Süddeutsche Zeitung, 14.01.2005

von Nicolas RICHTER

Reise in die Dunkelheit

Er wollte nach Mazedonien und landete in einem Gefängnis in Afghanistan: „Hier gibt es keine Gesetze“

Ulm , 13. Januar – Am Ende einer langen Reise, die ihn fast in den Tod geführt hatte, drehte Khaled el-Masri am Mittag des 29. Mai 2004 den Schlüssel im Schloss seiner Wohnungstür. Fünf Monate vorher hatte er sein Zuhause in Neu-Ulm verlassen, damals wollte er nur ein paar Tage weg. Doch er geriet in die Fänge einer Großmacht. Sie ließ ihn verschwinden, einfach so. Nicht ein einziges Mal hat er nach eigener Aussage in dieser Zeit mit seiner Familie reden dürfen, nicht mit seiner Frau Aischa, nicht mit den vier Söhnen. Niemand wusste, warum er nicht wiederkam. Als er am 29. Mai in sein früheres Leben zurückkehren wollte, war davon offenbar nichts übrig: In der Wohnung standen Umzugskisten, die Luft roch abgestanden, als seien sie alle schon lange weg.

Freunde erzählten ihm, seine Frau sei zurückgekehrt in ihre gemeinsame Heimat, in den Libanon. Sie hatte das Auto verkauft, um die Reise zu bezahlen. Khaled el-Masri war am 31. Dezember 2003 aufgebrochen, er wollte ein paar Tage allein sein, wie er sagt. Er stieg in einen Reisebus nach Skopje in Mazedonien, es ist billig dort, und er wollte eine kurze Auszeit nehmen. Gegen 15 Uhr geriet er an der mazedonischen Grenze in die Mühlen des weltweiten Anti-Terror-Kampfes, der offenbar keine Gesetze und Regeln mehr kennt. Die Zöllner konfiszierten seinen deutschen Pass, der Bus fuhr ohne ihn weiter. Bewaffnete Sicherheitsbeamte nahmen ihn mit auf die Wache und stellten Fragen: „Haben Sie Verbindungen zu al-Qaida?“ – „Sind Sie ein strenggläubiger Muslim?“ – „Wie oft beten Sie am Tag?“. Am späten Abend fuhren sie ihn nach Skopje in ein Hotel.

Im Zimmer fragte er: „Bleibt ihr etwa hier?“

„Ja, aber du kannst schlafen.“

„Bin ich verhaftet?“

„Siehst du irgendwo Handschellen?“

Drei Wochen sollen sie ihn dort festgehalten haben. Er durfte nur vom Bett zum Klo und zurück, wie er erzählt. Seine Bewacher fragten nach al-Qaida und anderen Islamistengruppen. „Sie boten mir einen Deal an: Ich sollte unterschreiben, dass ich bei al-Qaida bin“, sagt er, „dann wollten sie mich gehen lassen“. Er lehnte ab.


Grausames System

Also wurde er den amerikanischen Agenten übergeben. Diese flogen ihn nach Afghanistan, in die Hauptstadt Kabul. Mehr als vier Monate lang vegetierte er dort in einer Gefängniszelle. Immer wieder verhörte man ihn, immer wieder ging es um Terrorismus. Aus Protest gegen seine Peiniger hungerte sich Khaled el-Masri nach eigenen Worten fast zu Tode, nach seiner Rückkehr zeigte er sie an. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft München wegen Verschleppung unter dem Aktenzeichen 111 U Js 715051 / 04 – gegen Unbekannt. Gegen Unbekannte, die für ausländische Geheimdienste arbeiten. „Wir müssen jetzt Personen ausmachen“, sagt Staatsanwalt Martin Hofmann, „erst dann wissen wir, welches System dahinter steckt“.

Das System wird von den Amerikanern rendition genannt und besteht darin, dass der US-Geheimdienst CIA Terrorverdächtige weltweit verschiebt, wie Schachfiguren, um sie dort verhören oder weichklopfen zu lassen, wo es keine Schranken gibt für das Verhören und Weichklopfen. Ägypten. Syrien. Pakistan. Afghanistan. CIA-Beamte haben vor dem US-Kongress bejaht, dass dies gängige Praxis ist. US-Präsident Bill Clinton soll es per Dekret erlaubt, sein Nachfolger George W. Bush soll es bestätigt haben. Natürlich nicht offiziell. „Das ist das Outsourcing von Folter“, empörte sich im Sommer 2004 der US-Abgeordnete Edward Markey – als ließe man lästige Arbeit von einer Fremdfirma erledigen. Besser und billiger. „Moralisch gesehen“, fand Markey, „ist es widerwärtig.“

Wie grausam das System ist, bestätigen in jüngster Zeit auch die Opfer. Der Australier Mamdouh Habib zum Beispiel, der offenbar von der CIA nach Ägypten verschleppt und dort ein halbes Jahr lang gefoltert wurde, hat seinen Leidensweg in einer Zivilklage gegen die US-Regierung, Nummer 02-CV-1130, geschildert. Er erzählt von Schlägen, Stromstößen, bissigen Hunden – er habe mehrere Geständnisse unterschrieben, in der Hoffnung, den Qualen ein Ende zu setzen. Ein anderes mutmaßliches Opfer ist Maher Arar, ein syrischstämmiger Kanadier. Er behauptet, dass er in New York verschleppt und in Syrien misshandelt wurde. Die Opfer bekommen ein Gesicht.
Khaled el-Masri aus Ulm, ein gebürtiger Libanese, ist 41 Jahre alt. Er ist von bulliger Statur, hat sein dünnes schwarzes Haar mit Gel nach hinten gekämmt. Seit längerem ist er arbeitslos, früher hat er mit Autos gehandelt. Er ist kein Mann großer Gesten, eher langsam und ein bisschen traurig. Er erzählt seine Geschichte leise, präzise und äußerst detailliert. Vier Stunden braucht er dafür. Hartnäckig wie ein Pflug durchgräbt er wieder diese Erinnerungen.

Als er Ende Januar vorigen Jahres das Hotel in Skopje verließ, sah er noch einen Geländewagen und einen weißen Bus, dann wurden ihm die Augen verbunden. Nach einer halben Stunde hörte er den Lärm von Flugzeugen. Irgendwo auf dem Flughafen von Skopje sollen seine Bewacher auf ihn eingeschlagen haben, dann spürte er Metall auf der Haut, es war wohl eine Schere, mit der sie ihm die Kleider vom Leib schnitten. Das deckt sich mit der Erzählung des Australiers Habib, dem ebenfalls – in Handschellen – die Kleider abgeschnitten wurden. El-Masri war jetzt nackt und hörte Geräusche, die er als Klicken von Fotoapparaten deutete. Seine Entführer nahmen ihm die Augenbinde ab, und er sah sieben bis acht Männer, alle waren schwarz vermummt, mit Gesichtsmasken.

Sie verpackten ihn für den Flug. Er erinnert sich an eine Windelhose, es folgte ein blauer Trainingsanzug, weiße Sportsocken. Um die Taille ein Gurt, an dem sie seine Hände festschnallten, Ohrenstöpsel, ein Kopfhörer und dann noch ein Sack über dem Kopf. Im Flugzeug wurde er am Boden befestigt. Er spürte die Nadel einer Spritze in der rechten Schulter. „Dann war ich weg.“

Als er wieder zu sich kam, erkannte er ein schmutziges Kellerverlies, an die Wand hatte jemand arabische Schriftzeichen geschmiert und ein paar Koransuren. Durch ein Loch oben in der Wand, etwa 40 mal 70 Zentimeter groß und fast ganz von einem Blech bedeckt, fiel rötliches Abendlicht in seine Zelle, er rechnete aus, dass er fast 24 Stunden betäubt gewesen war. Der Durst quälte ihn, und ein Wärter zeigte auf eine Plastikflasche. „Es sah aus wie das Wasser aus einem Aquarium, das zehn Jahre nicht gereinigt wurde“, sagt el-Masri. Er habe sich die Nase zugehalten beim Trinken. Nach dem ersten Schluck wurde ihm übel.

Die ersten Vernehmungen führte nach el-Masris Erzählung ein maskierter Libanese, der neben Arabisch auch perfekt Englisch sprach. Er war aggressiv. „Weißt du, wo du bist?“, fauchte er, und el-Masri, der es im Gespräch mit den afghanischen Gefängniswärtern herausgefunden hatte, sagte: „Ja, in Kabul.“

„Hier gibt es keine Gesetze, und niemand weiß, wo du bist“, fuhr der Vernehmer fort. „Weißt du, was das heißt?“

„Ja, ich weiß es“, will el-Masri gesagt haben. Natürlich wusste er es. Wenn hier einer gequält wurde und starb – wer sollte das schon ahnden? Schon in Skopje, als sie ihn tagelang im Hotel festhielten, hatte ihn das Gefühl beschlichen, „dass ich wirklich in Schwierigkeiten bin“.

Wenigstens wurden die Fragen bald konkreter. Die Verhöre leiteten jetzt zwei Amerikaner, die ohne Masken auftraten. Einer soll ein Psychologe gewesen sein, der andere der Leiter des Gefängnisses. Er trug Zivilkleider, eine kugelsichere Weste und mehrere Funkgeräte. Ein palästinensischer Dolmetscher begleitete die beiden. Sie fragten el-Masri nach der Ulmer Islamistenszene, die besonders aktiv sein soll und erst in dieser Woche wieder Ziel einer Großrazzia war. Wurde dort Geld gesammelt? Wer war in Tschetschenien? Sie fragten nach seinen Bekannten in der Moschee des Neu-Ulmer Multikulturhauses, nach dem mutmaßlichen Extremisten Reda Seyam. El-Masri kannte ihn. Sie waren öfter mal zusammen zu Metro gefahren und hatten Fisch eingekauft.


Schwarze Punkte vorm Auge

Die Wochen vergingen, ohne dass el-Masri verstand, was ihm eigentlich vorgeworfen wurde. Gleichzeitig wuchs die Abscheu. Am 5. März trat er mit anderen Häftlingen in einen Hungerstreik, sie weigerten sich, trübes Wasser zu trinken und an ausgekochten Hühnerknochen zu nagen. „Das Essen roch ekelhaft“, sagt er. Zu den Hühnerresten gab es Brot und verwelkte Radieschenblätter. Er wollte lieber sterben, als diese Demütigung zu ertragen.

Nach einer Woche verlor Khaled el-Masri die Nerven. Unter dem Loch in der Kellerwand schrie er:

„Allahu akbar! Gott ist groß! Seht doch, ihr Afghanen, was die Amerikaner mit uns machen, nur weil wir Muslime sind!“

Weitere Tage vergingen.

Der Gefängnisleiter schien sich Sorgen zu machen. Er soll einmal gesagt haben: „Ich war von Anfang an der Meinung, dass du nicht hierher gehörst.“ Doch er müsse mit Washington verhandeln, und das könne dauern. Immer wieder versprach er dem Deutschen, ihn bald freizulassen. El-Masri sagt, er habe den Amerikaner angeschrien: „Ihr seid die wahren Terroristen, seht, wie ihr mit uns umgeht!“ Er habe seine Entführer vor die Wahl gestellt: Entweder mit einem deutschen Vertreter reden oder Freilassung oder Verlegung in die USA. Oder: Hungertod.

Am 34. Tag des Hungerstreiks konnte er nicht mehr aufstehen. Er sah nach eigenen Worten nur noch schwarze Punkte. Ein Arzt verabreichte ihm Nährlösung durch eine Nasensonde. Man versprach ihm die Freiheit, bald.

Am Ende der renditions versuchen die Geheimdienste meist, ihre geschundenen Opfer wieder so herzustellen, dass sie draußen präsentabel sind. Der in Ägypten gefolterte Australier berichtete, er habe am Ende Fleisch, Süßigkeiten und Kaffee bekommen, seine Wunden seien behandelt worden. El-Masri sagt, sie hätten ihm Thunfisch, Oliven und Käse gebracht und sogar gegrilltes Fleisch.

Die anderen Häftlinge bekamen nichts. Manche hatten erzählt, sie seien gefoltert worden, nicht hier, aber in anderen Gefängnissen. El-Masris Zellennachbar, ein Mann aus Tansania, litt unter Haft und Hungerstreik besonders. „Der schlug schon seinen Kopf gegen die Wand“, sagt el-Masri. Er kann nicht weiter reden, seine Lippen zittern. Er hält inne und wischt sich Tränen aus den Augen, dann flüstert er: „Es ging ihm wirklich sehr schlecht.“

Es fällt schwer zu glauben in diesem Moment, dass er diese Geschichte erfunden haben könnte. Sein Anwalt Manfred Gnjidic und Staatsanwalt Martin Hofmann glauben jedenfalls nicht, dass es sich hier um einen Hochstapler und Wichtigtuer handelt. Hofmann hat el-Masri zwar nie getroffen, aber er kennt die Vernehmungsprotokolle der Polizei. Zwei Tage lang haben ihn die Beamten vernommen, 17 Stunden lang. „Er macht uns wohl nichts vor“, sagt Hofmann, dafür sei die Erzählung zu schlüssig und detailliert. „Außerdem nennt er Details, die nachprüfbar sind.“ Der Busfahrer hat zum Beispiel bestätigt, dass el-Masri an jenem Tag mitreiste – bis zur mazedonischen Grenze. Doch der afghanische Teil dieses abenteuerlichen Berichts entzieht sich naturgemäß bislang den Ermittlern.


Die Täter haben keine Namen.

Am 28. Mai, erinnert sich el-Masri, fesselten sie ihn wieder und zogen ihm einen Sack über den Kopf. Doch dieses Mal sollte er heimreisen. Wochen zuvor war ein Mann erschienen, der sich als „Sam“ vorstellte. El-Masri sagt, es sei ein Norddeutscher gewesen, der sich nicht vermummt habe. Er habe nicht gesagt, ob er für die Bundesregierung arbeite. Er habe gesagt, el-Masris Familie wisse nichts von seinem Aufenthaltsort. Und: „Die Amerikaner wollen nicht zugeben, dass du bei ihnen warst. Der Heimweg wird deswegen etwas komplizierter.“ Am Flughafen bekam el-Masri sein Gepäck und seinen Pass zurück.

Seine Begleiter, unter ihnen der Deutsche „Sam“, setzten ihn, wie immer mit verbundenen Augen, in eine kleine Maschine. Sie hörte sich dem Motorengeräusch nach an wie ein Minijet. War es das Kleinflugzeug, das die CIA speziell für geheime Gefangenentransporte einsetzen soll? Es handelt sich dabei um eine Gulfstream V Turbojet mit dem Kennzeichen N379P. Die Maschine wurde auf vielen Flughäfen der Welt gesehen.


Nur eine Verwechslung?

Nach der Landung ging es in einem Minibus bergauf, bergab, über unzählige Schlaglöcher. Schließlich sollte der Gefangene aussteigen und einem Weg folgen, allein. Er dachte nach eigener Aussage, sie würden ihn nun von hinten erschießen. Doch bald traf er auf albanische Grenzsoldaten. „Wo bin ich hier überhaupt?“, fragte er. Sie lachten ihn aus, als er sagte, er sei nach Afghanistan verschleppt worden. Aber sie wussten offensichtlich Bescheid.

Sie gaben ihm Essen in einer Plastiktüte, stempelten seinen Pass und brachten ihn nach Tirana. Von dort flog er nach Frankfurt am Main.

Khaled el-Masri wirkt, als ruhe er in sich. Seine Familie ist zu ihm zurückgekehrt. Aber er sagt, seit der Zeit in Afghanistan sei er ständig gereizt. Er habe nicht mehr die Geduld, den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Wenn er in einer Tiefgarage stehe oder im Keller, sagt er, fühle er sich „komisch und traurig“, dann gehe er schnell wieder hinaus ins Freie.
Seine Peiniger haben die Spuren ihrer Aktivitäten sorgfältig verwischt. Er kann nur vermuten, wo die Maschine aus Kabul auf dem Rückflug gelandet ist. Auch ist noch immer unklar, warum ausgerechnet er aufgegriffen wurde. Womöglich handelt es sich sogar um eine Verwechslung. Es gibt viele el-Masris, auch bei al-Qaida. Ein Mann namens Khalid al-Masri, so hat es die Washingtoner 9/11-Kommission berichtet, soll die späteren Hamburger Todespiloten bei einer Zugfahrt in Deutschland dazu bewegt haben, nach Afghanistan zu reisen. Von dem mysteriösen Fremden ist kaum etwas bekannt. El-Masri sagt allerdings, er sei nach dieser angeblichen Begegnung im Zug überhaupt nicht gefragt worden.

„Das sind halt Geheimdienste. Die dürfen alles“, sagt er resigniert. „Auch unter die Gürtellinie schlagen.“

Der Münchner Staatsanwalt Martin Hofmann will sich nicht geschlagen geben. „Wir tun alles, was wir können“, sagt er. Er wird Rechtshilfeersuchen an die beteiligten Staaten schicken, obwohl die kaum an der Aufklärung interessiert sein können. Die deutschen

Sicherheitsbehörden haben bereits erklärt, dass der Agent „Sam“ nicht zu ihren Leuten gehört. In der Sache gab es auch schon eine formlose Anfrage an die US-Bundespolizei FBI. „Bislang“, sagt Hofmann, „gibt es keine befriedigende Antwort.“