Kölner Stadt-Anzeiger direkt nach dem Einsturz, 04.03.2009

"Das Haus kam direkt auf uns zu"

"Das Haus kam direkt auf uns zu"

Kölner Stadt-Anzeiger , 04.03.2009 
von Kirsten BOLDT

Waren Schutzengel im Spiel, als der Bus an der Haltestelle unmittelbar neben dem Archiv nicht in Richtung des Gebäudes abfahren konnte, sondern stehen blieb und so den Trümmern entging? "Die Tür war irgendwie defekt, sie ging immer auf und zu, und es ging nicht weiter", erinnert sich Joshua Freitag (13), Schüler des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums (FWG). "Da kam plötzlich ein Bauarbeiter und rief in den Bus, wir sollten alle schnell raus. Das haben wir gemacht. Steine prasselten auf das Dach und die Scheiben. Ich war total erschrocken. Wir sind in Richtung Severinsbrücke gerannt, und dann hörten wir es krachen. So laut. Das habe ich noch nie gehört. Und lange, bestimmt 20 bis 30 Sekunden. Alles war voller Rauch. Ich war total fertig."

Joshuas elfjähriger Bruder Lars hielt sich zu der Zeit im oberen Foyer des Gymnasiums auf - mit Blick auf das gegenüberliegende Archiv: "Auf einmal hat alles gewackelt und meine Lehrerin rief: Lauft schnell weg. Und dann kam das Haus über die Straße direkt auf uns zu und krachte auf die Autos vor der Schule. Und wir rannten in den langen Gang weg vom Foyer und auf den Schulhof. Alles war voll Staub. Wir durften nicht mehr in das Schulgebäude rein wegen Einsturzgefahr."

Der FWG-Schüler Tobias Strübind (12) hatte sich noch eine Pizza in der Pizzeria neben dem Archiv geholt und war am Archiv vorbei auf der Höhe der ebenfalls eingestürzten Bäckerei, als er ein Loch im Bürgersteig entdeckte. "Das Loch war von einem Bauzaun umgeben, und ich wollte mal gucken. Da brüllte plötzlich ein Bauarbeiter: Lauft weg, lauft um euer Leben! Der Bäcker kam noch aus der Bäckerei, und ich bin in Richtung Brücke gerannt. Ich weiß nicht, ob alle aus der Bäckerei raus sind." Tobias war völlig verwirrt, als seine Mutter ihn mit dem Auto an der Severinsbrücke abholte. Sie sagt: "Er war total panisch und konnte erst nicht erklären, wo er war. Er hatte Angst, dass noch mehr eingestürzt war, auch seine Schule, und erzählte weinend, dass da an der Bushaltestelle eine alte Frau war, die nicht schnell gehen konnte. Und er machte sich Sorgen, was mit der Frau ist."

Die kleine italienische Pizza-Hut und die Bäckerei sind beliebte Anlaufpunkte für die Schüler. Beide Läden liegen gegenüber des Gymnasiums. Die sechste Unterrichtsstunde war seit etwa 30 Minuten vorbei und sehr viele Schüler des FWG waren auf dem Weg nach Hause zu Straßenbahnen und Bussen. Die Straße vor der Schule war bereits leerer. Wie August Gemünd, Pressesprecher der Bezirksregierung, berichtet, konnte FWG-Schulleiter Peter Jansen nicht mehr in sein Büros zurückkehren, die im Gebäudeteil direkt gegenüber der Einsturzstelle liegen. "So blieb ihm nur die Möglichkeit, die Eltern über Radio und Fernsehen zu informieren."

Auf diese Weise wurden auch die Telefonketten zwischen den Klassen und Schülern in Gang gesetzt. Viele Eltern erfuhren erst so von dem Unglück - wie Sabine Schröder, die kein Radio gehört hatte: "Unser Sohn ist ganz normal nach Hause gekommen, er war bei dem Unglück nicht mehr im Severinsviertel. Er hat das ganze Gott sei Dank nicht direkt mitbekommen."