Die Kubakrise. Wie sie die SPIEGEL-Affäre beeinflusst

Einer der dramatischsten Ereignisse des Kalten Krieges war die Kubakrise 1962. Sie hätte fast in einen dritten Weltkrieg und dann vermutlich in den Atomtod für unzählige Menschen geführt.
Die beiden größten Probleme bei der Bewältigung dieser Krise:

  • Beide Seiten, die Repräsentanten der USA und der UdSSR, hatten die Vorgänge nicht immer unter Kontrolle. Und manchmal entglitten ihnen die Befehlsstrukturen auf den unteren militärischen Ebenen.
  • Zwischen Ost und West gab es keinerlei geregelte Kommunikation für den Ernstfall. Das sogenannte "Rote Telefon" wurde erst danach vereinbart.

Diese militärische Krise lief auf ihrem Höhepunkt vor allem an zwei Tagen parallel zur sogenannten SPIEGEL-Affäre: Just an dem Tag, als die Bonner Staatsmacht in die SPIEGEL-Redaktion einmarschierte: am Freitag, den 26. Oktober 1962:

In der Karibik beschatten US-Militärfluzeuge und Jagdbomber ein sowjetisches U-Boot vor Kuba, das auftauchen musste (siehe Foto) - in Hamburg wird DER SPIEGEL besetzt (Foto). Tags drauf, als sich Rudolf AUGSTEIN am Samstag freiwillig stellte, und mit seiner 'Hilfe' die Bundesanwaltschaft alles gezielter durchsuchen konnte, erreichte die Kuba-Krise ihren Höhepunkt: Weil es keinerlei offiziellen Kommunikationskanäle gab, tauschten CHRUSCHTSCHOW und KENNEDY ihre Botschaften und Signale, gegebenenfalls einlenken zu wollen, über 2 Radiosender aus.

Für den Rest der Welt und damit auch für alle Nato-Verbündeten wurden die bisherigen militärischen Vorbereitungen auf Kuba erst knapp fünf Tage zuvor bekannt (um Mitternacht Montag auf Dienstag, 22./23. Oktober). Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die USA alles geheim gehalten. Insofern erklären die weltpolitischen Ereignisse nur einen Teil der Hektik und Nervosität auf Seiten der staatlichen Macht im Zusammenhang mit dem Vorwurf des "Landesverrats" durch das Hamburger Nachrichtenmagazin. Die Aktion selbst war zu diesem Zeitpunkt längst durchgeplant.

Wir skizzieren zunächst die Entwicklungen seit 1945 bis 1961. Dann dokumentieren wir den Ablauf dieser Krise im Detail. Parallel dazu die zeitgleichen Vorgänge, die letztlich in der SPIEGEL-Affäre enden.

Deutschland und der Rest der Welt 1945 bis 1961

Nachdem das vom "Größten Führer aller Zeiten" ausgerufene "Tausenjährige Reich" nach knapp 13 Jahren in Schutt und Asche geendet hatte, begann 1945 die sogenannte Stunde Null. Allerdings in unterschiedlicher Weise:

  • Für die Presse war es - nachträglich - ein Segen, dass die westlichen Alliierten in ihren Zonen allen Zeitungsverlegern und Medienmachern das Handwerk legten, die das nationalsozialistische System mitgetragen und publizistisch begleitet hatten. Statt dessen setzten die USA, Großbritannien und Frankreich Menschen als Zeitungsverleger ein, die eine "weiße Weste" hatten und/oder im Widerstand waren. Geld und Kapital spielten keine Rolle, allenfalls ein wenig Know-how im Journalistischen. Im Bereich der Medien und der Presse begann tatsächlich eine "Stunde Null".
  • Für viele andere bedeutet die "Stunde Null" nur eine Umstellung der Zeitrechnung. Und für viele war es sogar der Beginn einer "Zweiten Karriere". Manchmal unter anderer Identität, meistens aber unter dem ganz normalen Namen. Denn das nationalsozialistische Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftssystem bestand nicht nur aus einigen wenigen Nazis (3 x "H", 2 x "G"). Vielmehr stützte sich der NS-Staat auf die breite Masse der Bevölkerung, die den Weg in den "totalen Krieg" bis zuletzt mitgegangen war. Und auch schon zu Beginn im Jahre 1933 hatten nur sehr wenige die Courage, den brutalen Übergriffen auf Menschen anderer Religion oder Rasse entgegen zu treten. Die (aller)meisten zogen es vor, die Umstände als gegeben hinzunehmen und sich entweder anzupassen oder a-politisch zu verhalten. Leichtes Spiel für totalitäre Führer, ihren Größenwahn auszuleben.


So wurde 1945 nicht nur Deutschland aufgeteilt, sondern auch ein Teil der restlichen Welt. Waren sich die Siegermächte bzw. ROOSEVELT, CHURCHILL und STALIN, auf der Konferenz von Jalta (Februar 1945) und im August 1945 in Potsdam (TRUMAN, CHURCHILL, STALIN) über die künftige Weltordung noch einig, so zerfiel auch dieses politische Agreement schnell in zwei Lager: in Ost und West. Damit begann das, was wir als "Kalten Krieg" bezeichnen, der bis 1989/1990 dauern sollte.

Die USA, die Deutschland politisch und wirtschaftlich möglichst klein und schwach halten wollten, um ein national(istisch)es Wiedererstarken zu verhindern, mussten sich jetzt die Bundesrepublik als Partner gewinnen. Um die "Generation Schlussstrich" für sich einzunehmen, legten die Amerikaner auf der einen Seite ein gigantisches Wiederaufbau mit US-Geldern auf (Marshall-Plan), auf der anderen Seite wurden mehrere Kriegsverbrecher-Prozesse in Nürnberg schnell und/oder vorzeitig beendet. Z.B. der sog. Wilhelmstrassenprozess. Einer der Profiteure: Der Vorstandschef der Dresdner Bank, Karl RASCHE, der das Finanzinstitut zur Hausbank der "SS" gemacht hatte. Oder auch Carl GOETZ, der Aufsichtsratsvorsitzende dieser Bank. Er bekam 1956 das Bundesverdienstkreuz zuerkannt: "für seine Verdienste um die deutsche Wirtschaft" (mehr unter Die SS, KZ's und die Dresdner Bank).

Ansonsten brannte es auf der Welt an allen Ecken und Enden:

  • 1949 der erste arabisch-israelische Krieg unmittelbar nach der Gründung Israels
  • 1950 engagierten sich die USA im Korea-Krieg
  • danach mussten die USA Frankreich in (Süd)Vietnam unterstützen, weil De GAULLE sein Kolonie nicht aufgeben wollte
  • 1956 walzten sowjetische Truppen einen Aufstand in Ungarn nieder
  • auf dem afrikanischen Kontinent tobten Unabhängigkeits- und Bürgerkriege, die meistens Stellvertreterkriege für die beiden Weltmächte sind (So hatte z.B. US-Präsident EISENHOWER die CIA angewiesen, den Ministerpräsidenten des unabhängig gewordenen Kongo, LUMUMBA, zu ermorden. Dessen Nachfolger wurde dann der korrupte MOBUTU)
  • u.a.m. ...

1958 hieß im östlichen Teil der Hemisphere der neue 'Chef' der Sowjetunion Nikita CHRUSCHTSCHOW - er war jetzt zugleich Partei- und Staatschef des riesigen Reichs. Gleich zu Beginn wollte er ultimativ den Viermächte-Status von Berlin in Frage stellen - der Westteil der Stadt war für den Ostblock wie ein Pfahl im Fleisch. Die drei Westalliierten standen klar zu Berlin/West und gaben keinen Deut nach. Ein anschließender erster Besuch beim US-Präsidenten EISENHOWER 1959 fiel freundlich aus. Doch als ein Jahr später ein amerikanisches Spionageflugzeug vom Typ "U 2" über sowjetischem Territorium abgeschossen wurde, begann CHRUSCHTSCHOW zu toben - u.a. vor der UNO.

Der Kalte Krieg zwischen Ost und West hatte einen weiteren 'Höhepunkt' bzw. kältemäßig gesehen: Tiefpunkt erreicht.

Und jetzt zur "Kuba-Krise":

Das Jahr 1961: USA und Kuba

Seit Januar 1961 heißt der neue Präsident der USA John F. KENNEDY. Er hatte neun Monate zuvor knapp gegen Richard NIXON gesiegt. Mit seinen seinen 43 Jahren ist der Demokrat vergleichsweise jung und gibt sich gerne dynamisch.

Was Kuba betrifft, so muss er die politische Suppe seines Vorgängers EISENHOWER auslöffeln. EISENHOWER hatte den Diktator BATISTA unterstützt, doch der war 1959 vom Revolutionär Fidel CASTRO mit seinen Gruppen aus dem Lande vertrieben worden. Als CASTRO um wirtschaftliche Hilfe in Form eines Darlehens nachfragt, lehnen die USA ab. Statt dessen organisieren sie einen totalen Wirtschafts- und Handelsboykott. Jetzt ist der Osten am Zug - die Sowjetunion nimmt diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Kuba auf.

Dies wiederum wurmt nicht nur die geflohenen Kubaner, sondern jetzt auch KENNEDY:

  • Eines seiner ersten Abenteuer im April endet im totalen Desaster: die Invasion in der Schweinebucht auf Kuba.
    Exilkubaner in den USA, die es nach der Revolution vorgezogen hatten, ihr Vermögen und ihre Reichtümer auf der Insel zurückzulassen, wollten gerne wieder zurück: indem sie Fidel CASTRO stürzten. Da die USA offiziell damit nichts zu tun haben wollte und der Meinung war, dass dies ein kleiner militärischer Spaziergang sei, gab sie grünes Licht und gewährte Unterstützung durch die CIA. Der Plan: US-Bomber vom Typ "B 26" mit kubanischen Hoheitszeichen bombardieren drei wichtige Flugplätze - es soll nach einer Konterrevolution auf Kuba aussehen, damit die nachlandende und in Miami zusammengestellte Exilregierung die USA ganz offiziell um militärische Untsertützung bitten könne.
    Das misslingt - mehrere der US-Bomber werden abgeschossen. Als 2 Tage später rund 1.300 Exilanten der "Brigade 2506" in der Schweinebucht landen, die zwar logistische Unterstützung seitens der US-Navy haben und von zwei CIA-Experten dirigiert werden, geht auch das schief. Die Munitionsschiffe werden durch kubanische Flugzeuge versenkt, die angelandeten Truppen systematisch aufgerieben. Kuba nimmt 1.000 Exilkubaner bzw. US-Bürger gefangen.
    KENNEDY lässt vor der UNO erst jede amerikanische Beteiligung abstreiten, dann macht er eine Kehrtwende und übernimmt die Verantwortung. Erreicht wird das Gegenteil: Fidel CASTRO ist politisch gestärkt, die USA geschwächt. Ganz Lateinamerika solidarisiert sich mit den Kubanern.
  • In Wien - auf neutralem Boden - trifft sich KENNENDY im Juni mit seinem politischen Widersacher Nikita CHRUSCHTSCHOW. Auf Abrüstungsvorschläge können sich beide nicht einigen. Auch nicht über einen sowjetischen Vorschlag, Berlin vollkommen zu de-militarisieren und in eine neutrale Stadt zu überführen, Man trennt sich höflich mit "shake hands"

13. August 1961 und danach

Weil in der DDR (Deutsche Demokratische Republik) immer mehr Menschen in den Westen flüchten, insbesondere in Berlin über die imaginäre Zonengrenze, die Zahlen täglich in die Tausende gehen und der östliche Teil Deutschlands immer mehr Facharbeiter und sonst ausgebildete Berufstätige verliert, zieht die Sowjetunion die Reißleine: Jetzt wird die Mauer gebaut, die beide Teile Deutschlands hermetisch voneinander trennt. Der Eiserne Vorhang lässt das politische Klima zwischen Ost und West auf einen neuen Tiefpunkt abkühlen.

Weil KENNEDY zwei Wochen zuvor in einer Fernsehansprache nochmals den Viermächtestatus von Berlin bekräftigt und das Recht der USA betont hatte, vor Ort präsent zu sein, lässt CHRUSCHTSCHOW die Säbel rasseln: Im Oktober stehen sich am Checkpoint Charlie sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber - bereit zum Schießen, wenn es sein muss (siehe Foto, aufgenommen auf Ost-Berliner Seite)


1962 - im Februar

Weil das Schweinebucht-Abenteuer misslungen ist, lässt KENNEDY seine Militärs einen neuen "Operational Plan" erstellen: für einen großflächigen Angriff auf Kuba. Und zwar gleich mit Flugzeugträgern, Landungsbooten, Fallschirmjägern und Bombern. Die Ausarbeitung der konkreten Umsetzung dieses Angriffsplans soll bis Herbst erfolgen.

Der Plan wird nach Moskau verraten - der KGB in Washington hat gute Leute.

Umgekehrt verfügen auch die USA über exzellente Spione in Moskau: Oberst Oleg Wladimirowitsch PENKOWSKI, Raketenspezialist in der militärischen Aufklärung, hat zu dieser Zeit den britischen MI6- und CIA-Agenten bereits über 50 Mikrofilme übergeben. Darunter das Betriebshandbuch für die neue sowjetische Raketengeneration "SS 4" und "SS 5" für Nuklearsprengköpfe.

Doch so wenig KENNEDY ahnt, dass seine Pläne längst in Moskau bekannt sind, so wenig kann CHRUSCHTSCHOW wissen, dass die Amerikaner fast alles über die neuen Raketen wissen, die sich auch mit Atombomben bestücken lassen.

Und weil die Sowjets sich durch die US-amerikanischen Jupiterraketen in der Türkei provoziert fühlen, die bis über Moskau hinaus sowjetisches Territorium in wenigen Minuten erreichen können, revanchiert sich CHRUTSCHTSCHOW jetzt auf Kuba mit:

  • rund 400 Panzern
  • über 40 Düsenjägern
  • 180 Flugabwehrraketen
  • mobilen Abschussrampen für Atomraketen des Typs "SS 4" (24 R 12) sowie "SS 5" (16 R 14)
  • sowie rund 300 sowjetischen Berater.

Die Sowjetunion rüstet Kuba heimlich auf. Das Militärgerät wird auf Hunderten von Frachtern unerkannt über unterschiedliche Routen aus der Sowjetunion nach und nach nach Kuba verbracht. Die Aktion wird so geheim gehalten, dass alle Befehle nur mündlich ausgegeben wurden. Die Operation läuft unter dem Code "Anadyr".

Auch in Kuba muss alles heimlich geschehen - die USA lassen regelmäßig "U 2"-Aufklärer über die Insel fliegen


Anfang August

entdecken die Raketenexperten der CIA auf dem so gewonnenen Filmmaterial erstmals Raketenabschussvorrichtungen:


danach

KENNEDY nimmt alles zur Kenntnis - er treibt seine Militärs weiter voran, den geplanten Invasionstermin einzuhalten: 20. Oktober, ein Samstag. Jetzt werden 100.000 Soldaten in südliche Militärbasen verlegt, die Navy hält ein großes Manöver in der Karibik ab - auf diese Weise ist man schon einmal vor Ort.
Am 15. September wird der sowjetische Frachter "Poltava" von oben fotografiert. Er ist - vermutlich - mit verstecktem Militärequipment beladen (Foto links). Bei einem anderen Dampfer lässt sich nicht wirklich verbergen, was er unter der Plane transportiert:

Wenige Tage später gibt es neue Fotos einer viel tiefer fliegenden U 2 - Maschine, auf denen die einzelnen Raketeneinrichtungen auf der Insel zu sehen sind. Und im Atlantik werden - noch weit von Kuba entfernt - die ersten Schiffe gesichtet, auf denen - diesesmal ganz offen - die Rümpfe des sowjetischen Flugzeugtyps Iljuschin "Il 28" zu erkennen sind - zweistrahlige Bomber:

Somit steht Anfang Oktober fest, dass CASTRO's Reich flächendeckend mit Raketen-Infrastruktur überzogen ist:


8.Oktober

Im September hat in Deutschland das Natomanöver "Fallex 62"stattgefunden. Nach Auswertung des Planspiels erhält die Bundeswehr die zweitschlechteste Note: "bedingt abwehrbereit".

Genau so lautet auch der kritische Bericht des SPIEGEL, der mit weiteren Informationen aufwarten kann. Die beiden Autoren - Conny AHLERS und Hans SCHMELZ - haben lange daran gearbeitet und Informationen von mehreren Informanten erhalten


15. und 16. Oktober

In Deutschland laufen bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gerade die ersten Vorbereitungen an, den SPIEGEL-Artikel "Bedingt abwehrbereit" auf den Verdacht des "Landesverrats" hin zu überprüfen.

Bundesanwalt Albin KUHN, von einer Justizangestellten auf den "Fallex 62"-Artikel aufmerksam gemacht, hat den Bonner Oberregierungsrat Dr. Heinrich WUNDER im Bundesverteidigungsministerium mit einem Gutachten beauftragt. Der ist zu diesem Behufe eigens nach Karlsruhe gefahren, um seine ersten Ergebnisse persönlich kund zu tun. Nun ist WUNDER wieder in Bonn und Franz Josef STRAUSS, gerade aus dem Urlaub zurück, wird über die ersten Ergebnisse informiert: klarer Verdacht auf Landesverrat. 

In den USA
 hat KENNEDY erneut Überflüge über Kuba genehmigt - das Überfliegen fremder Territorien ist Völkerrechtsbruch. Vom Luftwaffenstützpunkt Laughlin in Texas steigen erneut zwei "U 2"-Maschinen in die Luft - sie sollen diesmal besonders tief fliegen. Man will Gewissheit haben. 

Jetzt hat man die sie: Die Aufnahmen zeigen sowjetische Techniker beim Zusammenbauen von Abschussrampen für die Mittelstreckenrakete vom Typ "SS 4".

KENNEDY versammelt tags drauf seinen engsten Beraterstab, kurz "ExComm" (Executive Committee of the National Security Council) im Weißen Haus: seinen Bruder Robert (Justizminister), den Verteidigungsminister Robert McNAMARA, den Außenminister Dean RUSK, seinen Sicherheitsberater McGeorge BUNDY, CIA-Experten und den militärischen Generalstabschef TAYLOR. KENNEDY lässt die neuesten Fotos herumgehen:

Es werden sofort mehrere Szenarien zu reagieren entwickelt:

  • ein Luftangriff auf die bisher bekannten Raketenstellungen
  • ein flächendeckender Luftangriff auf alle militärischen Ziele
  • eine allgemeine Invasion
  • oder eine Seeblockade.

Es geht hoch her in dieser elitären Runde. Zu einer Einigung kommt man nicht: Die einen befürworten eine Invasion mit allem Drum und Dran (Robert KENNEDY), andere sind für gezielte Luftschläge, der Verteidigungsminister plädiert für eine Blockade. Ein Einmarsch hätte verheerende Folgen für das Image der USA, Luftangriffe könnten nur auf die bisher entdeckten Stellungen erfolgen und eine Blockade einzurichten dauert länger und hätte keinerlei Effekt auf die bereits aufgestellten Raketen. Die Entscheidung wird vertagt. John F. KENNEDY will diplomatische Möglichkeiten ausloten 


18.Oktober

Zum Beispiel den seit längerem angesagten Besuch des sowjetischen Außenministers GROMYKO. Der ahnt nicht, dass die USA längst wissen, was GROMYKO ihnen nicht sagen wird: Dass in Kuba in Kürze einsatzfähige atomare Mittelstreckenraketen stehen werden:

So verläuft der Besuch im Weißen Haus freundlich mit den üblichen diplomatischen Floskeln. KENNEDY spricht das Thema 'Kuba' nicht an. Nur zum Schluss macht er - ganz nebensächlich - darauf aufmerksam, dass die Stationierung von offensiven Waffen auf Kuba "den ernstesten Fall" darstellen würde. GROMYKO nimmt das zur Kenntnis und kabelt nach Moskau, dass die Amerikaner offenbar von nichts wissen.
Derweil kommen die vielen Frachter auf ihrem langen Weg über den Atlantik Kuba immer näher. Die Anspannung unter den Militärs nimmt zu.

Auch in Deutschland nimmt die Anspannung zu. Der Staatssekretär von Franz Josef STRAUSS, Volkmar HOPF, macht in der Bundesanwaltschaft Druck. Er weiß, dass sein Chef die Rückendeckung von Konrad ADENAUER hat. 

Ohne Druck und ganz entspannt zeigt sich der Autor des "Bedingt abwehrbereit"-Artikels: Conrad AHLERS. Weil man im SPIEGEL vage Hinweise bekommen hat, dass irgendetwas 'im Busche' sei, übergibt AHLERS vorsichtshalber alle seine persönlichen Aufzeichnungen zu dieser Geschichte wie Gesprächsnotizen, Adressen von Informanten usw., verpackt in einem großen Kuvert, seiner Sekretärin. Sie möge diesen Briefumschlag sorgfältig aufbewahren


20. und 21. Oktober Wochenende

An diesem Wochenende zieht auf beiden Ebenen das Tempo an:

  • In Karlsruhe bei der Bundesanwaltschaft sind aus dem Bundesverteidigungsministerium Oberregierungsrat WUNDER, der in seinem Gutachten mit 41 landesverräterische Passagen ausgemacht hat, als auch Staatssekretär HOPF persönlich angereist. Sie treffen sich mit den Bundesanwälten. Um noch mehr Druck zu machen und die Staatsanwälte zu mehr Tempo anzutreiben, erklärt HOPF, die USA als Nato-Bündnispartner und insbesondere auch der US-Verteidigungsminister McNAMARA seien schwer erschüttert über den Geheimnisverrat und stellten die Bündnisfähigkeit Deutschlands in Frage. Das jedenfalls behauptet HOPF. McNAMARA hat denSPIEGEL-Artikel nicht gelesen. Er hat zur Zeit andere Sorgen.
    Doch derlei Argumente imponieren der Bundesanwaltschaft - man verabredet sich für Montag, will dann aber auch gleich alle anderen mit einbeziehen: BKA, MAD und einen Ermittlungsrichter, auf dass der dann gleich die Haftbefehle ausstellen könne
  • In Washington im Weißen Haus hat man sich bei dem ständigen Durcheinander der Argumente und Optionen nun endgültig für eine Seeblockade entschieden. KENNEDY der am Vortag noch auf Wahlkampftour war (anstehende Kongresswahlen im November), weil er auch nach außen hin keinerlei Signal geben wollte, worüber man in kleinstem Kreis am Überlegen ist, will - nach Beginn der Blockade, die man vorsichtig "Quarantäne" nennt - seinen Gegenspieler auffordern, die Waffenarsenale wieder abzubauen. Wenn der nicht folgte, würde KENNEDY die Invasion befehlen.

Am Sonntag sitzt das "ExComm"-Team erneut zusammen, um über Alternativen nachzudenken. Was, wenn CHRUSCHTSCHOW nicht auf diese Aufforderung zum Rückzug einzugehen gedenkt?

Jetzt ist man soweit, als weiteres Entgegenkommen, sofern nötig, einen Deal anzubieten: den Abzug aller Raketen aus Kuba gegen den Abzug der US-Jupiter-Raketen aus der Türkei. Dann stünden bei keinem von beiden Mittelstreckenraketen vor der Haustür.

Weil immer mehr Journalisten bei der US-Administrationwegen der vielen ungewöhnlichen Militärbewegungen im ganzen Land nachfragen, ruft KENNEDY am Sonntag Abend bei den großen Tageszeitungsverlegern an: bei New York Times, Washington Post, New York Herald und anderen. Er appelliert an deren nationale Gesinnung und bittet sie, auf Schlagzeilen am nächsten Tag zu verzichten. Immerhin stehen inzwischen 45.000 Marineinfanteristen und 100.000 Reservisten bereit und 500 Flugzeuge, ein Drittel der US-Luftflotte, sind auf Stand-by


22.Oktober

An diesem Tag wird die Krise weltöffentlich:

  • Um 10 Uhr Washingtoner Zeit bitten die US-Vertretungen in Großbritannien und Ottawa, allen Flugzeugen aus sozialistischen Ländern mit Flugziel Kuba die Überflugrechte zu verweigern
  • eine Stunde später warnen die US-Botschaften die Innenminister und Polizeichefs in südamerikanischen Ländern, in denen die USA bei der Bevölkerung nicht sonderlich angesehen sind, vor Protest und Aufruhr
  • Punkt 12 Uhr kündigt der Pressesprecher des Weißen Hauses für sieben Uhr abends eine Rede KENNEDY's im Fernsehen an - Genaues weiß die Welt noch nicht
  • das Pentagon gibt einen neuen Befehl aus: "Defense Condition 2" ("Def-Con 2") - die vorletzte Stufe der Alarmbereitschaft. "Def-Con 1" bedeutet den Einsatzbefehl
  • Mittelstreckenbomber werden jetzt auch auf Zivilflughäfen verlegt, ausgenommen den New York International Airport. Von dem startet um 14 Uhr die Maschine des sowjetischen Außenministers zurück nach Moskau. Die US-Militärs hoffen, dass er von allem nichts bemerkt hat, was bisher noch im Geheimen möglich war
  • um 17 Uhr versucht das Weiße Haus wichtige Journalisten auf die eigene Linie einzuschwören. Gleichzeitig werden die wichtigsten Politiker aus Senat und Repräsentantenhaus mit Sondermaschinen der Luftwaffe nach Washington eingeflogen. Dort werden sie von der kommenden Aktion in Kenntnis gesetzt
  • um 18 Uhr wird der sowjetische Botschafter in den Amtsräumen des US-Außenministers aufgeklärt
  • und gleichzeitig erhält auch der Kreml in Moskau die Fernsehrede KENNEDY's in schriftlicher Form vorab sowie einen Brief an Nikita CHRUSCHTSCHOW
  • parallel dazu werden mit Briefen und Telegrammen über die weltweit verstreuten US-Botschaften viele andere Länder, insbesondere die Verbündeten der Nato informiert
  • in wichtigen Städten wie London, Paris und Bonn machen dies die Botschafter persönlich
  • In Bonn ist zu diesem Zeitpunkt gerade Mitternacht vorbei. Konrad ADENAUER hat vollstes Verständnis, spricht den Amerikanern Mut zu
  • Punkt 19:00 Uhr - in Deutschland ist es 1 Uhr morgens - erklärt KENNEDY der Weltöffentlichkeit die Dramatik der aktuellen Situation

danach

Jetzt ist die Katze aus dem Sack:
CHRUSCHTSCHOW will die Blockade nicht akzeptieren, betont, die Raketen dienten ausschließlich der Verteidigung.
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bzw. deren Politiker insbesondere auch aus Mittelamerika stützen die US-Haltung - die sowjetischen Atomraketen können auch in ihre Richtung abgeschossen werden.
Auf Kuba mobilisiert Fidel CASTRO 350.000 Mann.
Damit die Seeblockade, "Quarantäne" genannt, tags drauf, am Mittwoch, den 24. Oktober, um 10:00 Ortszeit pünktlich beginnen kann und auch sonst alles für den Fall der Fälle vorbereitet ist, lassen die USA ihr bisher größtes Programm anlaufen:

  • 66 Schiffe, darunter 20 Zerstörer sowie Flugzeugträger und andere Kreuzer werden 800 Meilen vor Kuba das Weiterfahren verdächtiger Frachter blockieren
  • 12 U-Boote mit 144 Atomraketen sichern die Flotte ab
  • in der Luft kreisen 240 Flugzeuge
  • und insgesamt sind rund 30.000 Mann in der Karibik und dem Atlantik im Einsatz: rund um die Uhr.
  • Weltweit haben die USA über 600 kleinere Bomber in Alarmbereitschaft gesetzt; die könnten über 2.000 Atombomben abwerfen
  • weitere 66 "B-52"-Bombern kreisen über Grönland und Alaska sowie dem Mittelmeer in der Luft, bereit jederzeit in den sowjetischen Luftraum einzudringen
  • auf dem US-Festland sind mehr als 200 Interkontinentalraketen scharf gemacht:

Der Dritte Weltkrieg kann beginnen


23.Oktober, abends

Bei einem Korrespondenten der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, der gleichzeitig - wie man in Washington weiß - auch als Agent für Moskau arbeitet, meldet sich im Auftrag KENNEDY's ein Journalist, der den Journalistenkollegen bzw. Geheimdienstmann persönlich treffen will - der Russe ist ein Freund von CHRUSCHTSCHOW's Schwiegersohn. Über diesen persönlichen Draht will KENNEDY CHRUSCHTSCHOW signalisieren, dass man bereit wäre, die Jupiterraketen in der Türkei gegen die "SS-4" und "SS-5"-Raketen zu tauschen. Allerdings: Die Meldung nach Moskau bleibt auf der Strecke, wird erst mit 24 Stunden Verspätung an den Adressaten zugestellt.

Derweil hat CHRUSCHTSCHOW einen Antwortbrief auf KENNEDY's Fernsehrede verfasst - übergegeben an die Moskauer US-Botschaft, die den Brief übersetzt und dann nach Washington kabelt: Die Quarantäne sei "ein Akt der Aggression, der die Menschheit an den Abgrund eines Atomraketenkries treibt". Man werde bei "Piratenaktionen" die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, um die eigene Rechte zu schützen. 
Von dem auf der Strecke gebliebenen Signal des Einlenkens weiß der Sowjetführer noch nichts.

Noch in der Nacht schickt der US-Präsident seine Antwort: An die US-Botschaft in Moskau, die ihrerseits wiederum für Weiterleitung an den Kreml sorgt. Er hoffe, "dass Sie unverzüglich die notwendigen Befehle an Ihre Schiffe geben, um die Bedingungen der Quarantäne einzuhalten." 


Die Blockade beginnt

Um 10:00 Uhr Washingtoner Ortszeit ist längst alles vorbereitet. Jeder an seinem Einsatzort.
Die erste Meldung: 14 von 22 Frachtern drehen ab. Darauf der Befehl aus der „ExComm“-Einsatzzentrale: Erst einmal nichts unternehmen, um dem sowjetischen Gegner mehr Zeit zu lassen.
Trotzdem setzt der Chef der A-Bombenstaffel für seine Einheit die Alarmstufe herauf: per Funk und unverschlüsselt. Er will, dass die Russen wissen, dass man bis zum Äußersten gehen werde. Von dieser Eigenmächtigkeit erfährt der oberste Befehlshaber aller Truppen, US-Präsident KENNEDY, nichts. In der Einsatzzentrale laufen die hierarchischen Kommunikationskanäle und militärischen Dienstwege alles andere als rund.


25.Oktober

In der Bar des National Press Club in Washington dreht gegen 1 Uhr frühmorgens ein Barkeeper auf. Er erzählt einem russischen TASS-Korrespondenten, dass er von einem hier ansässigen Journalisten erfahren habe, dass der - sozusagen als "embedded journalist" - morgen eine Militäreinheit nach Kuba begleiten würde. Jetzt würde es ja wohl 'losgehen'.

Der TASS-Journalist gibt das noch in der Nacht nach Moskau weiter. Die sowjetischen Militärs sind nun überzeugt, dass KENNEDY's Kriegsdrohungen ernst gemeint sind. Ob dieses Signal auch CHRUSCHTSCHOW erreicht, ist nicht bekannt.
Der sowjetische Staats- und Parteichef wird abends ins Bolschoj-Theater gehen. 

In Washington
 setzt sich John F. KEENEDY gegen 2 Uhr frühmorgens nochmals mit seinen Beratern zusammen - sie studieren die letzte Botschaft aus Moskau, in der der CHRUSCHTSCHOW seine harte Linie angekündigt hatte.

Wenige Stunden später in Moskau
 wird CHRUSCHTSCHOW den Politbüro-Mitgliedern eine weichere Haltung vorschlagen: einen Deal, und zwar den Abzug der russischen Raketen auf Kuba gegen das Versprechen der USA, Kuba niemals mehr anzugreifen.
Das können KENNEDY und seine Berater noch nicht wissen, weshalb der US-Präsident CHRUSCHTSCHOW mitteilen lässt: "Herr Generalsekretär, Sie haben die Situation noch immer nicht verstanden."

Gegen 18 Uhr in der Karibik - in Moskau ist bereits der 26. Oktober angebrochen -
 wird das sowjetische U-Boot "B-59" kurz vor den Bermuda-Inseln von einem US-Militärflieger entdeckt. Die "B-59" ist mit einem nuklearen Gefechtskopf versehen. 

Der U-Bootkommandant, der mit seiner Besatzung bereits seit drei Wochen nur unter Wasser unterwegs ist, hatte keine andere Wahl als aufzutauchen: Das Trinkwasser in dem bis zu 50 Grad Celsius heißen Unterwassergefährt war bereits seit Tagen auf einen Viertelliter pro Mann reduziert und jetzt sind auch noch die Batterien fast am Ende. Zum Aufladen mit den Dieselgeneratoren bleibt keine Zeit - die "B-59" muss auf der Stelle wieder abtauchen. Die Gefahr bleibt trotzdem - jetzt weiß der Gegner um das U-Boot. Die "B-59" wird ab sofort von 14 US-Kriegsschiffen eingekreist...

Kurz vor der kritischen Grenze, dem von den USA definierten Blockadegürtel entdecken US-Piloten ein anderes Sowjet-U-Boot, die "B-130" - das wird nun von Flugzeugen und dem US-Kreuzer "945" verfolgt:

In New York vor der UN kommt es zeitgleich zum Schlagabtausch. US-Botschafter STEVENSON (rechts am Tisch) erläutert den Anwesenden die auf den Fotos erkennbaren sowjetischen Basen, Raketenstellungen und sonstigen Einrichtungen, auf die der Direktor des "National Photographic Interpretation Center" (NPIC) hinweist. Der Botschafter der UdSSR, ZORIN (ganz links) hört nur zu und danach das Recht der Kubaner betonen, sich gegen potenzielle Angreifer zu Wehr zu setzen:


26.Oktober Die Krise spitzt sich zu

Nikita CHRSCHUTSCHOW im Kreml, der am Abend noch im Ballett gewesen ist, studiert die neuesten Geheimdienstinformationen aus Washington, nach denen die USA die höchste Alarmstufe in Krisenzeiten ausgerufen und alle Militärhospitäler angewiesen haben, sich auf Verletzte vorzubereiten.

Auch er glaubt jetzt an einen Krieg, der sich - möglicherwiese - nicht mehr vermeiden lasse. Er diktiert einen zwölfseitigen Brief an KENNEDY und bietet sofortige Verhandlungen an. Seine Forderung: eine Nichtangriffsgarantie der USA für Kuba.

Der Brief wird um 16:43 Uhr der US-Botschaft in Moskau zugestellt. Die leitet das Schreiben nach Washington weiter. Dort ist es 9:43 bzw. einige Minuten später. Hier müssen die 12 Seiten ersteinmal ins Englische übersetzt werden. Das dauert - russische Dolmetscher sind zu dieser Zeit rar.

In der "ExKomm" ist Präsident KENNEDY mit seinem Plan, den Sowjets etwas mehr Zeit zu geben, in der Minderheit. Die meisten, insbesondere Generalstabschef TAYLOR, plädieren für ein sofortiges Bombardement auf alles: Raketenrampen, Flugabwehrgeschütze, Flughäfen. Dafür stünden 300 Kampfjets bereit. Militärs sind darauf geeicht, Krieg führen zu können. Friedenszeiten sind für Miltärs eher schlechte Zeiten ...

Doch KENNEDY ist der oberste Befehlshaber und setzt in der „ExComm“ Abwarten durch - er will testen, ob alle anderen Sowjetfrachter rechtzeitig vor der Sperrzone beidrehen. Vor der Sperrzone ließ sich beispielsweise der libanesische Frachter "Marucla", der in russischem Auftrag unterwegs ist, vom US-Zerstörer "Joseph P. Kennedy" stoppen und durchsuchen:

Währenddessen speisen im Washingtoner "Occidental Restaurant" zwei Herren: Alexander FEKLISSOW, Leiter des Washingtoner KGB-Büro, hat John SCALI, den Moderator mehrerer politischer TV-Sendungen zum Mittagessen gebeten. FEKLISSOW ist nicht irgendwer - er hat 1946 - zusammen mit dem "Atomspion" Klaus FUCHS - für die Sowjetunion die Blaupausen für die Nukleartechnologie 'besorgt' - des Gleichgewichts der Kräfte wegen, wie er meinte. Jetzt macht er sich erneut Sorgen um den Frieden.

FEKLISSOW handelt eigenmächtig. Er signalisiert seinem Gegenüber, dass die UdSSR ihre Raketen abziehen würden, wenn die USA eine Nichtangriffsgarantie abgäben.

SCALI meldet sich sofort bei KENNEDY. Der bittet ihn, sich noch am selben Abend erneut mit FEKLISSOW zu treffen und ihn zu fragen, ob er unmissverständlich nach Moskau signalisieren könne, dass "höchste Autoritäten" an Verhandlungen interessiert seien.

Nach fast 12 Stunden
 Übersetzungsarbeit, gegen 21:15 Uhr, landet CHRUSCHTSCHOW's zwölfseitiger Brief auf dem Schreibtisch von John F. KENNEDY. Der versteht nicht, was CHRUSCHTSCHOW eigentlich will. Auch seine Berater geben sich ratlos. KENNEDY will weiter abwarten - nur ganz wenige wissen von dem Signal, das er über den Fernsehmoderator SCALI, und der wiederum über den Meisterspion FEKLISSOW, nach Moskau gegeben hat.

Zu einer Invasion kommt es zu dieser Zeit in Hamburg: Die "Sicherungsgruppe Bonn" des BKA, Männer des MAD sowie Bundesanwalt Siegfried BUBACK, inzwischen unterstützt durch Hamburger Kriminalpolizei und andere Polizeimannschaften, marschieren in die Redaktionsräume des SPIEGEL und besetzen den gesamten Verlag. In Hamburg beginnt das, was später die "SPIEGEL-Affäre" heißen und die Bundesrepublik verändern sollte


27.Oktober der Tag der Entscheidung

Im Kreml gegen 9 Uhr geht eine Meldung des sowjetischen Oberbefehlshabers über alle Truppen auf und um Kuba ein: von General Issa A. PLIJEW, einem russischen Haudegen aus dem Zweiten Weltkrieg und zweifachem "Held der Sowjetunion". Er leitet von Anbeginn die Kuba-Operation "Anadyr". Auch für PLIJEW sind friedliche Zeiten keine guten Zeiten. Seine Mitteilung an Moskau:
"Wir haben entschieden, im Falle eines US-Luftangriffs auf unsere Stellungen alle uns zur Verfügung stehenden Luftverteidigungsmittel einzusetzen."

Jetzt muss CHRUSCHTSCHOW entscheiden, ob er dem zustimmt. Ob er einen Atomkrieg in Kauf nehmen will. Fidel CASTRO hat erst gestern den russischen Botschafter in Havanna dazu gedrängt.
CHRUSCHTSCHOW ist sich über die Folgen im Klaren. Er schreibt einen neuen Brief an KENNEDY:
"Wir stimmen zu, diejenigen Waffen, die Sie als offensive Waffen ansehen, aus Kuba abzuziehen ... gegen die Evakuierung ähnlicher Waffen in der Türkei."

Da sich CHRUSCHTSCHOW nicht sicher sein kann, dass sein Oberbefehlshaber auf Kuba nicht auch irgendwelche US-Aufklärungsmaschinen abschießt, hält er Eile für geboten. Er kommt auf eine glorreiche Idee: Er lässt den Brief nicht mehr der US-Botschaft zustellen, auf dass diese ihn nach Washington weiterreiche. CHRUSCHTSCHOW lässt seine Mitteilung sofort über Radio Moskau verlesen.
Nur kurz darauf, gegen 10:15 im Weißen Haus, ist der Text dieser Mitteilung übersetzt. KENNEDY und seine Berater sind erneut ratlos: Was ist nun wirklich gemeint? Der zwölfseitige Brief vom Vortag? Oder das 'Angebot' aus einem Radiosender? 

Zur nahezu selben Zeit
 wird auf einem seiner niedrigsten Überflüge über kubanisches Territorium Major Rudolf ANDERSON in seiner "U 2" von einer sowjetischen "SA 2"-Flugabwehrrakete fast getroffen - der Sprengkopf explodiert in unmittelbarer Nähe. Splitter durchschlagen den Druckanzug des Piloten. ANDERSON wird ohnmächtig, seine Maschine stürzt ab. ANDERSON stirbt.

Einen Befehl zum Abschuss aus Moskau gibt es nicht. Weil General Issa A. PLIJEW nicht auffindbar war, haben zwei andere Generäle entschieden. Moskau hatte den Einsatz dieser Abwehrraketen bisher ausdrücklich ausgeschlossen - bis auf den Ernstfall. Doch Militärs sind darauf geeicht, Krieg führen zu können. Ruhige Zeiten sind für Miltärs eher schlechte Zeiten.

Im Washingtoner "ExComm"-Raum drängen die Militärs KENNEDY jetzt erst recht zum Handeln. Doch KENNEDY zögert weiter - er weiß als einer der wenigen, dass das Signal über Radio Moskau nur von CHRUSCHTSCHOW stammen kann - er hat ihm diesen konkreten Vorschlag via FEKLISSOW zukommen lassen. Um auf 'Nummer sicher' zu gehen, agiert KENNEDY jetzt auf zwei Ebenen:

  • Sein Bruder Robert, Justizminister, übermittelt den bisher informellen Verhandlungsvorschlag dem sowjetischen Botschafter in Washington jetzt ganz offiziell. Einzige Bedingung: Über den Deal mit dem Abbau der Jupiter-Raketen in der Türkei müsse Stillschweigen gewahrt bleiben. Und für alle Fälle hinterlässt Robert alle Telefonnummern seines Bruders, unter denen dieser erreichbar ist
  • John F. KENNEDY selbst benutzt jetzt auch einen schnellen Kommunikationskanal: Über den weltweiten Radiosender Voice of America wendet er sich direkt an seinen Kontrahenten:
    1. Nichtangriffsgarantie gegen Raketenrückzug
    2. Und: "Wir können auch zu einer allgemeineren Vereinbarung hinsichtlicher jener anderen Waffen kommen, die Sie in Ihrem zweiten Brief erwähnten."

Nikita CHRUSCHTSCHOW hat seine Mannen in die Regierungsdatscha vor Moskau, 12 Uhr einbestellt. Er will seinen Genossen gerade seine neue Strategie erklären, als KENNEDY's offizielles Verhandlungsangebot über das Außenministerium hereingegeben wird. CHRUSCHTSCHOW reagiert unverzüglich:
"Die Sowjetregierung hat den Befehl gegeben, die Waffen, die Sie für offensiv halten, abzubauen und sie in die Sowjetunion zurückzubringen."

Damit keine Zeit verloren geht, wird auch dieses Signal sofort wieder über Radio Moskau der Welt und insbesondere der US-amerikanischen Regierung verkündet. 

In Washington
 reagiert auch KENNEDY auf der Stelle und lässt nur wenig später via Voice of America verkünden:
"Ich begrüße die staatsmännische Entscheidung des Vorsitzenden CHRUSCHTSCHOW!"

Was ohne das Medium Radio geschehen wäre, vermag heute niemand zu sagen. Immerhin hatte der Kreml inzwischen die telefonischen Durchwahlnummern vom Weißen Haus. Das "Rote Telefon" - als ständige Notfall-Telex-Verbindung zwischen den beiden Großmächten - werden beide Regierungschefs erst in Kürze bei ihrem nächsten Treffen vereinbaren


danach

Zu dieser Zeit in Hamburg hat sich der zunächst unauffindbare Herausgeber des SPIEGEL, Rudolf AUGSTEIN, inzwischen freiwillig der Staatsmacht gestellt. Das BKA- und MAD-Einsatzteam, getarnt unter dem Codenamen "Einstein", das auf AUGSTEIN, sprich "Libelle", angesetzt war, hatte bereits am Vorabend nicht mitbekommen, dass zum Zeitpunkt der Invasion in die Redaktion "Libelle" längst ausgeflogen war. Und ebenso war den tüchtigen Staatsschützern entgangen, dass "Libelle" AUGSTEIN seinen abendlichen Rotwein nicht in seinem Privathaus genoss, sondern bei seiner neuen Freundin und späteren Ehefrau.

Jetzt muss bzw. will der SPIEGEL-Gründer der Staatsmacht bei der Suche nach den geheimen Papieren 'behilflich' sein. Zu diesem Zweck wird er jeden Tag aus dem Untersuchungsgefängnis in das Redaktionsgebäude abgeholt und abends wieder in seine Zelle eingesperrt. 

Die neuen Aufklärungsflüge über Kuba ergeben ein eindeutiges Bild: CHRUSCHTSCHOW hält sein Versprechen. Unmittelbar nach der Kommunikation über zwei Radiosender wird das erste militärische Gerät auf Kuba abgebaut, wie diese Luftaufnahme vom 29. Oktober zeigt:

Die Welt ist gerettet. Der Dritte Weltkrieg hat nicht stattgefunden. Dafür aber: die Invasion in den SPIEGEL 


(JL)


Die Rekonstruktion der Chronologie basiert v.a. auf dem Standardwerk zur Kubakrise des Hamburger Historikers Bernd GREINER: Kuba-Krise. 13 Tage im Oktober: Analyse, Dokumente, Zeitzeugen. Nördlingen (Greno Verlag) 1988. Weitere Quellen: Informationen und Bildmaterial des National Security Archive an der George Washington University sowie Artikel von Cay RADEMACHER: Als die Welt am Abgrund stand. In: GEO 9/2012.
Die neuesten Erkenntnisse, dass KENNEDY ab dem 17. Oktober 1962 auch Kontakt mit Fidel CASTRO selbst hatte, konnten hier nicht berücksichtigt werden. Die 2.700 Dokumente des Justizministers Robert F. KENNEDY, die mit einem Brief
an "Mr. F.C." beginnen, wurden erst 50 Jahre später, am 11. Oktober 2012, freigegeben. Peter KORNBLUTH, Historiker beim National Security Archive, wird diese Informationen erst noch weiter auswerten. Mehr unter 50 Years Cuban Missile Crisis.
Weiteres Bildmaterial: Hausdokumentation DER SPIEGEL; Staatsarchiv Hamburg: Sammlung ContiPress)