Der ausgezeichnete Artikel

Auf dem Land sterben die Zwergschulen. Bisweilen geben jedoch nicht sinkende Schülerzahlen den Ausschlag, sondern Rivalitäten zwischen benachbarten Ortsteilen.

Von Philip Eppelsheim DÜNSEN, im März 2008

Seit Jahrzehnten frisst sich der Holzwurm durch das Gebälk der Grundschule von Dünsen. Manchen in der niedersächsischen Samtgemeinde Harpstedt gefällt das, auch wenn sie es nie zugeben würden. Denn die Dorfschule der Dünsener ist ihnen ein Dorn im Auge. Sie wären froh, wenn der Holzwurm noch mehr Schaden anrichten könnte als bisher. Doch immerhin: Das Dach ist marode, das Gebälk im Laufe der Jahre verrottet. Investitionen sind notwendig. Und so beantragte die CDU-Fraktion der südwestlich von Bremen gelegenen Samtgemeinde Harpstedt am 14. Dezember, keine Sanierungsarbeiten an der Grundschule durchzuführen. Denn angesichts der zurückgehenden Schülerzahlen sei die "Aufgabe des Schulstandortes Dünsen" zu überdenken.

Seitdem ist Dünsen mit seinen 1200 Einwohnern zu einem Sinnbild für das Schulsterben auf dem Land geworden. Gab es 1992 in Deutschland 43878 Schulen, so waren es im Schuljahr 2006/2007 nur noch 36 305. Seit 1994 geht die Zahl der Schüler in Ostdeutschland zurück, vor drei Jahren erreichte dieser "Trend" den Westen - im Schuljahr 2007/2008 besuchten rund 2,9 Millionen Schüler allgemeinbildende Schulen, 157 000 weniger als im Vorjahr.

Doch im Dünsener Schulstreit geht es nicht nur um Zahlen. Die Dünsener sind stolz auf ihre Grundschule mit den roten Ziegeln und dem Blick aufs freie Feld. Sie ist das, was ihnen geblieben ist, nachdem die Bank und die Post geschlossen haben: ein Überbleibsel aus der Zeit, als alle Dörfer noch ihre eigene Schule und eine bessere Infrastruktur hatten, bevor sich zwischen 1965 und 1974 während der kommunalen Gebietsreform aus den acht Dörfern Harpstedt, Beckeln, Colnrade, Dünsen, Groß Ippener, Kirchseelte, Prinzhöfte und Winkelsett die Samtgemeinde Harpstedt bildete. Damals schlossen die Ortschaften ihre Schulen, die Kinder gingen fortan in die Harpstedter Grundschule. Nur die Dünsener hielten an ihrer eigenen Schule fest. Nun kämpfen sie um ihre "Grundschule im Grünen", organisieren Infoabende und malen Protestplakate.

"Stirbt die Schule, stirbt das Dorf", skandiert ausgerechnet der CDU-Vorsitzende Hartmut Post. Er hat fraktionsintern gegen den Antrag zur Schließung gestimmt. "Bürgermeister der Gemeinde Dünsen" steht auf einem kleinen Schild in seinem Vorgarten. Denn bei der Diskussion um die Grundschule mit ihren sechs Lehrern und 59 Schülern geht es nicht um Parteien, sondern um Gemeindegrenzen. Deshalb sind die Fraktionen gespalten. Post ist einer, der in der Samtgemeinde groß geworden ist, der weiß, dass es manchmal nur um alte Fehden geht, dass die Alteingesessenen manches nicht vergessen können. Zum Beispiel, dass nur die Dünsener ihre Schule behalten haben und seitdem von ihr profitieren. "Was haben wir denn sonst zu bieten?

"1985 zog Briefträger Post von Prinzhöfte nach Dünsen. "Ich wollte, dass meine Töchter auch so eine schöne Schule besuchen können." Die Schule sei der Kern des zersiedelten Ortes. "Dünsen ist erst nach dem Krieg gewachsen. Vorher gab es hier doch nur sechs Bauernhöfe, das war es. Wir verkaufen Bauland. Dadurch sind wir groß geworden." An der Schule treffen sich die Dünsener. Nirgends sonst kommen sie so zahlreich zusammen. Und wie Post sind viele junge Familien nur wegen der Schule nach Dünsen gezogen. Sie macht es möglich, dass die "Zugezogenen" schnell am Dorfleben teilnehmen können - denn ansonsten ist es schwer, mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen. "Man trifft sich und geht dann zusammen in den Sportverein, den Heimatverein und den Schützenverein. Das hängt alles miteinander zusammen. Ohne Schule gibt es keinen Zusammenhalt." Post hat Angst, dass Dünsen nach einer Schulschließung zu einem "Schlafdorf" werde, so wie die Nachbargemeinden Kirchseelte und Groß Ippener. "Dann kommen Leute, die abends ihren Benz parken, im Haus verschwinden, und keiner sieht sie. So etwas will ich hier nicht." Was sei schon ein Schützenfest, zu dem niemand mehr gehe. Deshalb sei die Schule so wertvoll und in den vergangenen Jahren immer kostbarer geworden.

"Da sprechen alle über Pisa, Ministerpräsident Wulff fordert kleinere Schulen, und dann kommt so ein Antrag. Mitten im Wahlkampf war das, und ich konnte mir vom Kreisvorstand der CDU und vom Wahlkreiskandidaten anhören, was das soll", schimpft Post. Zudem seien die Kosten für die Sanierung der Schule mit 100 000 Euro zu hoch angesetzt. "Die Renovierung kostet vielleicht 60 000 Euro." Dieses Geld will die Gemeinde Dünsen bereitstellen als Signal, wie wichtig die Schule sei.

Parteifreunde von Post jedoch sind für die Schließung. Es gebe schließlich immer weniger Kinder in der Gemeinde, sagt etwa der Pressewart der CDU-Fraktion. "2008 werden 122 Kinder in der Samtgemeinde eingeschult. 2013 sollen es nur noch 69 sein." In fünf Jahren sei die Dünsener Grundschule entbehrlich. Die Grundschule in Harpstedt sei dann vollkommen ausreichend. Die anderen Orte hätten die Schulschließungen schließlich auch überlebt, und Dünsen habe doch noch seine drei Vereine. Eine andere Möglichkeit sei, auch die Kinder aus Kirchseelte, die bisher mit dem Schulbus an der Dünsener Grundschule vorbei noch fünf Kilometer weiter bis nach Harpstedt gefahren werden, in die Dünsener Grundschule zu schicken: 2013 würden dort dann voraussichtlich 18 Kinder eingeschult. Die Dünsener glauben, das sei so, weil die anderen Gemeinden auf ihre Schule neidisch seien; dass sie bereuten, ihre Schulen damals geschlossen zu haben, und nun darauf hinarbeiteten, endlich auch die Dünsener Schule zu schließen.

Wilfried Winkelmann war jahrzehntelang Schulleiter in Dünsen. 1974 zog er aufs Land, um dem Einfluss der Achtundsechziger-Bewegung zu entgehen. Schon damals kämpften die Dünsener dafür, dass "die Schule im Dorf bleibt". Dünsen war zu dieser Zeit ein wachsender Ort. Zu den Bauern hatten sich Flüchtlingsfamilien gesellt, die Gemeinde war Stützpunkt der Bundeswehr und anderer Nato-Truppen. Das Schulhaus, das die Dünsener 1951 für 13 800 Mark errichtet hatten, wurde zu klein. Die Schulbehörde forderte mehr Platz, das Land genehmigte keine Mittel. So erweiterten die Dünsener selbst den alten Ziegelbau ihrer Volksschule mit mobilen Wänden aus Spanplatten. Vier Jahre später stand die Schule wieder auf der "Abschussliste". Es fehlten Lehrkräfte. Die Gemeinde suchte in der ganzen Bundesrepublik. Schon der Schulentwicklungsplan des Jahres 1978 sah die Grundschule nicht mehr vor. "Eigentlich waren wir illegal, bis 1980 der Erlass ,Kleine Grundschule' kam.

"Winkelmann nutzte die Gunst der Stunde und beantragte den Bau einer Turnhalle. Er dachte, so könne er die Schule retten. "Wir waren wie eine große Familie", sagt Bürgermeister Post. Seine Töchter hätten von Schulleiter Winkelmann und dessen Frau, die die beiden einzigen Lehrer an der Schule waren, Werte vermittelt bekommen. Jugendgewalt gebe es hier nicht. "Privatschule", spotteten jedoch die Schulgegner aus den anderen Gemeinden.

Vor fünf Jahren hat sich Winkelmann in den Ruhestand verabschiedet; er wohnt in einem kleinen Haus gegenüber der Schule. Gemeinsam mit der derzeitigen Schulleiterin Gabi Chapus ist er zum Anwalt gegangen. Sie wollten wissen, ob sie die Schule dadurch retten könnten, dass sie aus ihr eine "Bekenntnisschule" machten. Doch der Anwalt hat ihnen gesagt, die einzige Chance sei, die Samtgemeinderatsmitglieder von der Daseinsberechtigung der Grundschule zu überzeugen. "Man greift nach jedem Strohhalm, der sich einem bietet", sagt Chapus. Sie hat die Samtgemeinderatsmitglieder eingeladen, sich die Grundschule anzuschauen und zu sehen, was Eltern und Lehrer auf die Beine gestellt haben, doch bis auf die Dünsener und die Harpstedter sind nur zwei der 29 Ratsherren gekommen. Das ist hier immer das Problem: "Für andere Gemeinden interessiert man sich nicht." Aber immerhin hat der CDU-Landtagsabgeordnete Ansgar Focke die Schule besucht. Die Kinder sangen ihm ihr "Kampflied" vor: "Lasst unsere Schule stehn, sie ist doch gut, / keiner hat was dagegen, außer die Politik." Focke sagte, dass die Landes-CDU sich für den Erhalt kleiner Schulen einsetze.

In der Dünsener Grundschule und der Turnhalle treffen sich die Vereine des Ortes, Eltern und Kinder feiern Laternen- und Sommerfeste. In einem Förderverein haben sie sich nun zusammengeschlossen, um sich für ihre Schule einzusetzen. "So einen Zusammenhalt gibt es nur auf dem Dorf", sagt Stefani Hehr. Vor 13 Jahren zog sie von Wiesbaden nach Dünsen. Damals sei es ihr - wie den anderen zugezogenen Familien - wichtig gewesen, dass eine Schule in der Nähe liegt. Zwei ihrer Kinder haben die Grundschule besucht, das dritte ist dort in der zweiten Klasse. Seit sechs Jahren ist Hehr Sprecherin der Elternschaft. Sie hat wie Bürgermeister Post das Gefühl, dass Dünsen allmählich sterbe, dass versucht werde, dem Dorf seinen Mittelpunkt zu nehmen. "Bitter ist, dass es eigentlich gar nicht um die Schule geht, sondern um ländliches Miteinander." Ein Großteil der Gemeinderatsmitglieder sei in der Gegend aufgewachsen. "Jedes Dorf hier neidet dem anderen einen angeblichen Vorteil; um ihre Ortsgrenzen haben sie Stacheldraht." Deshalb könnten und wollten die anderen Orte nicht verstehen, was die Schule für Dünsen bedeute. "Es gibt acht Gemeinden und sieben freiwillige Feuerwehren. Das sind dort die sozialen Treffpunkte. Dünsen hat keine Feuerwehr. Hier ist es die Schule."Der Schulausschuss des Gemeinderats hat die Empfehlung ausgesprochen, die Grundschule zumindest für vier bis fünf Jahre zu erhalten, jedoch nicht den Schulbezirk zu ändern. An diesem Montag wird der Gemeinderat über das Schicksal der Grundschule entscheiden. Der Bürgermeister der Samtgemeinde, Cordes, hat das Gefühl, dass es für die Dünsener gut ausgehen könnte: "Langsam kippt die Stimmung." Doch sicher ist er sich nicht.

 

abgedruckt in der Frankfurter Allgemeine Zeitung / Sonntagszeitung vom 10.3.2008, Seite 4