Frontal21, 14.06.2005

von Herbert KLAR

Zähne zweiter Klasse

Reform auf Kosten der Patienten

Die zahnmedizinische Versorgung vieler gesetzlich Versicherter ist nach Ansicht von Experten gefährdet. Nach einer neuen Zuschussregelung, die seit Anfang dieses Jahres gilt, müssen Patienten für Behandlungen mit Zahnersatz teilweise deutlich mehr zuzahlen als zuvor.

Annelie Theis ist dieses Jahr zum ersten Mal bei ihrem Zahnarzt. Sie hat Schmerzen und braucht dringend eine Zahnprothese für ihren Unterkiefer. Dafür soll sie nun kräftig aus eigener Tasche zahlen, ganz anders noch als im vergangenen Jahr. 2004 bekam sie neue Zähne für ihren Oberkiefer, ohne Zuzahlung.

Theis berichtet: "Tja, nun ist das oben erledigt. Das war hundertprozentig von der Kasse bezahlt worden. Und jetzt in diesem Jahr eben nicht mehr so. (...) Ich habe eine Rente von 700 Euro und da kann ich nicht 1000 Euro für einen Zahnersatz bezahlen, das geht nicht."

Nur noch Festzuschuss

Klagen, die Zahnarzt Böhme immer häufiger hört. Denn seit Anfang des Jahres zahlen die gesetzlichen Kassen nur noch einen Festzuschuss beim Zahnersatz - unabhängig von den endgültigen Kosten und unabhängig vom Einkommen des Patienten.

Das bekommt auch Marko Basler zu spüren. Er braucht vier Zahnbrücken. Nach der neuen Regelung muss er alle vier Brücken auf einmal einbauen lassen und bezahlen. Das kann er sich aber nicht leisten.

Kredit aufnehmen?

Basler sagt dazu: "Zum Beispiel würde es reichen, wenn ich jetzt erst einmal eine Brücke machen lasse. Also step by step, nacheinander die Brücken, so wie man's hat. Das würde also bedeuten pro Brücke vielleicht vier- fünfhundert Euro. Aber die Krankenkassen wollen eine Gesamtaufstellung der Kosten haben, und dann muss auch alles gemacht werden. Und früher war es eben so (...): Habe ich eine Brücke einreichen lassen vom Zahnarzt, die wurde dann gemacht, und dann vielleicht ein Jahr später die nächste. Weil eigentlich nicht alle Brücken sofort gemacht werden müssen."

Marko Basler überlegt nun, ob er einen Kredit aufnimmt oder ganz auf Zahnersatz verzichtet. Die Kassen zahlen immer weniger, weil der Leistungskatalog beim Zahnersatz drastisch zusammengestrichen wurde.

Gefahr der schlechten Versorgung

Zahnarzt Andreas Böhme über die Situation: "Ich sehe als riesengroßes Problem, gerade in meiner Praxis: die Versorgung älterer Patienten, die bei ihrem Zahnersatz im Lückengebiss einfach teilweise das Doppelte und mehr bezahlen müssen. Und wenn sie heute nach Regelversorgung versorgt werden wollen, dann ist das einfach nicht das Niveau, was wir im letzten Jahr hatten, eindeutig."

Zahnarzt Böhme hält von der neuen Regelung gar nichts. Er sieht die Gefahr, dass die Patienten immer schlechter versorgt werden. Ganz anders seine Funktionäre.

"Das war eine Fortschrittsbremse"

Dr. Jürgen Fedderwitz, Vorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, erklärt: "Heute bekommt der Patient für jede anerkannte Versorgungsform einen Zuschuss. Das war früher nicht so, früher bekam er nur für das etwas, was die Krankenkasse anerkannt hat. Das war eine Fortschrittsbremse." Fedderwitz weiter: "Diese Fortschrittsbremse wurde - und das war der Gesetzesauftrag - jetzt sozusagen beseitigt. Dafür musste aber auch dann Geld freigeschaufelt werden, denn die 3,5 Milliarden Euro, die die gesetzliche Krankenversicherung für den Zahnersatz zu Verfügung gestellt hat, durften nicht erhöht werden. Und man hat dort die Einsparungen vorgenommen, wo sie am wenigsten funktionelle, sondern mehr Komfort- oder Ästhetik-Gründe in den Vordergrund geschoben haben."

Was funktionell ist oder einfach nur schön fürs Auge, bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss, in dem auch die Vertreter der Zahnärzte sitzen. Bei denen feiert man die neue Regelung als Erfolg. Kritiker dagegen werfen ihren Funktionären vor, dass sie sich für etwas stark gemacht haben, was letztlich auch den Zahnärzten schadet.

"Verschiedene Interessen"

Zahnarzt Eberhard Riedel meint: "Es ist zu vermuten, dass bei den Beteiligten des Gemeinsamen Bundesausschusses verschiedene Interessen zusammen kamen, die letztlich sich zu einer unheiligen Allianz ergänzt haben. Da waren auf der einen Seite die Krankenkassen, die natürlich gerne Ausgaben sparen und reduzieren wollten. Da gab es auf der anderen Seite die Zahnärzte, die daran beteiligt waren, und die Idee hatten, so viele Leistungen wie möglich quasi auszugrenzen, also mit dem Patienten privat vereinbaren zu können."

Wenn der Zahnarzt privat viel abrechnen kann, wird er auch sehr viel mehr verdienen, als wenn er nur die Kassenhonorare bekommt. Zwar zahlen die Kassen immer einen Zuschuss. Er fällt aber sehr gering aus, der Rest muss privat aufgebracht werden. Soweit das Kalkül.

Doch die meisten können sich das gar nicht leisten. Mit dem Ergebnis: Wer nicht viel zuzahlen kann, bekommt nur die so genannte Regelversorgung: Die Höhe des Zuschusses wird danach bemessen. Was darunter zu verstehen ist. (...)

Niveau der 80er Jahre

Lutz Wolf, der Vorsitzende der Deutschen Zahntechniker-Innung ergänzt: "Die Neuregelungen sehen vor, dass in viel mehr Befundsituationen als in der Vergangenheit diese Form der Versorgung als Regelversorgung zur Verfügung gestellt wird."

Doch viele Konstruktionen entsprechen längst nicht mehr dem Stand der Medizintechnik, kritisieren Experten. Sie sei bestenfalls auf dem Niveau der 80er Jahre. Wolf weiter: "Ich glaube, es wäre unerlässlich, dass nun im Konsens zwischen allen Beteiligten - Zahnärzten, Krankenkassen, Zahntechnikern und Patientenorganisationen - wieder die Lösungen den Patienten angeboten werden können, für die sie letzten Endes auch Beiträge zahlen, die dem anerkannten zahnmedizinischen Stand entsprechen. Und dies kann man den heutigen Lösungen beim besten Willen nicht attestieren."

Gewinner Krankenkassen

Der Bundestagsabgeordnete Horst Schmidbauer (SPD), Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages, erklärt dazu: "Die Gefahr besteht tatsächlich in Deutschland, dass wir von einer hochwertigen Versorgung absinken, wo wir entweder die Qualität der Versorgung an der Zahnspange erkennen, oder an der Zahnlücke. Und ich finde, das ist keine angemessene Antwort auf die Gegenwart."

Die einzigen, die sich so richtig freuen dürfen über die neue Regelung, sind die Krankenkassen. Deren Ausgaben für Zahnersatz sind im Vergleich zum Vorjahr drastisch gesunken: im Januar 27 Prozent, im Februar 64 Prozent, im März 50 Prozent und im April 47 Prozent.

Die Kassen als große Gewinner der neuen Regelung. Verlierer sind die Patienten, nicht nur wegen der geringeren Kassenleistungen. Sie haben auch Angst davor, bei der privaten Abrechnung zu viel zu bezahlen.

Lächeln der Besserverdienenden

Zahnarzt Riedel über die Auswirkungen der Regelung: "Das Ergebnis dieses Festzuschusssystems ist häufig das, dass die Patienten erst gar nicht mehr in den Praxen erscheinen. Weil sie merken, hier ist etwas geschaffen worden, was sie selber nicht verstehen. Wo sie dann Angst haben, dass sie möglicherweise bei einer Abrechnung falsch behandelt werden, dass bestimmte Dinge ihnen so nicht bezahlt werden, wie sie es früher bezahlt bekamen. Es besteht eine große Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung."

Durch die neue Regelung haben die Kassen viele Hundert Millionen beim Zahnersatz gespart - auf Kosten der Patienten. Ein schönes Lächeln werden sich in Zukunft nur noch die Besserverdienenden leisten können.