Chronologie des Sozialleistungsmissbrauchs

Hier finden Sie die chronologische Abfolge aller Ereignisse zu dieser Geschichte. Sie beginnt im Jahre 2000 mit eine Banken-Razzia. Die staatliche Aufarbeitung der dabei gefundenen Informationen dauert bis heute an. Die Medien erfahren davon erst sehr spät: der  stern <  berichtet erstmals am 26.8.2004 unter der Überschrift "Arme Sünder", dass "bis zu 100.000 Türken dem deutschen Staat Steuern schulden" und dass sie sich mit "500 Millionen Euro freikaufen" wollen. Die  Stuttgarter Zeitung  beginnt ihre Berichterstattung im Jahre 2005. Die Vorgeschichte zu diesen Veröffentlichungen können Sie unter  So liefen die Recherchen   nachlesen. 

Juni 2000

Steuerfahnder stoßen bei einer Bankenrazzia in Frankfurt/Main durch Zufall auf Ein- und Auszahlungsbelege türkischer Staatsangehöriger, die ihre Ersparnisse über die Dresdener Bank bei der Türkischen Nationalbank in Ankara (TCMB) angelegt haben. Die Staatsbank hatte 1976 mit der Dresdner Bank eine Vereinbarung geschlossen, wonach türkische Staatsangehörige in Deutschland bei allen Filialen Einzahlungen auf zentral geführte Sonderkonten tätigen konnten. Insgesamt werden 220 000 Datensätze sichergestellt. 

Die Datensätze werden zur Bearbeitung nach Postleitzahlen unter den zuständigen Oberfinanzdirektionen aufgeteilt. Insgesamt landen 24.000 Namen und Adressen in Baden-Württemberg. Bei der Auswertung der Daten stellt sich heraus, dass hunderte türkische Gastarbeiter ihre Geldanlagen in Ankara bei der Steuererklärung verschwiegen haben. Die Steuerbehörden in Stuttgart und Karlsruhe verfolgen die Fälle und fordern Steuernachzahlungen. Es verfestigt sich der Verdacht, dass das Vermögen nicht nur bei der Steuererklärung, sondern auch in den Anträgen der Arbeitslosenhilfe verheimlicht wurde. Die Fahnder entschließen sich das Landesarbeitsamt zu informieren.


Januar 2003

Die Steuerfahnder schicken die beschlagnahmten Daten an das Landesarbeitsamt. Arbeitsamt stimmt zunächst dem Datenabgleich in größerem Stil zu.


im Laufe des Jahres 2003

Zuständige Arbeitsmarktinspektoren veranlassen eine Stichprobe. Im ersten Schritt werden 4000 Datensätze in die Leistungsempfängerdatei eingespeist: in 30 % der Fälle wurde zur fraglichen Zeit Arbeitslosenhilfe bezogen. In keinem dieser Fälle wurde das Vermögen in der Türkei beim Antrag auf Arbeitslosenhilfe angegeben. Das Land Baden-Württemberg schätzt den entstandenen Schaden auf 30 Mio. Euro, bundesweit sollen es 300 Mio. Euro sein.


2004

Behördenreform: 290 Arbeitsmarktinspektoren werden zu den Hauptzollämtern Stuttgart, Karlsruhe, Ulm, Singen, Hannover und Lörach versetzt. Die Stuttgarter Ermittler verlieren ihren Zugriff auf das EDV-Netzwerk der Arbeitsbehörden.


02.03.2004

Die versetzten Inspektoren schicken 13 Disketten mit den Daten der türkischen Sparer an die Bundesagentur für Arbeit nach Nürnberg, mit der Bitte einen Datenabgleich zu machen.


15.09.2004

Erst sechs Monate später erfolgt die Absage der Bundesagentur bzgl. der Bitte des Datenabgleichs: aus Gründen des Datenschutzes würde und könnte kein Datenabgleich erfolgen – angeblich hätte der Bundesbeauftragte für Datenschutz etwas dagegen. Tatsächlich wurde der aber nicht gefragt. Bis zu diesem Zeitpunkt und auch noch die nächsten 9 Monate wird darüber in der Öffentlichkeit nichts bekannt.


15.06.2005

Michael OHNEWALD berichtet in der  Stuttgarter Zeitung(StZ)  über den Alltag eines regionalen Richters. Während der Recherche für seinen Artikel stößt OHNEWALD bei einer Verhandlung auf eine junge Türkin, die des Betrugs bezichtigt wird. Ihr wird vorgeworfen, sie hätte „Stütze“ vom Staat erhalten, obwohl sie über ein Vermögen in der Türkei verfügte. Michael OHNEWALD wird hellhörig, als ihm der Richter berichtet, dass solche Fälle keine Ausnahmen sind: „Das ist nur die Spitze des Eisbergs“, meint der Richter. Mit diesem Zitat beginnt dann auch die Berichterstattung von Michael OHNEWALD.


30.06.2005

Michael OHNEWALD veröffentlicht in der  Stuttgarter Zeitung  einen weiteren Artikel „Da werden Millionen in den Sand gesetzt“. Erstmals berichtet er vom Tatbestand des Sozialleistungsmissbrauchs. Er verdeutlicht den Dissens zwischen den zwei Behörden bezüglich der Aufklärung des Sachverhaltes.


05.08.2005

Der baden-württembergische Justizminister Ulrich GOLL, nimmt die Berichterstattung der Stuttgarter Zeitung  zum Anlass, die Bundesagentur für Arbeit bzw. deren Chef, Frank Jürgen WEISE, öffentlich aufzufordern, ihren Pflichten zur Missbrauchskontrolle nachzukommen. GOLL ist der Meinung, dass die Bundesagentur aufgrund ihrer Aufgabenzuweisung die rechtliche Möglichkeit besitzt, die Daten zu überprüfen... Andernfalls setze sie sich dem Vorwurf aus, „schützende Hände über Betrüger zu legen“.


05.08.2005

In Baden-Württemberg treffen sich Beamte verschiedener Ministerien: “Ziel ist es, den sozialen Leistungsmissbrauch im Interesse der Steuerzahler entschieden zu bekämpfen“. Sie wollen sich um eine vertiefte Prüfung und weitere Schritte gegen die Bundesagentur bemühen.


06.08.2005

Achim WINKEL, Sprecher der Direktion der Bundesagentur von Baden-Württemberg, äußert sich zu den Vorwürfen. Nach seinen Angaben sind seit 2000 insgesamt 3,4 Mio. Euro zurückgeholt worden. Fast dreihundert Leistungsbetrüger mit türkischem Sparbuch seien angeklagt worden. Doch die Behördenreform im Jahre 2004 haben die Ermittlungen unterbrochen bzw. unmöglich gemacht. 


im weiteren Verlauf des Jahres 2005

In Baden-Württemberg umgeht die Zollfahndung die Blockade der Bundesagentur: Jeder türkische Kapitalanleger wird mit Hilfe einer aufwändigen Ermittlung der jeweils zuständigen Arbeitsagentur zugeordnet. Im zweiten Schritt werden die Verdächtigen einzeln anhand ihres Arbeitslosenhilfe-Antrags überprüft. Die Beamten ermitteln 1500 Verdachtsfälle, die an die Staatsanwaltschaft übergeben werden.


05.11.2005

DER SPIEGEL  berichtet über einen internen Vermerk des Agenturchefs Frank-Jürgen WEISE in dem er die Vermutung äußert, dass eine große Zahl türkischer Arbeitsloser zu Unrecht Hartz IV bezieht. Handeln – im Sinne der baden-württembergischen Ermittler – mag der BA-Chef allerdings nicht.


12.11.2005

Die  Stuttgarter Zeitung  berichtet: FDP-Generalsekretär Dirk NIEBEL meldet sich zu Wort. Er richtet eine Anfrage an die Bundesregierung, um weiteren Druck auf die Bundesagentur für Arbeit auszuüben. NIEBEL und Justizminister Ulrich GOLL erhoffen sich über das Kabinett eine Bundesratsentscheidung, die den Datenabgleich erzwingen könnte.


23.12.2005

Inzwischen hat sich auch der Bundesrechnungshof eingeschaltet; er rügt in einer internen Mitteilung an das Bundesfinanzministerium in Berlin, die Bundesagentur recht deutlich: Sie gehe „nicht entschieden gegen Leistungsmissbrauch vor“, wie die  StZ  schreibt. Interne Berichte des Bundesrechnungshofs gelten als vertraulich und werden nicht öffentlich gemacht. Michael OHNEWALD hat dennoch von diesem internen Vorgang erfahren, worüber er auch die Öffentlichkeit unterrichtet. 
Über diese Veröffentlichung ist die Bundesanstalt (BA) in Nürnberg verärgert und ruft beim Chefredakteur der  StZ  an, um sich zu beschweren. Der ist gerade nicht da, ruft aber später ion Nürnberg zurück. Da sind die Herrschaften aus der BA aber bereits im Weihnachtsurlaub.


10.02.2006

Das Land Baden-Württemberg bringt mehrere Gesetzesinitiativen erfolgreich auf den Weg. Die Länderkammer billigt die Einführung einer neuen Rechtsgrundlage, um gegen Missbrauch von Sozialleistungen leichter vorgehen zu können.


15.03.2006

Das kommt selten vor: dass ein Minister einem Journalisten gratuliert. In diesem Fall macht es der baden-württembergische Justizminister Ulrich GOLL. Grund: der Redakteur habe die  "Finger in die richtige Wunde gelegt"


(mk, ft)