Kölner Stadt-Anzeiger direkt nach dem Einsturz, 04.03.2009

Ein Grollen und Knirschen

Ein Grollen und Knirschen

Kölner Stadt-Anzeiger , 04.03.2009 
von Thorsten MOECK, Detlef SCHMALENBERG, Tim STINAUER

Es ist 13.55 Uhr, als sich die Tragödie mit einem unterirdischen Grollen ankündigt. Pizzabäcker Majid R. eilt aufgeregt aus seinem Geschäft in der Severinstraße, das direkt gegenüber des Stadtarchivs liegt. "Ich habe ein komisches Knirschen gehört", sagt er. Als er Menschen an den Fenstern des Stadtarchivs sieht, habe er wild mit den Armen gerudert und gerufen »Kommen Sie raus«. Eine Studentin gönnt sich in diesem Moment einen Kaffee in einer benachbarten Bäckerei. Minuten zuvor hatte sie im Stadtarchiv noch alte Rats-Protokolle gewälzt. "Auch viele Bauarbeiter schrien plötzlich: »Alle weg hier«", berichtet sie. Dann beginnen zwei Minuten, die vielen Archivbesuchern das Leben retten. 

Etwa 15 Menschen sollen sich am frühen Dienstagnachmittag im Stadtarchiv aufgehalten haben. Als Bauarbeiter und Passanten zu schreien beginnen, bricht Hektik im Gebäude aus. Menschen laufen panisch auf die Straße. "Dann ist plötzlich die Fassade abgebröckelt und Fensterscheiben sind einfach rausgefallen", schildert die Studentin. Auch einige Bauarbeiter der Nord-Süd-Stadtbahn stehen auf der Straße, sie haben gerade Mittagspause. "Auf einmal haben sich Risse gebildet. Etwa 30 Sekunden später ist das gesamte Gebäude eingestürzt", sagt ein geschockter Arbeiter. Dann verschwindet das historische Archiv unter einer weißen Staubwolke.

Günther Heimann fährt in diesem Augenblick mit seinem Auto an der Häuserzeile entlang, er ist unterwegs zum Augenarzt. "Auf einmal vibriert der Boden, alles rüttelt, mein Navi fliegt von der Scheibe", erzählt Heimann. Ein Ehepaar, das das Stadtarchiv soeben betreten wollte, berichtet kreidebleich, mehrere Menschen seien mit den einstürzenden Häusern in die Tiefe gerissen worden.

Als sich der Staub legt, wird das Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Nicht nur das hohe Stadtarchiv ist eingestürzt, auch zwei Wohnhäuser, vier und fünf Stockwerke hoch, sind zu großen Teilen eingesackt - auf einer Gesamtlänge von 60 Metern klafft eine Lücke. Der Riss zieht sich quer durch ein Haus und gibt den Blick auf Wohnzimmerwände und Türen frei. In einem grün gekachelten Badezimmer hängen einzig noch das Waschbecken und ein Spiegel an der Wand. "Ich bin zu den Trümmern gerannt und habe vier Menschen geholfen, die in einem der Häuser waren. Die waren total geschockt", erzählt der Pizzabäcker.

Polizei und Feuerwehr lösen Großalarm aus, bereiten sich auf einen "Massenanfall von Verletzten" vor. Rund 250 Feuerwehrmänner rasen in 86 Fahrzeugen zum Unglücksort, das Deutsche Rote Kreuz schickt eine Hundestaffel, die in den Trümmern nach Verunglückten suchen. Die Polizei rückt mit allen verfügbaren Streifenbeamten und mehreren Hundertschaften aus. Gleichzeitig wird die Freiwillige Feuerwehr alarmiert, die den normalen Wachbetrieb übernimmt.

Mehr als eine Stunde lang heulen in der Stadt die Sirenen der Einsatzfahrzeuge. Beamte der Bereitschaftspolizei bewachen die Absperrbänder. Dutzende Rettungswagen fahren vor, unweit der Unglücksstelle bauen Feuerwehrmänner ein Rettungszelt auf. Dann drängen Polizisten die Schaulustigen zurück, die mit ihren Handys filmen und fotografieren. Der Sperrbezirk muss ausgedehnt werden, weil benachbarte Gebäude und auch das ehemalige Polizeipräsidium am Waidmarkt als einsturzgefährdet gelten. Die Bewohner müssen ihre Häuser verlassen. Der Verkehr auf der Nord-Süd-Fahrt bricht zusammen.

Zwei Stunden nach der Katastrophe berufen die Stadt Köln und die KVB eine gemeinsame Pressekonferenz in der Feuerwache in der Agrippastraße ein, 200 Meter Luftlinie vom Unglücksort entfernt. Zu diesem Zeitpunkt musste die Feuerwehr noch keinen Menschen retten. "Wir haben bislang keine Hinweise auf Verletzte", verkündet Feuerwehrchef Stephan Neuhoff. Ein Ehepaar allerdings wird mit sicherheit vermisst. "Es gibt Hinweise, dass es sich in dem Wohnhaus links vom Stadtarchiv aufgehalten haben soll, als das Unglück geschah", sagt Neuhoff. Mehrere Menschen sollen sich zum Zeitpunkt des Einsturzes zudem in einer Spielhalle im Erdgeschoss aufgehalten haben.

Am Nachmittag ist von neun Vermissten die Rede, am späten Abend korrigiert die Polizei die Zahl auf zwei, es habe auch einen Verletzten gegeben. Die Feuerwehr spricht von fünf Vermissten. Das Wort "Tote" mag niemand in den Mund nehmen. Vorsichtig spricht Stadtdirektor Guido Kahlen von "möglicherweise Verletzten oder anderweitig Geschädigten". Kahlen schildert, dass die Einsatzkräfte "tief betroffen" seien von dem Bild, das sich ihnen an der Unglücksstelle biete.

Mit Einbruch der Dunkelheit flackern Flutlichter auf, die den Trümmerberg in helles Licht tauchen. Die Spürhunde schnüffeln sich durch den Schutt und schlagen gegen 22.30 Uhr schließlich an - ein möglicher Hinweis auf Verschüttete. Mit den Bergungsarbeiten könne aber frühestens am Morgen begonnen werden, da an der Unglücksstelle noch immer Einsturzgefahr bestehe.

Erst wenn das Schicksal der Vermissten geklärt ist, wollen sich die Einsatzkräfte bemühen, die Kunstschätze des Historischen Stadtarchivs zu bergen. Zur Vorsicht wurden am Abend 76 Menschen aus dem CBT-Altenwohnheim an St. Georg ausquartiert - es sei nicht auszuschließen, dass ein 30-Meter-Kran nahe der Einsturzstelle das Haus treffen könnte, wenn auch er noch umstürzen sollte.

Betroffenen Anwohnern, die einen Schlafplatz brauchen, hilft die Feuerwehr über die Notrufnummer 112 weiter. Daniel Niggel, der erst wenige Tage vorübergehend im haus Nummer 232 wohnte und sich aus dem dritten Stock in Sicherheit brachte, während das Nachbarhaus Nummer 230 zusammenstürzte, steht noch spät abends an der Absperrung und kann es einfach nicht fassen. Er weiß nicht, wann er in die Wohnung zurück kann und er friert in der geliehen, dünnen Jacke. Dieses "unbeschreibliche Gefühl", als sich rund um ihn alles bewegte, kriegt er nicht aus den Knochen.

Pizzabäcker Majid wird in den kommenden Tagen Zwangsurlaub haben. Sein Arbeitsplatz ist ihm zu riskant. "Mein Chef meint, dass sei zu gefährlich. Die ganze Straße ist gefährlich", sagt er und blickt auf sein Auto, das unter einer dicken Staubschicht verschwunden ist. Die junge Studentin, die das Stadtarchiv eigentlich nur zum Kaffeetrinken verlassen wollte, steht hinter den Absperrbändern. Ihr Portemonnaie und das Handy hat sie mitgenommen, doch ihre Aufzeichnungen sind größtenteils verloren. "Der Laptop liegt irgendwo unter den Trümmern", sagt sie. Besonders verärgert wirkt sie nicht. Denn ihr Leben hat sie gerettet.