So entstanden die Berichte über den Einsturz des Kölner Stadtarchivs

Ein Arbeitsprotokoll von Andreas DAMM und Detlef SCHMALENBERG

Der Anruf kam an einem Montagvormittag: Er habe erfahren, dass Bauarbeiter Stahlteile von der U-Bahnbaustelle Waidmarkt gestohlen haben, meldet sich ein Informant bei dem Lokalredakteur Andreas Damm. Von der Baustelle also, die den Einsturz des Kölner Stadtarchivs ausgelöst hat. Es gebe sogar ein erstes Geständnis, sagt der Anrufer. Und die Kölner Verkehrs-Betriebe, die jetzt erhebliche Bedenken wegen der aktuellen Sicherheit der zahlreichen U-Bahn-Gruben im gesamten Stadtgebiet haben, hätten den beteiligten Bauunternehmen ein Ultimatum gestellt, die Vorwürfe aufzuklären. Ob der „Kölner Stadt-Anzeiger“ Interesse an Unterlagen habe, die diese Vorgänge belegen?

Durchatmen.

Ja, haben wir.

Wie weiter? Als erstes den Kollegen Detlef Schmalenberg anrufen, einen versierten Rechercheur für besondere Themen. Der Journalist, der zuvor schon häufiger über Details des Einsturzes berichtet hatte, hat frei an diesem Tag. Er befindet sich gerade in der Nähe von Mönchengladbach. Ich informiere ihn über mein Telefonat. Er komme in die Redaktion, sagt er.

Als Schmalenberg sich eine knappe Stunde später an seinen Schreibtisch setzt und den Computer startet, zeigt ihm Damm den Ausdruck der mittlerweile eingegangenen Mail mit den brisanten Dokumenten. Die beiden informieren die Ressortleitung und entwerfen einen Plan für diesen Tag. Zunächst prüfen sie, ob die vorliegenden Schriftstücke echt sind. Nach zwei Anrufen ist klar: Ja, sie sind echt.

Die nächsten drei, vier Stunden wird pausenlos telefoniert. Die nächsten Wochen wird teilweise bis spät in die Nacht gearbeitet. Der Informanten-Anruf vom Montag dem 8. Februar, der eine neue Welle der Berichterstattung über den Archiveinsturz einläutet, trifft die Redaktion nicht unvorbereitet. Immer wieder hatte Andreas Damm in den vergangenen Monaten vertraulich mit Entscheidungsträgern aus der Kommunalpolitik über das Thema gesprochen. Die Kommunikationswege wurden so immer kürzer, das Vertrauen wuchs. Schmalenberg hatte Kontakte zu Insidern des Kölner U-Bahn-Baus aufgebaut. Unter anderem mit diesen Quellen war es ihm gelungen, zahlreiche Details, Pannen und Ungereimtheiten aus der Unglücks-Grube aufzudecken. Für sein Feature „Das Milliardenpuzzle – Wer ist schuld am Einsturz des Kölner Stadtarchivs?“ sollte er Monate später den Theodor-Wolff-Preis erhalten.

Als die neuen Hinweise kamen, sollten sich das Know-How und die Kontakte der Reporter auszahlen. Am Nachmittag war genügend Material für eine umfangreiche Berichterstattung für die aktuelle Ausgabe vor: Blattaufmacher, Thema das Tages, Kommentar. Außerdem wurde eine Vorabmeldung für die Agenturen verfasst, die die Nachricht über Diebstahl und Pfusch beim U-Bahnbau dann bundesweit verbreiteten.

Am selben Abend wurde gemeinsam mit der Ressortleitung eine Strategie entworfen. Schmalenberg und Damm wurden von anderen Aufgaben entlastet und befassten sich ausschließlich mit dem U-Bahnbau. In den kommenden Tagen und Wochen sollte die Schlamperei am Kölner Waidmarkt zum beherrschenden Thema werden – und der Kölner Stadt-Anzeiger eine führende Rolle bei den Recherchen einnehmen. Ermuntert durch die bisherigen Veröffentlichungen, kamen immer mehr Informanten hinzu, die Neuigkeiten zu berichten wussten.

Es waren im Wesentlichen zwei Themenkomplexe, mit denen sich die Reporter beschäftigten: die Geschehnisse auf der Baustelle und ihre möglichen Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Einsturz des Archivgebäudes; außerdem ging es um die Frage nach der Verantwortung. Dazu zählten auch die organisatorischen Unzulänglichkeiten, die der Kölner Stadt-Anzeige offen legte, etwa die mangelhafte Kontrolle der Aufsichtsbehörden.

Die Liste der Merkwürdigkeiten und Vergehen beim U-Bahn-Bau wurde im Laufe der Recherche immer länger. Bei einer nachträglichen Überprüfung stellten Gutachter fest, dass bis zu 83 Prozent der Sicherungsbügel aus Eisen fehlten, die die Betonwände in den Baustellen stabilisieren sollten. Vermessungsprotokolle waren gefälscht worden, ebenso die gesetzlich vorgeschriebenen Protokolle zur verarbeiteten Betonmenge. Der Sand, die aus der U-Bahn-Baustelle Waidmarkt abgepumpt wurde, ist nicht gemessen worden. Gutachter vermuten, dass die Menge viel zu groß war und dadurch Hohlräume im Untergrund entstanden sind. Insider sprachen von „systematischen Manipulationen“. Wir veröffentlichten zahlreiche Fakten und Hinweise, die bis heute dafür sprechen, dass beim U-Bahn-Bau geschlampt, gefälscht und systematisch vertuscht wurde. Und dies auch deshalb, weil es offensichtlich niemanden interessierte. Der Kölner Stadt-Anzeiger zitierte die Aussagen einiger Bauarbeiter , die berichteten, über Monate hinweg nicht überprüft worden zu sein. Eine Bauaufsicht habe es „faktisch nicht gegeben“.

Unter dem Druck der Veröffentlichungen räumten selbst die „Kölner Verkehrs-Betriebe“ (KVB) ein, dass es erhebliche Fehler bei der Bauaufsicht gegeben hat. . Im März 2010 musste der für den U-Bahnbau zuständige Vorstand der Kölner Verkehrs-Betriebe das Unternehmen verlassen. Auch in diversen Amtsstuben wurde geschlampt: Das Kölner Umweltamt beispielsweise hatte nie geprüft, ob sich die Baufirmen beim abgepumpten Wasser an die genehmigten Höchstmengen gehalten haben. Tatsächlich wurde viel zu viel Wasser abgepumpt.

Die Frage, wie es zu dem Unglück kam, ist bis heute nicht abschließend beantwortet. Abgestimmt mit den an dem Fall beteiligten Gutachtern haben die Ermittler der Staatsanwaltschaft zahlreiche Untersuchungen veranlasst, die nach Einschätzung der meisten Experten nahelegen, der Einsturz könnte maßgeblich durch Fehler beim Bau verursacht worden sein. Etwa durch ein Loch in der Außenwand der Baugrube, das infolge fehlerhafter Montage entstanden war. Und durch illegal abgepumptes Grundwasser, mit dem Sand und Erde weggeschwemmt wurden. So könnte mit der Zeit ein Hohlraum unter dem Archiv entstanden sein, dessen Einsturz das Unglück auslöste.

Aber es gibt auch die These, dass der Einsturz durch einen spontanen „Grundbruch“, also einem explosionsartigen Wassereinbruch durch die Grubensohle verursacht wurde. Sollte sich dies bewahrheiten, wäre das Unglück womöglich ein unvorhersehbares Ereignis gewesen, das niemand zu verantworten hat. Kein Wunder also, dass es ein Sachverständiger der beteiligten Bauunternehmen ist, der diese Ursache in Betracht zieht , die nach dem jetzigen Erkenntnisstand aber als wenig wahrscheinlich erscheint. In einem Punkt sind sich die Experten einig: Um zweifelsfrei sagen zu können, wie es zum Einsturz gekommen ist, müsse die immer noch verschüttete Stelle mit dem vermuteten Seitenwand-Loch freigelegt werden. Das Landgericht Köln, beauftragt mit der zivilrechtlichen Beweissicherung, hat mittlerweile den Bau eines „Besichtigungstunnels“ angeordnet, der bis in eine Tiefe von 30 Metern führen soll. Der Bau soll demnächst beginnen und wird wohl erst im Frühjahr 2012 abgeschlossen sein.

Um unseren Lesen zu ermöglichen, sich bei dieser umfangreichen Thematik auf die Schnelle zumindest einen groben Überblick verschaffen zu können, wurde das Sonderformat „Archiveinsturz - Der Stand der Dinge“ entwickelt. Eine Seite, kompakt gegliedert, auf der in sieben Punkten der aktuelle Stand der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die vermuteten Ursachen, die aktuellen Maßnahmen und die bisher kalkulierbaren Folgen der Katastrophe kurz und bündig erklärt werden. Die Seite wird, neben der „normalen“ Berichterstattung, bei Bedarf aktualisiert und ist in den zurückliegenden Monaten bereits mehrmals erschienen.