Frontal21, 31.08.2004

von Herbert KLAR

Verunsicherung und Chaos

Was wird aus dem Zahnersatz?

Eigentlich stand es längst fest: Der Zahnersatz wird ab 2005 aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegliedert und muss zusätzlich versichert werden. Darauf hatten sich Regierung und Opposition im Juli 2003 geeinigt. Doch nun ist alles wieder anders. Die SPD-Spitze entschied: Zahnprothesen, Brücken und Kronen bleiben vorerst weiter Kassenleistung. 

Vor fünf Monaten unterschrieb Ediz Günsev eine private Zusatzversicherung für den Zahnersatz. Das hatte ihm ein Versicherungsunternehmen dringend empfohlen. Ein unseriöses Angebot, wie er heute weiß. Denn, was ihm die Versicherung damals verschwieg: Es stand zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht fest, wie die Neuregelung bei den Zähnen überhaupt aussieht. Und nun will die Politik das Gesetz wieder ganz kippen.

Ediz Günsev fragt sich nun: "Wozu habe ich dann das abgeschlossen, wenn das nicht in Frage kommt, also wieder abgesagt wird? Dann habe ich das ja umsonst abgeschlossen und die ganzen Beiträge gezahlt."

Unsicherheit und Unwissenheit

Zahnversicherungen, wie die von Günsev haben Tausende abgeschlossen. Die Versicherungsunternehmen haben dabei geschickt die Unsicherheit und die Unwissenheit der Menschen ausgenutzt. Sogar in Arztpraxen - so Frontal21-Recherchen - lagen Zettel mit angeblichen Informationen aus.

Experten, wie der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach entlarven sie als Täuschung: "Hier wird zum einen fälschlicherweise gesagt, dass die gesetzliche Krankenkasse nur maximal 50 Prozent des Zahnersatzes bezahlt. Das ist falsch. Zum Zweiten wird darauf hingewiesen, dass in Kürze der Zahnersatz nicht mehr Teil des Leistungskataloges der Krankenkassen wäre. Das ist ebenfalls falsch. Zum Dritten wird darauf hingewiesen, dass man sich demnächst also nur privat versichern könne. Da hilft nur private Vorsorge, ist ebenfalls falsch. Also im Wesentlichen sind die wichtigsten Aussagen, die gemacht werdenl, alle falsch."

"Massentäuschung, Lüge und Betrug"

Alles falsch? Es herrscht Chaos beim Zahnersatz. Keiner weiß mehr, was noch gilt und was nicht. Wir sind unterwegs in Arztpraxen in Berlin und in Köln. Bei Umfragen unter den Patienten bestätigt sich unser Eindruck: "Beim Zahnersatz weiß man überhaupt nicht mehr, was auf einen zukommt", befürchtet eine Frau. Etwas schärfer formuliert es ein anderer Patient: "Ich sehe das alles als Massentäuschung, Lüge und Betrug."

"Die Patienten sind hauptsächlich verunsichert", erzählt uns der Zahnarzt Karsten Heegewaldt. "Wir haben eigentlich täglich Anfragen, ob sich die Patienten jetzt extra versichern sollen, weil sie eben auch Schreiben von den Krankenkassen bekommen."

CDU wollte Zahnersatzpauschale

Zweifelhafte Geschäfte mit verunsicherten Menschen - die Politik macht sie möglich. Im Sommer 2003 fanden die Verhandlungen zur Gesundheitsreform statt: Auf Drängen der CDU soll sich ab 2005 jeder Bürger mit einer Pauschale für die Zähne zusatzversichern - gesetzlich oder privat. CDU-Chefin Angela Merkel persönlich drückt das beim Kanzler durch.

Und so erklärt Merkel am 18.Juni 2003 auf einer Bundestagssitzung: "Es gibt viele Länder in Europa, die gerade im Bereich der Zähne erheblich gute Erfahrungen damit haben, eine Leistung herauszunehmen, weil sie die Menschen anreizt, Prophylaxe zu betreiben."

Die SPD stimmt zähneknirschend dem Kompromiss beim Zahnersatz zu. Doch von Anfang an warnen Experten und sogar der Verhandlungsführer der Union, Horst Seehofer (CSU), vor den CDU-Plänen: Sie fürchten milliardenschwere Kosten für eine aufwändige Bürokratie. Heute sind die Befürchtungen Wirklichkeit geworden, die CDU rückt von ihren Plänen ab.

Wir fragen in der Pressekonferenz am 31. August 2004 nach: "Alle Experten, einschließlich auch Ihres Kollegen Herrn Seehofer von der CSU, haben ja davor gewarnt, dass es nicht funktionieren kann. Jetzt ist es so ..."

Meyer beschuldigt Seehofer

"...das ist nicht wahr", unterbricht CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer unsere Frage. "Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Kollege Seehofer in der Bundestagsfraktion das gefundene Modell, was er mit Frau Schmidt ausgearbeitet hat, für eine sehr praktikable und gute Lösung gehalten hat." Frontal21 hakt nach: "Aber er hat immer auch vor den hohen Verwaltungskosten gewarnt, und das ist jetzt doch mit ein Grund, warum die Regelung nicht praktikabel ist."

"Nein, ich weiß gar nicht, woher Sie das haben, dass er immer davor gewarnt hätte", antwortet Meyer. "Er hat es für eine sehr gute Regelung gehalten und erst jetzt, durch dieses Nichtstun wird es also von Frau Schmidt in eine problematische Situation gebracht."

"Ich war von Anfang an dagegen"

Wir wollen wissen, wie das Horst Seehofer sieht: "Herr Laurenz Meyer hat gerade in einer Pressekonferenz gesagt, Sie hätten nie vor der Verwaltungsbürokratie des Zahnersatzes gewarnt. Stimmt das?"

"Da kann ich jetzt nur noch laut lachen. Ich glaube, fast jeder in Deutschland weiß, wie ich von Anfang an gegen diese Lösung beim Zahnersatzes stand", kommentiert lächelnd Seehofer die Äußerungen von Meyer. "Und wie ich mich dann loyal verhalten hatte, als es entschieden war.... Aus Loyalität jetzt zu schließen, dass man nie Probleme mit dem Zahnersatz hatte.... Wegen des Zahnersatzes war ich zurückgetreten. Der Edmund Stoiber hat mich überredet wieder ins Amt nach zwei Tagen zu gehen. Was ich getan habe, indem er mir zusicherte, ich könnte weiterhin die Lösung als solche für falsch bezeichnen."

Korrektur wird schwierig

Im unionsinternen Streit über den Zahnersatz sollte Seehofer letztlich Recht behalten. Das von der CDU vorgeschlagene Pauschalmodell hat sich als nicht praxistauglich erwiesen. "Der Kollege Meyer müsste sich selbst die Frage stellen, warum er solche Vorschläge jemals in die Debatte eingeführt hat", so Seehofer. "Ich kann nachvollziehen, dass es für ihn nicht so ganz einfach ist, jetzt hier eine Kurskorrektur vorzunehmen.

Aber ist es denn so schlimm, wenn ein Politiker einmal eingesteht: Das war falsch, das war ein Fehler und den korrigieren wir."
Aber Korrekturen sind nicht so einfach. Fast täglich kommen neue Vorschläge auf den Tisch - eine rege Korrespondenz zwischen Opposition und Regierung: Doch Schaden ist jetzt schon angerichtet. Hunderttausende haben Versicherungen abgeschlossen, weil sie auf ein Gesetz vertrauten, das so nun nicht kommt. Die Versicherungswirtschaft glaubte, das große Geschäft machen zu können, bleibt heute auf ihren Verträgen möglicherweise sitzen. Überall herrscht Ratlosigkeit.

Verwirrung bei Versicherungskunden

"Bei den Kunden gibt es große Verwirrung", bestätigt Marketingleiter Michael Giese von der Allianz Versicherung. "Für uns als Unternehmen ist es schwierig, weil wir ja auch darauf bauen müssen, dass Entscheidungen stehen und daraufhin Strategien entwickelt werden müssen. Das alles soll nun nichts wert sein."

Ediz Günsev versteht das Hickhack der Politik schon lange nicht mehr. Er will nur noch eines: raus aus der Zahnzusatzversicherung. Mehrfach hat er schon versucht, sie zu kündigen, doch der Versicherer stellt sich stur, will ihn nicht aus seinem Vertrag entlassen.

"Rechtsgrundlage ist entfallen"

Dazu könnte er aber demnächst gezwungen werden, meint der SPD- Gesundheitsexperte Wolfgang Wodarg: "Die Rechtsgrundlage für solche Zusatzversicherungen, die sich auf eine zukünftige gesetzliche Regelung beziehen, die ist meiner Meinung nach - wenn das jetzt nicht umgesetzt wird - entfallen."

Verunsicherte Patienten, unglaubwürdige Politiker, mögliche Millionenschäden - noch immer ist das Problem Zahnersatz ungelöst. Das Verwirrspiel geht weiter.