Die vielen Berichte der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ) 2005 bis 2007, 19.12.2005

von Ulrich Wangemann

Aufstand des Gewissens

Märkische Allgemeine Zeitung (MAZ) , 19.12.2013

Mag sein, dass der Chef von Deutschlands zweitgrößtem Fleischkonzern sich nicht um Kleinigkeiten in der ostdeutschen Provinz kümmert. Die Vorgänge in der Brandenburger Fleischfabrik Disselhoff Sachsenkrone müssten den mächtigen Schalker aber interessieren: Clemens Tönnies ist dort als Geschäftsführer eingetragen. In Brandenburg mucken Leute auf, die sonst für fünf Euro in der Stunde den Häcksler füttern, Schwarten abschneiden, die Marinadepistole bedienen und den Mund halten. Den Anfang machte vor zwei Wochen der entlassene Maschinenreiniger Klaus Grabitz: Er erzählte von stinkenden Nackensteaks, umdatierten Etiketten und Fleisch, das jahrelang im Kühlhaus lagerte – bis zur Auslieferung an Supermärkte in ganz Deutschland. (MAZ berichtete).

Seither hat sich etwas Erstaunliches formiert in der Havelstadt: Ein kleiner Aufstand des Gewissens, der in krassem Gegensatz zur Schlafmützigkeit der Behörden und der Unwilligkeit der Stadtregierung steht, sich mit einem großen Unternehmen anzulegen.

„Gut, dass der Klaus die Wahrheit ausgesprochen hat, jetzt trauen sich auch andere“, sagt Monika Makus, bis 2003 Fleischpackerin in dem Tönnies-Tochterunternehmen. Sie ist eine der Arbeiterinnen, die sich wie Grabitz an die Öffentlichkeit wenden. Sechs belastende Aussagen von aktuellen oder ehemaligen Betriebsangehörigen liegen mittlerweile der MAZ und dem ARD-Politmagazin „Report Mainz“ vor. Auch die neuen Augenzeugen berichten Ekel Erregendes, das offenbar nur mit Galgenhumor zu ertragen war: „Ich rief der Kollegin zu, jetzt kommt eine besonders dicke Eiterbeule – da gibt's beim Grillen dann ein großes Loch!“, erzählt die 42-Jährige. Ehemann Lutz Makus – er bediente die Hackmaschine und das Einschweißgerät – erinnert sich an Lieferungen von angenagtem Tönnies-Fleisch, auf dem Rattenkötel geklebt hätten. Generell, so Monika Makus, habe beim Verpacken problematischer Lieferungen das Prinzip gegolten: „Eine Scheibe von dem Guten, eine von dem Vergammelten. Wer nicht wollte, bekam einen Anpfiff.“

Einen einzigen Tag schaute sich Michael Behrendt im Sommer 2004 die Disselhoff-Praktiken an. „Es hat eklig gestunken, das Zeug, das wir auspacken mussten, hatte braune Stellen und Gefrierbrand – es wurde wieder eingepackt.“ Behrendt beschwerte sich bei der Zeitarbeitsfirma, die ihn angestellt hatte: „Meine Familie kauft das Zeug im Supermarkt, ich mache das nicht mehr mit.“

Während Disselhoffs Fünf-Euro-Jobber trotz drohender Verleumdungsklagen den Aufstand proben, wollen sich die Behörden offenbar nicht mit dem Fleischbetrieb anlegen. Die Staatsanwaltschaft Potsdam wird das Ermittlungsverfahren gegen Disselhoff nach MAZ-Informationen voraussichtlich einstellen. Das städtische Veterinäramt, auf dessen Erkenntnisse sich die Strafverfolger stützen, ließ sich sogar auf eine Art Rechtfertigungs-Pressekonferenz in der Fabrik ein: Motto: „Nie waren unsere Lebensmittel sicherer als heute.“

Dabei hat es nie an gegenteiligen Hinweisen gemangelt. Im Juni 2005 offenbarte sich der Kühlhausmeister dem Amt, weil er nicht mehr vertreten konnte, was er zu verantworten hatte: „Seit 2004 gibt es Unregelmäßigkeiten bei innerbetrieblichen Regelungen“, diktierte er einer Amtsärztin ins Protokoll. Immer wieder sei gegen den „International Food Standard“ (IFS), ein Regelwerk, dem Disselhoff verpflichtet ist, verstoßen worden. Der Vorwurf ist von Bedeutung, denn die Handelsketten streichen IFS-Sünder aus ihren Lieferantenlisten.

Besonders alarmiert hat der Bericht des Kühlhaus-Chefs die Lebensmittelbehörde offenbar nicht. Statt den Betrieb auf der Suche nach Verdorbenem auf den Kopf zu stellen, verließ sich das Amt weitgehend auf die so genannte Eigenkontrolle des Unternehmens – ein System, das Fachleute für ein Geschenk an alle Gammelfleischhändler halten. Für den Brandenburger Betrieb bedeutete das: Amtstierarzt Knut Große kontrollierte nur Papiere, die ihm das Unternehmen vorlegte – und die waren nach Informationen der MAZ teilweise gefälscht.

So maß man bei Disselhoff zwar vorschriftsmäßig die Temperatur jeder eingehenden Lieferung – zu warmes Fleisch ist ein idealer Nährboden für Salmonellen. Im offiziellen Protokoll fürs Gesundheitsamt tauchen aber beanstandete Messwerte nicht mehr auf. So gingen am 18. Juli 2005 drei Tonnen Putenschnitzel in Brandenburg ein, die mindestens ein Grad wärmer waren als vorgeschrieben. In den Unterlagen fürs Amt stimmen die Zahlen plötzlich wieder. Allerdings ist der Trick aktenkundig. Die mit der Warenannahme befassten Mitarbeiter legten sich zur eigenen Absicherung eine geheime Akte an. Sie liegt der MAZ in Auszügen vor.

Kein Wunder, dass der städtische Fleischbeschauer „nur kleine Auffälligkeiten ohne gesundheitliche Relevanz“ bemerkte. Eigene Fleischproben hat Knut Große nicht genommen. „Wir sind angewiesen auf die Papierform, wir können nur die Plausibilität der Angaben prüfen“, sagt er und fügt hinzu: „Wir können nicht davon ausgehen, dass alle unsere Lebensmittelbetriebevk kriminell sind.“ Unverblümter drückt sich Großes Vorgesetzte, Oberbürgermeisterin Dietlind Tiemann (CDU), aus. Verschiedene Vorgänge seien „zu einem Fleischskandal hochstilisiert“ worden, kritisierte sie. Man müsse bedenken, dass es um ein Unternehmen gehe, „das in unserer Stadt ansässig ist“.

Derart freundlich unterstützt, will Tönnies den Fall offenbar aussitzen – und die Aussagen der Fleischpacker und des Kühlhausmeisters madig machen. Das Umetikettieren von Fleisch sei „nicht verboten, wenn die Ware eindeutig in Ordnung ist“. Die Vorwürfe gegen sein Unternehmen seien „eine Kampagne aus dem Arbeitnehmerbereich“. Das Unternehmen gehe dagegen gerichtlich vor. „Bei Disselhoff ist alles in Ordnung, da wird auch kein Gammelfleisch umetikettiert, sondern wir handeln dort gesetzeskonform“, sagte Clemens Tönnies noch am Freitag. Man müsse „die schwarzen Schafe rausventilieren und drakonisch bestrafen, dafür bin ich!“

In der Tat nimmt Tönnies Hinweise besorgter Mitarbeiter sehr ernst: Am Freitag kündigte die Firma fristlos zwei Angestellten. Einer davon ist der Brandenburger Kühlhausmeister.