Die 56 Berichte der SÜDWEST PRESSE aus Ulm, 01.09.2012

von Rudi KÜBLER

Die Geschichte vom K- und O-Wort

SÜDWEST PRESSE , 01.09.2012

von Rudi KÜBLER

Schlaue Automaten kriegen das hin. Sie werden den Tetraplegikern nicht nur das Wechselgeld für den Apfelsaft reichen. Sie werden ihnen auch den Strohhalm zum Mund führen. Tetraplegie ist eine Form der Querschnittslähmung, bei der die Betroffenen weder Beine noch Arme bewegen können. Für ganz schlaue Automaten ist das alles kein Problem, sagt Marlies G. (Name von der Redaktion geändert). Ihr ist nicht bange. Weder für die Rollstuhlfahrer, „sie werden gar nicht bemerken, dass sie von Automaten bedient werden“. Noch vor der eigenen Zukunft. Sie sei ja erst Ende 50, die Personalchefs stünden bereits jetzt Schlange, „mich kann jeder brauchen“.


Marlies G. flüchtet sich in Galgenhumor: Sie steht auf der Liste derer, denen die RKU-Geschäftsführung die Kündigung angedroht hat. Mit ihr sollen weitere 76 Kolleginnen und Kollegen entlassen werden (wir berichteten), Mitarbeiter der Küche, der Cafeteria, der Hauswirtschaft, der Serviceassistenz und der Haustechnik. 800 000 Euro will Dr. Uwe Gretscher, derzeit Geschäftsführer am RKU, einsparen. Die Küche müsste sowieso saniert werden, warum dann nicht gleich schließen? „Am Ende des Tages“ müsse man sich entscheiden, hatte er auf der Betriebsversammlung vor einem Monat gesagt, „entweder für die Medizin und die Pflege oder für Investitionen in die Struktur“.


Am Ende des Tages – das sind die Sprechblasen der Manager, denen oft schon morgens nichts anders einfällt als Stellenabbau und Ausgliederung. Am Ende des Tages werden 77 teils langjährige RKU-Mitarbeiter auf der Straße stehen. Ein externer Caterer wird sich dann der Küche und der Cafeteria annehmen – ohne Qualitätseinbußen. Im Gegenteil. Der neue, teilweise automatisierte Bistrobereich werde dann „mit Abstand attraktiver“ sein als die bisherige Cafeteria. Auch das hatte Gretscher gesagt – und höhnisches Gelächter und Kopfschütteln geerntet. Für die Frauen in der Cafeteria, die sich seit Jahren um die Patienten kümmern und sich in hohem Maße mit „ihrem RKU“ identifizieren, sind solche Aussagen ein Schlag ins Gesicht.


2011 war ein erfolgreiches Jahr der Sana Kliniken AG, die gesteckten Umsatz- und Ergebnisziele seien erreicht worden. Deutschlands viertgrößte Klinikgruppe mit 43 Krankenhäusern, fast 1,5 Millionen Patienten im Jahr und knapp 23 600 Mitarbeitern ist „im vierten Jahr in Folge zweistellig gewachsen“. Der Umsatz des Konzerns lag bei 1,63 Milliarden Euro, der Gewinn bei 52 Millionen Euro. Wenn das kein Grund zur Freude ist. All das ist auf der Homepage der Unternehmensgruppe zu lesen – auch, dass die Sana Kliniken AG als „Münchens beste Arbeitgeber 2011“ ausgezeichnet worden sind. In Ulm lachen sie über diesen Witz, beziehungsweise: Sie versuchen zu lachen über den „Top-Arbeitgeber in der Gesundheitswirtschaft“, wie die Sana sich selber bezeichnet.


Sicher, es gab auch früher Konflikte zwischen der Geschäftsführung und dem Betriebsrat des RKU, sagt der Betriebsratsvorsitzende Edwin Zell. Der gelernte Krankenpfleger ist seit 28 Jahren am RKU, also von Anfang an. Er kennt das Geschäft gut, weiß, was die Kolleginnen und Kollegen tagtäglich für die Patienten leisten. Auch Dr. Hailer habe keinen Kuschelkurs gefahren (Dr. Bettina Hailer war sechs Jahre lang Geschäftsführerin, ehe sie Ende 2011 ans Uni-Klinikum Halle ging – Anm. der Redaktion), „aber der Betriebsrat hat gewusst, woran er ist. Schlechter als jetzt zu Gretscher kann das Verhältnis nicht sein“, klagt Zell. Der Geschäftsführer steuere auf Konfrontation, dem Betriebsrat würden wichtige Informationen vorenthalten, „wir erfahren oft nur über Dritte, was die Geschäftsführung vorhat“. Auch von dem geplanten „Rundumschlag Gretschers“ habe das Gremium Ende Juli eher nebenbei Kenntnis erhalten. Vor allem: Die Pressemitteilung der Geschäftsführung über die Entlassungen sei an die Medien verschickt worden, ehe der Betriebsrat dazu angehört worden sei.


Gretscher selber sagt, man müsse im persönlichen Gespräch einiges geraderücken. Aber einen Termin mit ihm zu vereinbaren, gestaltet sich als äußerst schwierig. Konferenzen, Besprechungen, Telefonate – er setze gerade seine ganze Kraft ein. „Aber Sie haben ja schon mit Herrn Schoppik gesprochen“, sagt Gretscher am Telefon. Rainer Schoppik ist nicht nur kaufmännischer Geschäftsführer des Uni-Klinikums Ulm, er ist momentan auch Vorsitzender der RKU-Gesellschafterversammlung. Zu jeweils 50 Prozent sind Uni-Klinikum und Sana am RKU beteiligt. Die Marschrichtung sei mit den Gesellschaftern abgestimmt und „alternativlos“, sagt Schoppik. Tariferhöhungen im Kerngeschäft, also bei Ärzten und in der Pflege, machten es nötig, den Tertiärbereich anders zu strukturieren. Anders strukturieren? Was er damit meint, ist klar – aber: Das K-Wort vermeidet er ebenso wie Gretscher. Wer redet schon gern von Kündigungen? Und das O-Wort? „Wir als Klinik kommen nicht am Outsourcing vorbei“, sagt Schoppik. Was sollte er auch anderes sagen: Das Uni-Klinikum spielt dasselbe Spiel mit Tochterfirmen und niedrigeren Löhnen. Schoppik räumt ein, dass Outsourcing zwar nicht alles einfacher macht, aber dieser Weg sei absolut notwendig, „sonst fallen wir hinten runter“.


Zunächst fällt jetzt mal der Tertiärbereich hinten runter. Tertiärbereich, auch so ein Begriff, den Klinik-Manager gern verwenden. Damit wird alles umschrieben, was nicht direkt mit Medizin und Pflege zu tun hat. Wenn der Tertiärbereich umstrukturiert werden soll, dann heißt das K wie Kündigung und O wie Outsourcing. Zusammen ist das der K.o. – und zwar für Menschen, die teils seit zehn und mehr Jahren am RKU arbeiten. Nehmen wir nur mal die Hauswirtschaft, ein Teil dieses Tertiärbereichs: Die Mitarbeiterinnen sind oft älter als 50 Jahre, zudem hat ein nicht geringer Teil der Mitarbeiter – es sind mehr als ein Drittel – eine Erwerbsminderung von 50 bis zu 90 Prozent. Einige der von der Kündigung betroffenen Mitarbeiterinnen haben am RKU im Bereich der beruflichen Rehabilitation eine Ausbildung abgeschlossen und in den Tertiärbereichen einen Arbeitsplatz gefunden. Es war immer ein Markenzeichen des RKU, Menschen mit Erwerbsminderung nicht nur auszubilden, sondern diesen auch einen Arbeitsplatz zu geben. Damit soll nun Schluss sein.


Wie so viele Unternehmen hat sich auch das RKU ein Leitbild gegeben. Dort ist unter anderem zu lesen: „Wir führen das RKU erfolgreich in die Zukunft. Durch Exzellenz, Menschlichkeit, Fairness und Zuverlässigkeit.“ Hehre Werte – Papier ist geduldig. Das Leitbild ist derzeit eher ein Leidbild. Die Stimmung am RKU habe extrem gelitten, seit Dr. Gretscher die Geschäftsführung übernommen habe. „Dabei waren wir immer stolz, RKU’ler zu sein. Jetzt geht die Angst um“, sagt ein langjähriger Mitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will. Alle fragten sich, welcher Bereich als nächstes rasiert werde. Die Personalabteilung vielleicht? Die medizinische und berufliche Rehabilitation? Oder die Therapie? „Keiner fühlt sich sicher.“ Wer weiß, vielleicht wird demnächst auch auf die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger verzichtet?


Gretscher kündigt eine Pressemitteilung an, die bleibt aber aus. Was soll er auch verkünden? Edwin Zell zuckt mit den Schultern. „Wir sind in Gesprächen“, sagt der 60-Jährige. In Gesprächen, in denen die Anwälte beider Seiten das Sagen haben, „anders geht es offensichtlich nicht. Wir haben einen Katalog mit 40 Fragen, und der wird derzeit abgearbeitet.“ Dass das Verhältnis gestört ist, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an Zell selber. Der Betriebsratsvorsitzende ist ein eher ruhiger, bedächtig wirkender Mensch. Kein Klassenkämpfer. Freilich, ihm stellt sich der Kragen, weil die RKU-Mitarbeiter Opfer sein sollen, Opfer für die Einkaufspolitik der Sana Kliniken AG. Was hinter dieser Einkaufspolitik steckt, ist für Zell offensichtlich: die immer härter werdende Konkurrenz unter den vier großen Klinikbetreibern, der Helios-Fresenius-Gruppe, der Asclepios-Kliniken und der Rhön-Klinikum AG, die jeweils Umsätze zwischen zwei und drei Milliarden Euro aufweisen. Vierter im Bund ist die Sana, die aber eine Milliarde Euro weniger Umsatz macht als die drei Mitkonkurrenten. Tatsache ist, dass die nicht börsennotierte Sana jüngst Aktien der Rhön-Klinikum AG gekauft hat. Die Höhe dürfte sich im dreistelligen Millionenbereich bewegen, so wird gemunkelt. Auch Asclepios hat Rhön-Aktien erstanden. Beide, Sana und Asclepios, wollten damit verhindern, dass die Nummer eins, die Helios-Fresenius-Gruppe, noch weiter wächst. Denn dieser Klinikbetreiber hatte versucht, die Rhön-Klinikum AG zu schlucken. Hier wird geschluckt, dort wird geschluckt – manche verschlucken sich. „Die Sana braucht jetzt Geld, und das Geld muss irgendwo herkommen“, sagt Zell. Und weiter: „Wir sind die Opfer.“


Zurück zur RKU-Küche, die geschlossen werden soll. Hohe Investitionen seien nötig, hatte Gretscher auf der Betriebsversammlung argumentiert. Dagegen steht ein Gutachten einer Sana-Kommission, die im vergangenen Jahr eben diese Küche unter die Lupe genommen und dabei festgestellt hat: „Wir haben Schwarz auf Weiß, dass sie im jetzigen Zustand noch sieben Jahre weiterbetrieben werden kann“, sagt Zell. Da drängt sich die Frage auf: Wer hat Recht? Die Gutachter einer Tochtergesellschaft der Sana oder der Sana-Generalbevollmächtigte Gretscher?


Nochmals Zahlen: Das RKU hat 2009 rund 3,6 Millionen Euro Gewinn gemacht, 2010 waren es 4,6 Millionen, und im vergangenen Jahr dürfte die Klinik nicht wesentlich weniger erwirtschaftet haben. 4 Millionen dürften es auf jeden Fall gewesen sein. Auf der hohen Kante liegen 17 Millionen Euro, „wir stehen gut da“, sagt der Betriebsratsvorsitzende. In dieser Situation 77 Kollegen zu entlassen, bezeichnet er als „Riesenskandal“. Der Betriebsrat hat jetzt Kontakt zu einem Wirtschaftsberater in Hamburg aufgenommen. „Wir wollen zeigen, dass die Kündigungen wirtschaftlich nicht notwendig sind, sondern allein unternehmenspolitisch motiviert sind.“


Ob irgendwelche Wirtschafts-Gutachten den Sana-Generalbevollmächtigte der Region Südwest beeindrucken werden, ist zu bezweifeln. An Dr. Gretscher dürfte dies abperlen. Denn am Ende des Tages geht es ums Geld – und da will und muss er, der sich selber auch gern als „Hobby-Ökonom“ bezeichnet, gut dastehen. Sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass Schicksale hinter Kündigungen stecken, ist da eher lästig. Wie hatte eine Mitarbeiterin auf der Betriebsversammlung gesagt: „Ihr Interesse gilt nicht den Menschen.“ Gretscher macht jetzt als kommissarischer Geschäftsführer Tabula rasa; am 1. September, heute also, übergibt er die Leitung an Matthias Gruber, der unbefangen von diesem Konflikt den eingeschlagenen Weg fortsetzen kann.


Zurück bleiben Frauen wie Marlies G., die in der Arbeitslosigkeit und bei Hartz IV landen, „da mache ich mir nichts vor. Wenn Arbeitgeber mein Alter sehen, interessiert sich kein Schwein mehr für mich.“ Und die Automaten? Sie werden dann im RKU stehen und sich rührend um die Rollstuhlfahrer kümmern.