert um 8.57 Uhr, kam der spätere Sieger, der VW Golf, sogar auf 49 179 Stimmen – statt der tatsächlich vom ADAC ermittelten und an Ramstetter gemeldeten 4309 Stimmen. Am Ende entschied sich Ramstetter dafür, dem Golf 34 299 Stimmen zu genehmigen, setzte den in seiner Tabelle siebtplatzierten 5er-BMW noch auf den fünften Platz und speicherte das Dokument um 14.36 Uhr ab. Diesen „Endstand“ mailte er noch an jenem 28. November um 14.52 Uhr an seine Untergebenen. 
  Das war der Anfang der Affäre, die nicht nur Ramstetter, sondern auch den ADAC-Präsidenten aus dem Amt fegen sollte. 
  Man darf annehmen, dass die Untersuchung der „Gelber Engel“-Jahrgänge 2005 bis 2013 ähnliches zutage fördern wird, das deuteten die Deloitte-Leute am Montag schon an, und das hört man seit Wochen von internen wie externen ADAC-Kennern. Im Handelsblatt wurde schon gespottet, nur die Namen der Autofirmen seien nicht gefälscht gewesen.    
  Die Schlüsselfigur der größten Krise in der Geschichte des ADAC, so verlautbart es der Verein selbst, trat in den vergangenen Tagen mehr und mehr in den Hintergrund. Michael Ramstetter reagiert weder auf Anrufe noch auf Kurzmitteilungen, aber man darf gespannt sein, ob sich das ändert. Denn jetzt, wo sich der ADAC der lückenlosen Aufklärung verschrieben hat, wo externe Wirtschaftsprüfer Daten beschlagnahmt haben, wo externe Juristen das gesamte Konstrukt ADAC begutachten sollen, wo externe PR-Leute die Krisenkommunikation anleiten – jetzt werden auch strafrechtliche Schritte gegen Ramstetter geprüft. Zudem soll dem Ex-Medienchef, der noch immer ADAC-Angestellter ist, nun fristlos gekündigt werden. 
  Aber es ist nicht ganz ungefährlich für den ADAC, diese Verträge aufzulösen. Denn dann ist wohl auch das vertraglich vereinbarte Stillschweigen hinfällig, von dem Ramstetter der SZ berichtet hat. Und wer weiß schon, was Michael Ramstetter weiß? Wer weiß, wen er mit in den Strudel reißen kann? Es kann ihm nicht gefallen, dass er wochenlang als Alleinschuldiger für die Missstände im ADAC geführt wurde. Und Ramstetter war gefürchtet: Er konnte belohnen und bestrafen, heißt es, immerhin war er der Mann, der den Ehrenamtlichen die gute Presse besorgte. Ob er jetzt für schlechte Presse sorgen wird? 
  Es gibt da eine Geschichte, die einiges aussagt über Ramstetters Wirken und seine Position im Verein. Der meinungsstarke Bayer war ja all die Jahre nicht nur der Herr des „Gelben Engels“, sondern galt auch als Erfinder des Autopreises. Tatsächlich soll es ganz anders gewesen sein, das erzählt Wolfgang Inhester, bis 2001 Mercedes-Kommunikationsdirektor. Demnach hat ein hessischer ADAC-Funktionär im April 2004 Inhester – der sich inzwischen als Unternehmensberater selbständig gemacht hatte – gebeten, ein Konzept für einen Automobilpreis zu entwickeln. Man überlege seit Jahren, einen solchen Preis zu vergeben, sagte der ADAC-Mann, wisse aber nicht, ob das funktioniere. „Natürlich geht das“, sagte Inhester, wenn einer in Deutschland die Legitimation besitze, Autopreise zu vergeben, dann der ADAC. Kein anderer verfüge über so viele gute und genaue Daten, keiner über diese Reputation. 
  Wenn Wolfgang Inhester heute darüber spricht, erkennt er natürlich die Ironie seiner Sätze, aber so sah man das damals eben. Er habe dem ADAC-Funktionär auch vorhergesagt, dass all die wichtigen Manager aus der Autowelt gerne anrücken würden, um ihre Preise abzuholen. Dieselben Manager, die jetzt blitzschnell auf Distanz zum ADAC gegangen sind und all die „Gelben Engel“-Trophäen zusammensuchen, um sie zurück nach München zu schicken. 
  Wolfgang Inhester entwarf also ein Konzept, und er erinnert sich, wie er mit seiner Frau beim Frühstück überlegte, wie der Preis heißen solle. Es muss etwas sein wie der „Oscar“, habe er gesagt. „Gelber Engel“, habe sie vorgeschlagen. Name und Konzept wurden wenig später vom ADAC-Präsidium abgenickt. Allerdings habe auf dem Papier für die Präsidiumssitzung nicht Inhesters Name gestanden, sondern: Michael Ramstetter. „Er hat mir sogar gesagt, das müsse jetzt unter seiner Fahne segeln. Mir war das egal“, sagt Inhester. 
  Inhester arbeitete noch bis 2011 an der Veranstaltung mit, und er sagt, Auffälligkeiten habe es schon gegeben. Aber dass gefälscht wurde, habe er weder gewusst noch für möglich gehalten. 
  Tatsächlich hatte schon Ramstetters Vorgänger als ADAC-Medienchef, Alfons Kifmann, den Auftrag erhalten, einen Autopreis zu entwickeln, aber damals hatte das Präsidium dagegen votiert – weil bei einem Preis nur einer gewinnen könne, man aber mit allen Geschäfte machen wollte. 
  Möglicherweise wurde dieser Grundkonflikt von Ramstetter auf ganz besondere Weise gelöst. Denn wenn jeder Autohersteller irgendetwas gewinnt, und wenn die wichtigste Kategorie – „das Lieblingsauto der Deutschen“ – jedes Jahr ein anderer gewinnt, sind am Ende alle versöhnt: Die Hersteller schmücken sich mit einer Empfehlung der Institution ADAC, der die Deutschen noch bis vor einigen Wochen mehr vertrauten als Caritas, Rotem Kreuz und Greenpeace. Und der ADAC freute sich über stimmungsvolle Gala-Veranstaltungen mit der Prominenz der deutschen Automobilindustrie. 
  Und Michael Ramstetter sorgte dafür, dass alle zufrieden waren, mit der Veranstaltung, den Auszeichnungen und den vielen, vielen Lesern, die sich angeblich an der Wahl beteiligten. Denn das verschaffte dem Publikumspreis ja erst die Bedeutung: dass er unter den 19 Millionen Mitgliedern des ADAC ermittelt wurde. 
  So erklärte man das damals. 
  Heute kehren die verbliebenen ADAC-Führungsleute die Scherben zusammen und weisen auf Ramstetter, wenn es um die Verantwortung geht. Im strengen Sinne mögen sie recht haben, vielleicht hat er die Manipulation in Eigenregie durchgezogen. Vielen im Haus war bekannt, was für ein Schreckensregime Ramstetter in seiner Abteilung führte. Wie viele Mitarbeiter freiwillig gingen und wie unglücklich ein Teil derer war, die blieben. Hätte man im ADAC den rüden bis brutalen Umgangston Ramstetters nicht toleriert, hätte man sich darum mehr gekümmert – es wäre nie zu dieser Krise gekommen. Die Whistleblower, deren Zahl hier ungenannt bleiben soll, wären nicht auf die Idee gekommen, verdächtige Zahlen und Begebenheiten nach außen durchzustecken. 
  Aber in jedem Verein, in jeder Firma und in jeder Familie wird der Ton von oben gemacht. Und auch über Peter Meyer sagen hochrangige ADAC-Mitarbeiter, dass er extrem laut werden konnte, wenn seinen Forderungen nicht entsprochen wurde. Auch in den vergangenen Tagen soll Meyer immer emotionaler reagiert haben, und auch immer wieder cholerisch. So muss man auch seinen Alleingang verstehen, als er von seinen Freunden aus dem Präsidium vor die Alternative gestellt wurde: einvernehmlicher, ehrenvoller Rückzug oder Abwahl. 
  Nun soll den Verein, zumindest für die nächsten Wochen, einer von Meyers bisherigen Stellvertretern führen: August Markl, 65. Er trat am Montag kurz vor die Kameras und ist seither nicht mehr zu sprechen. Markl wolle sich „erst einmal intern einen Überblick verschaffen“, erklärt ein ADAC-Sprecher. Sicher keine schlechte Idee. Und es wird den Rest des Präsidiums beruhigen, dass der Radiologe Markl, Chef des Regionalclubs Südbayern, intern bereits erklärt hat, nicht als Präsident kandidieren zu wollen. Über Markls Befähigung hört man Unterschiedliches, Gutes wie Schlechtes. Eines aber wird ihm intern hoch angerechnet: dass er sich traute, Meyer zum Rücktritt aufzufordern. 
  Vielleicht wendet man sich lieber wieder Peter Meyers gelbem Krimi zu. Eine der Stellen, die man nicht vergisst, spielt in einem Schlosspark. Der Buch-Meyer und seine Frau blicken in die Weite, auf ein Schloss, das schon Goethe besucht hat. 
  „Jahrhunderte Vergangenheit am Horizont“, sagt sie, „und zu unseren Füßen modernste Fortbewegungsmittel“. Buch-Meyer nickt, man müsse aber, erklärt er dann, für die Mobilität Opfer bringen, Abstriche machen: „Auch von Dingen, die uns lieb sind. Zum Beispiel von der Natur.“ Die Frau des Buch-Meyers lächelt: „Das meinte ich mit Verantwortung und Sorge tragen.“ 
  Möglicherweise ist es nicht das Schlechteste, dass dieser ADAC am Ende ist. Was auch immer aus den Trümmern neu zusammengesetzt werden mag: Kann es schlimmer werden?