Kölner Stadt-Anzeiger direkt nach dem Einsturz, 04.03.2009

"Mit bloßem Auge zu sehen"

"Mit bloßem Auge zu sehen"


von Helmut FRANGENBERG, Matthias PESCH, Tim STINAUER

"Die Katastrophe wäre vermeidbar gewesen."

Eberhard Illner, der 22 Jahre lang im Historischen Archiv der Stadt Köln gearbeitet hat und im vergangenen September ins "Historische Zentrum" nach Wuppertal wechselte, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen für den Bau der Nord-Süd-Stadtbahn. Es habe deutliche Hinweise auf Schäden im Gebäude gegeben. "Da muss ein Ingenieur richtig einen an der Klatsche haben, wenn man solche Hinweise nicht ernst nimmt." Es sei "grob fahrlässig" gehandelt worden. Das werde er vor jedem Gericht der Welt wiederholen. 

Tatsächlich berichten Mitarbeiter des Historischen Archivs von Rissen und Gebäudeschäden, die mit Beginn des U-Bahn-Baus aufgetreten seien. "Das fing schon bei den vorbereitenden Arbeiten an", sagt Illner. "Wir hatten laufend Wasserschäden", bestätigt eine langjährige Mitarbeiterin. "Aber dass dafür die Bauarbeiten verantwortlich sind, hat die KVB nie zugegeben. Das konnte ja nicht gutgehen." Zuletzt sei "die KVB" vor zwei Wochen da gewesen, um nachzuschauen. "Die kamen ja immer wieder zum Messen." Zuletzt hätte sich das Haus deutlich Richtung Severinstraße geneigt. "Das konnte man mit bloßem Auge sehen."

Auch Illner spricht von einer "signifikanten Neigung", die man bereits vor einem halben Jahr bemerkt habe. Im Umfeld der Einsturzstelle war am Nachmittag von einer zehn- bis zwölfprozentigen Neigung die Rede.

"Es war bekannt, dass das Gebäude wegsackt", sagt Illner. Man habe schon frühzeitig an Dehnungsfugen und Türrahmen im Keller sehen können, dass der U-Bahn-Bau Folgen für das schwere Gebäude mit hoher Last auf unsicherem Baugrund habe. Er habe die Schäden gemeldet und "darauf hingewiesen, dass man etwas tun muss", sagt Illner und ist "tief traurig über den Verlust", der seiner Meinung nach vermeidbar gewesen wäre.

Stadtdirektor Guido Kahlen bestätigte an der Einsturzstelle, "dass es Hinweise auf Setzrisse und eine Gebäudeabsenkung gab". Von einer zehnprozentigen Neigung sei ihm allerdings nichts bekannt. Es seien Gutachter der zuständigen Kölner Verkehrs-Betriebe im Haus gewesen, auch um ein "Beweissicherungsverfahren" durchzuführen.

Nach Informationen des "Kölner Stadt-Anzeiger" ist neben den Gutachtern im Auftrag der KVB auch ein Statiker im Auftrag der städtischen Gebäudewirtschaft im Januar im Haus gewesen. Auch er habe keinen Anlass gesehen, das Haus zu sperren, heißt es. Die Setzrisse seien kein Problem gewesen und in ähnlicher Form immer wieder entlang der U-Bahn-Strecke aufgetaucht.

Sie seien "unbedenklich" und das Gebäude sei "im jetzigen Zustand in statischer Hinsicht ausreichend standsicher. Sicherungsmaßnahmen müssen nicht getroffen werden", war das Ergebnis des Gutachtens. Man gehe in solchen Fällen immer allen Hinweisen nach, beurteile die Schäden und entscheide dann, ob Maßnahmen nötig seien, sagt ein Mitarbeiter der Stadt. Das Gebäude des historischen Archivs sei in seiner Substanz "völlig in Ordnung" gewesen. Deshalb hätte dort auch weiter gearbeitet werden können. Von einer Neigung des Gebäudes zur Severinstraße hin sei nichts bekannt gewesen. Die Leiterin des Archivs, Bettina Schmidt-Czaia, war am Dienstag für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

Stadtdirektor Kahlen betonte an der Unglücksstelle, es werde alles getan, um das Schicksal möglicher Vermisster zu klären; Kulturdezernent Georg Quander bereite Maßnahmen zur schnellen und sachgerechten Sicherung der Bestände des Archivs vor. Eberhard Illner fürchtet allerdings, dass unter Tonnen von Beton nur wenige Prozent der Bestände tatsächlich noch zu retten sind.