Financial Times Deutschland, 13.06.2003

von Sonia SHINDE

Geldspritze für Ganoven aus dem Gesundheitswesen

O.M und T. M. sind wieder im Geschäft. Noch vor wenigen Monaten hat der Fall ihrer Mülheimer Zahntechnik-Handelsgesellschaft Globudent bundesweit Wellen geschlagen. Fast 9 Mio. Euro sollen sie Hunderten von Ärzten illegal zugeschoben haben, damit die ihren Patienten von Globudent importierten Billigzahnersatz aus China einbauen und teuer abrechnen.

Jetzt werben die Brüder mit neuen Schnäppchen: Zahnersatz für 1 Euro lautet das Angebot der Globudent-Nachfolgefirma XYZ Dentaltechnik. Der "Kennenlernpreis" gilt bis Ende des Jahres. Die Anschrift ist dieselbe, die Telefonnummer auch. "Ein paar Kunden haben wir schon noch", sagt Firmenchef Omar M. "Alles läuft ganz legal", versichert sein Anwalt Michael Tsambikakis. Derweil ermittelt die Wuppertaler Staatsanwaltschaft gegen Ex-Globudent-Mitarbeiter wegen "bandenmäßigen Betrugs".

Globudent ist nur ein Fall von vielen: Korruption und Betrug im Gesundheitswesen kosten die Beitragszahler jedes Jahr mehrstellige Millionenbeträge. Komplizierte Abrechnungsvorschriften und mangelhafte Kontrollen machen es leicht, illegal gutes Geld zu verdienen. Im Zuge ihrer Gesundheitsreform will Sozialministerin Ulla Schmidt den Tricksern und Täuschern das Handwerk legen. Doch von den bislang vorgesehenen Gesetzesänderungen, die Schmidt am kommenden Mittwoch in den Bundestag einbringt, werden sich die immer systematischer vorgehenden Betrüger kaum bremsen lassen.

"Früher haben wir es eher mit einzelnen Betrugsfällen zu tun gehabt", sagt der Wuppertaler Oberstaatsanwalt Herbert Mühlhausen, dessen Behörde seit vielen Jahren auf die Gesundheitsbranche spezialisiert ist. "Das hat sich geändert. Im Laufe der Jahre werden unsere Fälle immer komplexer." Ein norddeutscher Kollege, der anonym bleiben will, wird deutlicher: "Einiges deutet darauf hin, dass es immer mehr um organisierte Kriminalität geht." Mühlhausen hat vor knapp zehn Jahren den Herzklappenskandal aufgedeckt - den bislang größten Fall von Abrechnungsbetrug in Deutschland. Jetzt koordiniert die Wuppertaler Behörde die Ermittlungen gegen 450 Ärzte und 22 Globudent-Mitarbeiter. Im Herbst soll die Anklage stehen. Den beiden ehemaligen Geschäftsführern drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Die von den Ermittlern vermutete Praxis bei Globudent folgt einem weit verbreiteten Schema: Medizinunternehmen machen ihren Schnitt, indem sie ihre Ware über Ärzte teuer abrechnen und diese an ihrem Profit teilhaben lassen. Globudent soll im Schnitt 20.000 Euro "Rückvergütung" an jeden der beschuldigten Mediziner gezahlt haben, damit diese ihren Patienten den Billigzahnersatz verschrieben und dafür bei den Kassen die Höchstsätze kassierten.

Ralf G., Ärztlicher Direktor einer privaten Augenklinik in Ahaus im Münsterland, hat nach Erkenntnis der Staatsanwälte nicht nur Schmiergelder in Millionenhöhe für überteuerte Kontaktlinsen kassiert. Zur Verschleierung soll er zudem eine eigene Handelsgesellschaft in der Schweiz dazwischengeschaltet haben. Derzeit steht der 61-Jährige in Münster vor Gericht. "Ehrlichkeit" sei eines seiner wichtigen Prinzipien, heißt es auf seiner Webseite.

Mit nur ein wenig krimineller Energie lassen sich Fantasiebehandlungen erfinden, für die die Kasse klaglos zahlt. Im Dschungel der komplizierten Abrechnungsmodalitäten zwischen Ärzten, Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und Krankenkassen fallen meist nur die dreistesten Lügen auf: So behauptete ein Arzt, einer 83-Jährigen ein Diaphragma eingesetzt zu haben; andere Mediziner rechneten gar für Therapien bei Toten ab.

Möglich ist das dank der Gesamtbudgets, die Kassen mit den Standesvertretern der Kassenärztlichen Vereinigungen aushandeln. Die Budgets werden nach einem Punktesystem verteilt: Je mehr Punkte ein Arzt erreicht, desto größer ist sein Stück vom Honorarkuchen. "Die ärztliche Abrechnung gerät immer mehr zum Verteilungskampf", sagt Mühlhausen. "Das erinnert manchmal an einen Raubtierkäfig."

Um auf eigene Kasse abrechnen zu können, schließen sich viele Ärzte in Laborgemeinschaften zusammen. Dazu müssen sie aber die Testergebnisse auch selbst freigeben. Es reicht nicht, wenn sie nur nachmittags auf einen Sprung im Labor vorbeischauen.

Doch genau das taten Hunderte von Medizinern einer Laborgemeinschaft in Köln. Gegen 206 Ärzte leitete die Staatsanwaltschaft Verfahren ein. Mühlhausen: "Die Ärzte haben 8 Mio. Euro zu Unrecht abgerechnet." Zwei Drittel der Verfahren sind inzwischen gegen Geldbußen wieder eingestellt worden. Kein Wunder, dass die Methode Nachahmer findet: In Frankfurt und in Geesthacht bei Hamburg wurden ähnliche Fälle bekannt.

Auch ganz sanfte Formen der Bestechung sind in Deutschland weit verbreitet - mit einem finanziellen Schaden für die Gesundheitsbranche, der nicht abzuschätzen ist. Pharmakonzerne ködern Mediziner mit Fortbildungen an exotischen Orten, um für ihre Pillen zu werben.

"Letztes Jahr hätte ich drei Tage im Hilton in Malta oder drei Tage in Nizza verbringen können - alles auf Kosten der Arzneimittelhersteller", sagt Wolfgang Schwinzer, Arzt aus Bad Sachsa und Aktivist der internationalen Anti-Korruptions-Organisation Transparency International (TI). In München laufen derzeit noch Ermittlungen gegen 1600 Ärzte und 270 Außendienstmitarbeiter der deutschen Niederlassung des britischen Pharmagiganten SmithKline Beecham, der inzwischen mit Glaxo Welcome fusioniert hat. Der Verdacht: Zwischen 1997 und 1999 soll der Konzern einzelnen Ärzten bis zu 25.000 Euro in bar zugeschoben haben - oder Kurztrips zur Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich.

Der Markt ist heiß umkämpft. Und es geht um sehr viel Geld. 240 Mrd. Euro zahlen die Deutschen jedes Jahr für ihre Gesundheit. Da ist es nicht verwunderlich, wenn Kassenexperten wie Gernot Kiefer einen jährlichen Schaden von 1 Mrd. Euro durch Betrug und Korruption für möglich halten. "Bis zu 20 Prozent der Arztabrechnungen sind falsch", sagt Kiefer, der die Arbeitsgemeinschaft Abrechnungsbetrug der Krankenkassen leitet. "Einige wegen Betrugs, andere aus Versehen."

"Die Kontrollmöglichkeiten der Krankenkassen sind sehr begrenzt", sagt Peter Scherler, Anti-Betrugs-Ermittler bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Niedersachsen. Weder die Versicherten noch die Kassen wissen genau, wofür sie zahlen. Kassenpatienten erfahren nie, welche Behandlungen ein Mediziner bei ihnen abrechnet. Die Kassen bekommen von den Kassenarztvereinigungen nur anonymisierte Daten über die Leistungen zur Verfügung gestellt - aus Datenschutzgründen.

Nicht nur bei den Krankenkassen schrillen angesichts der Masse von Betrugsfällen die Alarmglocken. Deutschland rangiert auf dem Korruptionsindex von TI lediglich auf Platz 18, kurz vor Ländern wie Botswana und Namibia. Korruption ist in vielen westlichen Ländern weniger verbreitet. "Wir glauben, dass dies zu einem erheblichen Anteil auf die Korruptionsfälle im Gesundheitssektor zurückzuführen ist", sagt ein Mitarbeiter des Sozialministeriums. "Das ist sehr alarmierend."

Dennoch haben Gesundheitspolitiker dem Thema in Deutschland bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In Großbritannien spürt die Anti-Betrugs-Einheit des National Health Service kriminelle Machenschaften auf. Zu 330 Prozessen haben 1200 Ermittlungsverfahren schon geführt. 194 Mio. £ wurden eingespart. In den USA verfügt das staatliche Gesundheitsprogramm Medicaid in jedem der 52 Bundesstaaten über Anti-Betrugs-Einheiten mit insgesamt 1000 Experten.

In Deutschland verfolgen wenige Krankenkassen die Betrüger so gezielt wie die AOK Niedersachsen. Interne "Plausibilitätsprüfungen", bei denen die Kassenärztlichen Vereinigungen die Abrechnungen der Vertragsärzte checken, halten viele Experten für längst nicht ausreichend.

Sozialministerin Schmidt will Betrug und Korruption mit neuen Gesetzen in den Griff bekommen: So können Patienten beim Arzt künftig eine Quittung über die abgerechneten Leistungen erhalten. Außerdem soll ein Anti-Korruptions-Beauftragter, mit besonderen Prüfrechten versehen, bei Verdacht Fälle an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Alle Krankenkassen werden verpflichtet, Prüf- und Ermittlungseinheiten einzurichten. Auch sollen Fortbildungsmaßnahmen für Mediziner von unabhängiger Seite zertifiziert werden.

"Die Gesundheitsreform hat viele gute Ansätze", sagt Anke Martiny von TI. "Sie geht aber nicht weit genug." Die Kassen müssten überhaupt erst in die Lage versetzt werden, wirksamer bei Ärzten zu kontrollieren. Ärzte und Pharmahersteller sollten zudem zu regelmäßigen Rechenschaftsberichten über ihre Zusammenarbeit verpflichtet werden. Bund und Länder verhandeln darüber - im Gesetzentwurf der Schmidt-Reform steht dazu nichts.

Chronologie:

  • November 2002: Die Mülheimer Firma Globudent soll nach Erkenntnissen der Wuppertaler Staatsanwaltschaft für billigen Zahnersatz aus China Höchstsätze kassiert und den Profit mit Zahnärzten geteilt haben.
  • Februar 2002: In Hessen sollen mehr als 570 Ärzte mit fingierten Rechnungen private Krankenversicherungen um Millionensummen betrogen haben.
  • 2000: Die Staatsanwaltschaft Mannheim ermittelt gegen mehr als 20 Augenärzte. Sie sollen den Kassen zu hohe Beträge für Kontaktlinsen in Rechnung gestellt haben.
  • 1999: Ein Arzt, eine Apothekerin und ein Pharmaunternehmen geraten in Niedersachsen unter Verdacht, in 59 Fällen Rezepte für verstorbene Patienten abgerechnet zu haben - 1,6 Mio. Euro Schaden.
  • 1997: Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt gegen Herzspezialisten, die Herzkatheter und andere medizinische Geräte weit überhöht abgerechnet haben sollen.
  • 1994: Hersteller von Herzklappen und Schrittmachern sollen gemeinsam mit Chefärzten und Verwaltungsleitern von Herzzentren Krankenkassen durch überhöhte Abrechnungen um Hunderte Millionen D-Mark betrogen haben.