Die Berichte des Hamburger Abendblatt, 25.04.2006

von Christian DENSO, Bianca DEMUTH

Bis zu 1000 Fälle pro Richter - ist das noch Fürsorge



"Das Betreuungsrecht dient dazu, den betroffenen Personen den notwendigen Schutz und die erforderliche Fürsorge zu gewähren, ihnen zugleich aber auch ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung zu erhalten. Das persönliche Wohlergehen des hilfsbedürftigen Menschen steht im Vordergrund."

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) im Vorwort ihrer Broschüre "Betreuungsrecht".

Solche Sätze im Klappentext einer Behördenbroschüre - sind sie nur Theorie? Der Fall Thea Schädlich, der Fall der alten Dame, deren Haus von ihren gerichtlich bestellten Betreuern gegen ihren Willen an die Gemeinde Kummerfeld verkauft worden ist, zeigt eine andere Realität. 1000 Betreuungsfälle pro Vormundschaftsrichter, Berufsbetreuer, die dreieinhalb Stunden pro Monat Zeit für einen Hilfsbedürftigen haben - was in einfachen Fällen möglich ist, kann bei komplizierten Betreuungen leicht zum Handeln gegen den Willen des Betreuten führen. Und das Problem wird immer größer: Die Zahl der Betreuungsfälle in Deutschland hat sich seit der Reform des Betreuungsrechts 1992 vervierfacht - auf mehr als eine Million betreuter Menschen. Betreuung in Deutschland - eine Abendblatt-Analyse mit Experten. Wie etwa Volker Thieler (61), Rechtsanwalt aus München. Seine Kanzlei vertritt nach eigenen Angaben die Betroffenen in mehr als 40 Mißbrauchsfällen. Thieler sagt: "Der Betreuer übernimmt praktisch die Lebensfunktion des Betreuten. Er kann alles machen: Er kommt in ihr Haus rein, kann ihnen das Telefonieren verbieten, Besuchsverbote erteilen, ihre Privatfotos wegschmeißen. Ich kenne Richter und Rechtspfleger, die bis zu 1000 Fälle haben - mit 200 bis 300 wären sie schon ausgelastet. Wie sollen sie da noch kontrollieren?"

Ein Richter - und 1000 Vormundschaftsfälle? Selbst, wenn jeder Fall nur einen Aktenordner dick wäre, bedeutete das 80 Meter Akten pro Richter. Wir fragen nach bei Jochen Cassel (63). Der Direktor des Amtsgerichts Altona, seit sieben Jahren Vormundschaftsrichter, bestätigt: "2005 hatten wir bei den Betreuungsfällen 670 Neueingänge. Insgesamt sind es 2000 anhängige Fälle - bei 2,5 Richterstellen. Die Belastung der Richter ist groß. Überlastet sind wird nicht. Manchmal kommt es vor, daß wir etwa von Angehörigen das Signal bekommen: Die Betreuung funktioniert nicht. Dann gehen wir der Sache nach. Es gibt Betreuer, die man schätzt. Wir kennen uns auf Grund der Zusammenarbeit ganz gut, nicht privat. Vor 1992 gab es totale Entrechtungen einzelner. Heute wird versucht, die Selbständigkeit der Betroffenen zu erhalten."

Vormundschaftsrichter Alfons Goritzka (61) - auch an seinem Amtsgericht Hamburg-Mitte entfallen auf einen Richter und einen Rechtspfleger etwa 1000 Betreuungsfälle. Goritzka sagt: "Das Gericht prüft die Berichte und Abrechnungen des Betreuers. Wie er seine Arbeit erledigt, entzieht sich aber zunächst der Kontrolle. Gibt es Probleme, sind wir darauf angewiesen, daß wir von Außenstehenden informiert werden. Dannn forschen wir nach. Sehr häufig sind die Beschwerden ungerechtfertigt. Die vorhandenen Kontrollmechanismen halte ich für völlig ausreichend. Kritisch sehe ich jedoch die jüngste Reform des Betreuungsrechts im Juli 2005 und die Einführung einer pauschalen Vergütung für Berufsbetreuer. Man darf vermuten, daß darunter die Qualität der Betreuung leidet: Ein guter Betreuer, der davon leben will, muß jetzt mehr Fälle betreuen. Und wo bleibt der Anreiz, sich über das Pflichtmaß hinaus für den Betreuten einzusetzen?"

24 000 Menschen werden derzeit in Hamburg betreut, sagt Reinhard Langholf, der als Referatsleiter in der Behörde für Soziales die Betreuungsbehörde leitet: "Um etwa die Hälfte von ihnen kümmern sich ehrenamtliche Betreuer, oft Angehörige. Zudem gibt es in Hamburg drei- bis vierhundert Berufsbetreuer. Was der Gesetzgeber mit der Reform des Betreuungsrechts wollte, die Stellung des Betreuten zu verbessern, ist im wesentlichen gelungen. Sicher gibt es in Einzelfällen Probleme. Aber der Wille des Betreuten wird heute viel mehr wahrgenommen als früher."

"Schwarze Schafe gibt es auch unter Betreuern - wie überall. Doch die Masse ist es nicht", sagt auch Klaus Förter-Vondey (54), Vorsitzender des Bundesverbandes der Berufsbetreuer (BdB): "Uns bleiben für die Betreuung eines Menschen, der in seiner Wohnung lebt, nach dem ersten Jahr der Betreuung 3,5 Stunden pro Monat. Lebt er in einem Heim, sind es zwei Stunden. Der Gesetzgeber rechnet uns vor, daß ein Berufsbetreuer für sein Auskommen 40 bis 50 Betreuungen führen muß. Wenn man nicht mehr in der Lage ist, persönlich Kontakte wahrzunehmen, wird es problematisch. Wir haben ein Qualitätsregister beschlossen, eine freiwillige Verpflichtung etwa auf Fortbildungen."

"Die Reform steht und fällt mit der Bereitschaft von engagierten und fachlich qualifizierten Persoen, Betreuungen zu übernehmen." Aus einer Antwort der Bundesregierung, Drucksache 13/7133 vom März 1997.

Abendblatt-Telefonaktion

Was muß ich tun, damit es mir nicht so ergeht wie Thea Schädlich? Wie kann ich mich für eine Betreuung rechtlich absichern? Wer hilft mir dabei? Die Fragen der Leser zum Thema Betreuung - und die große Abendblatt-Telefonaktion: Morgen, am Mittwoch, stehen fünf Experten zwei Stunden lang Rede und Antwort. Notar Rolf-Hermann Henniges, Jochen Cassel, Vormundschaftsrichter am Amtsgericht Altona, Klaus Förter-Vondey, Vorsitzender des Bundesverbandes der Berufsbetreuer sowie Betreuungsexperte und Strafrechtsprofessor Bernd-Rüdeger Sonnen und Reinhard Langholf von der Betreuungsbehörde des Senats sind von 16 bis 18 Uhr unter Telefon 01802-22 46 16 (0,05 Euro pro Verbindung) erreichbar. Die wichtigsten Fragen und Antworten werden wir am Freitag im Abendblatt dokumentieren.

Wehrlos und ausgenutzt . . .

Wenn Betreuer ihre Stellung mißbrauchen und Hilfsbedürftige ausplündern - eine Auswahl:

  • Das Amtsgericht Hamburg-Altona verurteilte 2004 einen 44jährigen, der nach einem Schlaganfall seines besten Freundes als Betreuer eingesetzt wurde. Mit der EC-Karte des Behinderten ging der Betreuer tanken, zahlte im Supermarkt und fuhr in die Ferien nach Spanien - insgesamt 62 Fälle mit einem Schaden von 8500 Euro. Die Strafe: Anderthalb Jahre auf Bewährung wegen schwerer Untreue.
  • Das Landgericht Frankfurt verurteilte 2002 einen 41jährigen zu 15 Monaten auf Bewährung, weil er das Testament einer 82jährigen gefälscht hatte. Der Betreuer hatte so als Alleinerbe an eine Erbschaft von mehr als 300 000 Euro gelangen wollen. Der Sozialhilfeempfänger hatte das Testament eigenhändig verfaßt und es nach dem Tod der Frau der überraschten Verwandtschaft präsentiert.
  • Ein 48 Jahre alter Betreuer der Stadt Augsburg, der im Auftrag des Vormundschaftsgerichts jährlich bis zu 80 Pflegschaften zugewiesen bekam, soll zwei Grundstücke einer von ihm betreuten Heimbewohnerin für ein Zehntel des Marktpreises an eine Bekannte verkauft haben. Das Landgericht Augsburg verurteilte den Amtsrat 2002 zu zweieinhalb Jahren Haft, weitere Anklagevorwürfe wie versuchte Erpressung waren nicht berücksichtigt worden, um den Prozeß nicht in die Länge zu ziehen. Der Fall beschäftigt noch immer die Gerichte, da der Bundesgerichtshof in Karlsruhe das Urteil aufhob.