Der Whistleblowerakt von Guido STRACK

Guido Strack wurde nicht aus freien Stücken zum Whistleblower - es war seine Pflicht. Die Europäische Kommission hatte im Frühjahr 2002 eine Entscheidung erlassen. Seither sind Kommissionsbeamte zur Meldung finanzieller Unregelmäßigkeiten verpflichtet.

Am 9. Dezember 1998 wandte sich ein Kollege Stracks, der niederländische Kommissionsbeamte Paul v. Buitenen an das Europäische Parlament. Zuvor hatte er die interne Untersuchungsbehörde UCLAF der Kommission über seinen Verdacht informiert: Als Rechnungskontrolleur hatte er Zahlungen gefunden, die auf die Verwendung öffentlicher Gelder für private Zwecke hindeuteten. Darin verwickelt waren höchste Kommissionsdienstellen, bis hin zur damaligen französischen Kommissarin Edith Cresson. UCLAF aber konnte oder wollte nichts finden. Also gab v. Buitenen seinen umfangreichen und gut dokumentierten Bericht an die Fraktionsspitze der Grünen im Parlament zwecks Behandlung im Haushaltskontrollausschuss.

Der Bericht schlug alsbald hohe Wellen. Zunächst einmal wurde Whistleblower v. Buitenen, weil er sich nicht an seine Verschwiegenheitspflicht gehalten hatte, seitens der EU-Kommission suspendiert. Aber dies erregte nur noch weitere Aufmerksamkeit bei Medien und EU-Parlament. Schließlich setzte das EU-Parlament einen "Ausschuß Unabhängiger Sachverständiger" ein. Dieser legte am 15. März 1999 seinen ersten Bericht vor. Darin wurden die Vorwürfe v. Buitenens weitgehend bestätigt und zahlreiche Fälle von "Günstlingswirtschaft" festgestellt. Aber der Bericht enthielt vor allem auch abschließende Bemerkungen, die vor allem im Abschnitt "Die Verantwortung" zu einem vernichtenden Urteil über die Europäische Kommission kamen:

"9.4.24. In der Kommission gibt es kein einfaches, schnelles und praktisches internes Verfahren zur Feststellung der individuellen Verantwortlichkeiten im Falle von Unregelmäßigkeiten und möglichen wiederholten Betrügereien durch ihre eigenen Beamten. Der Ausschuß hat diese Unzulänglichkeit in den meisten von ihm geprüften Dossiers festgestellt. Es wäre daher wünschenswert, daß die Rechnungsprüfungsberichte in ihren Schlußfolgerungen künftig systematischer auf die Bewertung der individuellen Leistungen eingehen. Sollte diese Bewertung eindeutig negativ sein, so könnte ein unabhängiger Verwaltungsausschuß, dem auch ein Vertreter der internen Rechnungsprüfung angehört, der Anstellungsbehörde die geeigneten Schritte vorschlagen.

9.4.25. Die Verantwortung der Kommissionsmitglieder oder der Kommission insgesamt darf in der Praxis nicht nur eine vage Idee, ein unrealistischer Begriff sein. Man muß sich ständig der Verantwortung bewußt werden. Jeder muß sich für den Bereich, für den er zuständig ist, verantwortlich fühlen. Im Verlauf der vom Ausschuß durchgeführten Untersuchungen wurde allzu oft festgestellt, daß das Verantwortungsbewußtsein in der hierarchischen Kette versickert. Es wird schwierig, irgendeine Person zu finden, die sich auch nur im geringsten verantwortlich fühlt. Dieses Verantwortungsbewußtsein ist jedoch von wesentlicher Bedeutung. Man muß es in erster Linie von den Kommissionsmitgliedern und ihrem Kollegium erwarten. Der Versuch, den Begriff der Verantwortung seines wirklichen Inhalts zu berauben, ist gefährlich. Dieser Begriff ist eigentlicher Ausdruck der Demokratie.
"

Einen Tag nach Veröffentlichung dieses Berichts wurde der Druck der Öffentlichkeit und des EU-Parlaments zu groß. Die Europäische Kommission unter der Präsidentschaft von Jaques Santer trat geschlossen zurück.

Nachfolger von Jacques Santer wurde der Italiener Romano Prodi. Sein neues Credo lautete: "Null-Toleranz" gegenüber Korruption. Eine Folge davon war die Auflösung von UCLAF und die Schaffung der Europäischen Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF. Sie sollte unabhängig von der Kommission zukünftig für interne und externe Ermittlungen zu finanziellen Unregelmäßigkeiten, Betrug und Korruption zuständig sein. Ihr Chef wurde ein Deutscher: der ehemalige bayerische Staatsanwalt Franz Hermann Brüner.

Aber auch in puncto Whistleblowing wurde die neue EU-Kommission bald aktiv. Am 2. April 2002 verabschiedete die Kommission den Beschluss K(2002)845. Noch heute gelten diese Regelungen fort: seit 1. April 2005 als Art. 22a und 22b des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften, heute aber nicht nur für die Beamten der Kommission, sondern auch für die Beamten und Bediensteten aller anderen EU-Institutionen. Seither gilt:

Artikel 22a

  1. Erhält ein Beamter in Ausübung oder anlässlich der Ausübung seines Dienstes Kenntnis von Tatsachen, die die Möglichkeit rechtswidriger Handlungen, einschließlich Betrug oder Korruption, zum Nachteil der Interessen der Gemeinschaften oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Ausübung dienstlicher Pflichten, die eine schwerwiegende Verletzung der Dienstpflichten der Beamten der Gemeinschaften darstellen können, vermuten lassen, so unterrichtet er unverzüglich seinen unmittelbaren Vorgesetzen oder Generaldirektor oder, falls er dies für zweckdienlich hält, den Generalsekretär oder Personen in vergleichbaren Positionen bzw. direkt das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung. Die Informationen gemäß Unterabsatz 1 sind in schriftlicher Form vorzulegen. Dieser Absatz gilt auch für den Fall, dass das Mitglied eines Organs oder eine andere Person, die im Dienste eines Organs steht oder für ein Organ einen Auftrag ausführt, erheblich gegen entsprechende Dienstpflichten verstößt.
  2. Ein Beamter, der Informationen gemäß Absatz 1 erhält, übermittelt dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung unverzüglich jeden ihm zur Kenntnis gebrachten faktischen Hinweis, der Unregelmäßigkeiten gemäß Absatz 1 vermuten lässt.
  3. Dem Beamten dürfen seitens des Organs keine nachteiligen Auswirkungen aufgrund der Tatsache erwachsen, dass er Informationen gemäß den Absätzen 1 und 2 weitergegeben hat, sofern er dabei in Treu und Glauben gehandelt hat.
  4. Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht für Dokumente, Schriftstücke, Berichte, Vermerke oder Mitteilungen, unabhängig von ihrer Form, die im Rahmen eines schwebenden oder abgeschlossenen Gerichtsverfahrens aufbewahrt, angelegt oder an den Beamten weitergegeben werden.


Artikel 22b

  1. Dem Beamten, der Informationen gemäß Artikel 22a an den Präsidenten der Kommission, den Präsidenten des Rechnungshofes, den Präsidenten des Rates, den Präsidenten des Europäischen Parlaments oder an den Europäischen Bürgerbeauftragten weitergegeben hat, dürfen keine nachteiligen Auswirkungen seitens des Organs erwachsen, sofern die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind: a) Der Beamte hält die weitergegebenen Informationen und jede darin enthaltene Anschuldigung nach Treu und Glauben für im Wesentlichen wahr und b) er hat zuvor die gleichen Informationen dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung oder seinem Organ übermittelt und abgewartet, bis das Amt bzw. Organ binnen der Frist, die es in Anbetracht der Komplexität des Falles festgelegt hat, geeignete Maßnahmen ergriffen hat. Über diese Frist wird der Beamte binnen 60 Tagen ordnungsgemäß unterrichtet.
  2. Die Frist gemäß Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Beamte nachweisen kann, dass sie unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Falls unangemessen ist.
  3. Die Absätze 1 und 2 gelten nicht für Dokumente, Schriftstücke, Berichte, Vermerke oder Mitteilungen, unabhängig von ihrer Form, die im Rahmen eines schwebenden oder abgeschlossenen Gerichtsverfahrens aufbewahrt, angelegt oder an den Beamten weitergegeben werden.


2006 befasst sich der Haushaltskontrollausschuss mit der Thematik und gibt eine Studie in Auftrag. Deren Ergebnis: diese Regelungen zum Whistleblowing sind unpraktikal und unzureichend. Aber die Kommission, die auf EU-Ebene ein Monopol für die Einbringung von Gesetzesvorschlägen hat, macht keinen Vorschlag zur Änderung.

2011 steht das Thema Whistleblowing dann erneut auf der Agenda des Haushaltskontrollausschusses des Europäaischen Parlaments. Am 25. Mai führt er eine Expertenanhörung durch. Einer der geladenen Experten: Guido Strack.

Aber auch die im Parlament zuständige Berichterstatterin Marta Andreasen kennt sich aus. Bevor sie Abgeordnete wurde, war sie oberste Rechnungsprüferin der EU-Kommission, fand große Missstände und deckte Manipulationsgefahren auf. Zunächst intern und als sie damit erfolglos blieb dann auch gegenüber dem Parlament, dem Rechungshof und später der Öffentlichkeit. Die Reaktion der Kommission: Sie strengte ein Disziplinarverfahren an und entließ die Beamtin Andreasen. Diese Entlassung hatte auch vor den EU-Gerichten in zwei Instanzen Bestand. Um den Schutz von Whistleblowern auf EU-Ebene steht es also bis heute trotz expliziter Regelungen alles andere als gut. Belegt wird dies auch durch eine weitere Studie, die noch andere Fälle auflistet.