Die 56 Berichte der SÜDWEST PRESSE aus Ulm, 10.11.2012

von Rudi KÜBLER, Christoph MAYER

„Verständnis für den Frust der Mitarbeiter“

SÜDWEST PRESSE , 10.11.2012 von Rudi KÜBLER, Christoph MAYER

Überlastete Mitarbeiter, Angst vor Ausgliederungen, ein Millionendefizit: Die Stimmung an der Uni-Klinik ist schlecht. Reinhard Marre und Rainer Schoppik, Chefs des größten Arbeitgebers in Ulm, nehmen Stellung.


Herr Schoppik, in einer Chefarztkonferenz hat man Ihnen Managementfehler und schlechten Führungsstil vorgeworfen. Was sagen Sie dazu?


RAINER SCHOPPIK: Vorwürfe gab es höchstens einmal in dem Zusammenhang, dass wir im zweiten Halbjahr 2011 – erstmals, seit ich hier bin – in die Verlustzone gerutscht sind. Es stimmt, vielleicht hatten wir zu lange eine zu positive Ergebnisentwicklung erhofft, die dann nicht eingetreten ist und die aus Sicht mancher Chefärzte zu spät kommuniziert wurde. Ich habe nach der Konferenz aber viel positives Feedback bekommen, über die Art und Weise, wie offen ich mit der Situation umgegangen bin.


PROF. REINHARD MARRE: Wir haben 2011 die Chirurgie-Inbetriebnahme vorbereitet. Das ist für mich ein Beispiel für richtig gutes Management und guten Führungsstil. Das Projekt ist im Zeit- und Kostenplan, das ist nicht gewöhnlich bei Bauvorhaben dieser Größe. Herr Schoppik hat ganz wesentlich dazu beigetragen. Es ist uns gelungen, viele Mitarbeiter für das Projekt zu begeistern und die Motivation aufrecht zu halten.


Unser Eindruck ist freilich ein ganz anderer: Die Motivation ist am Boden, der Frust beim Pflegepersonal groß. Wir hören Klagen von Intensivstation-Teams, die waren früher zu fünft, jetzt müssen sie die gleiche Arbeit zu dritt machen. In manchen Abteilungen ist der Krankenstand immens gestiegen, die Leute sind am Anschlag.


SCHOPPIK: Der Krankenstand hat sich im Durchschnitt der letzten Jahre nicht geändert. Wir nehmen das Unwohlsein unserer Mitarbeiter allerdings sehr ernst. Zum speziellen Fall kann ich nichts sagen. Wir haben im Zuge des Chirurgie-Neubaus verschiedene Bereiche umorganisiert. Es ist nun unsere Aufgabe, die Mitarbeiter in diesem organisatorischen Veränderungsprozess mitzunehmen, zu kommunizieren und sie davon zu überzeugen, dass mit den neuen Prozessen genauso sicher und gut gearbeitet werden kann. Wir nehmen das wahr, dass gerade auf den Intensivstationen dieses Unwohlsein da ist . . .


MARRE: Überlegen Sie, was sich im laufenden Jahr alles geändert hat. Die neue Chirurgie ist in Betrieb genommen worden, ebenso die Klinik für Psychosomatik, die Dermatologie ist umgezogen, wir haben mehrere Chefarzt-Neubesetzungen. Da haben sich auch unglaublich viele Prozesse verändert. Was wir hier durchmachen, ist ein gewaltiger Wandel.


Viele Pflegekräfte haben den Eindruck, dass der Wandel allein auf ihrem Rücken ausgetragen wird . . .


MARRE: An diesem Wandel sind 6000 Mitarbeiter beteiligt. Wenn man gewohnte Abläufe und Teams aufgeben muss, wenn plötzlich die ganze soziale Heimat weg ist, dann schafft das natürlich Verunsicherung. Diese Verunsicherung spüren wir. Es dauert eben eine gewisse Zeit, bis sich die Prozesse wieder eingespielt haben. Ich habe Verständnis für all jene, die verärgert und frustriert sind. Ich sehe aber auch viele Mitarbeiter, die anders damit umgehen. Viele sind mit Begeisterung dabei, auch wenn es hier und da noch hakt. Das ist für mich das Gesamtbild.


Es gibt das belegte Zitat einer Führungskraft, man solle ,mit kaltem Herzen’ pflegen.


MARRE: Es gibt viele Zitate hier, die ich nicht unterschreiben kann. Das kalte Herz hat in einem Krankenhaus nichts zu suchen. Mein persönlicher Eindruck aus vielen Gesprächen ist ein ganz anderer: Es sind viele mit heißem Herzen dabei und engagieren sich für die Krankenversorgung in großem Maße. Wir sind kein Technikbetrieb, wir sind für Menschen da. Das ist mir persönlich ganz wichtig.


Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Klinik durch die wachsende Mitarbeiterunzufriedenheit ihren Ruf verspielt. Es droht ohnehin ein Pflegenotstand. Wie wollen Sie überhaupt noch gutes Personal bekommen?


MARRE: Der Vorteil ist, dass wir unseren Nachwuchs über unsere Akademie für Gesundheitsberufe ausbilden können. Durch die Kooperation mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg bieten wir jetzt auch Bachelor-Abschlüsse für Pflegekräfte an. So steigern wir die Attraktivität der Ausbildung.


Schön und gut. Im Alltag klagen aber viele Pflegekräfte über mangelnde Wertschätzung.


MARRE: Zu unserem schriftlich niedergelegten Wertekanon gehört ausdrücklich die Wertschätzung .


. . . Papier ist geduldig . . .


MARRE: Wir haben unter unseren Mitarbeitern eine Umfrage gemacht. In der Tat ist mangelnde Wertschätzung ein Thema – das wir als Vorstand nicht alleine angehen können, wir brauchen dazu alle Führungskräfte am Klinikum. Etwa 20 Prozent unserer Mitarbeiter von den Ärztlichen Direktoren bis zu den Stationsleitungen sind Führungskräfte. In vielen Gesprächen mit ihnen ist Wertschätzung ein Thema. Darüber hinaus bieten wir Veranstaltungen an, auf denen Führungskompetenz vermittelt wird.


Würde Sie zustimmen, dass Sie von ihren Mitarbeitern eine permanente Leistungsverdichtung einfordern?


MARRE: Nein. Leistungsverdichtung ist nicht der erfolgversprechende Weg. Wenn ich mir aber die vergangenen zehn Jahre anschaue, stelle ich fest: Die Effizienzsteigerung im Krankenhaus ist unglaublich gewesen – nicht nur in unserem Haus. Der IT-Bereich hat erheblich dazu beigetragen, auch die Qualifikation der Mitarbeiter hat sich erhöht. Gute Mitarbeiter sind nun mal effizienter als schlechte.


Ihr Aufsichtsratsmitglied Dr. Jan Stefan Roell hat den Teilnehmern eines von Ihnen organisierten Symposiums neulich ins Gewissen geredet. Man solle Effizienz nicht mit Leistungsverdichtung verwechseln.


MARRE: Die entscheidende Frage ist doch: Wo haben wir Möglichkeiten einer Effizienzsteigerung ohne Leistungsverdichtung? Das bedeutet für jede Führungskraft, im eigenen Bereich zu prüfen: Gibt es Verzichtleistungen, gibt es Verbesserungen im Ablauf?


SCHOPPIK: Es geht nicht um blinde Verdichtung. Es geht darum, gut planbare Standard-Abläufe weiter zu verbessern. Dann sind Patienten und Mitarbeiter zufrieden – und wirtschaftlich ist es auch.


Die Klinik hat 2011 ein 6,8-Millionen-Euro-Defizit eingefahren. In Prognosen waren Sie von 5 Prozent Wachstum ausgegangen. Es wurden 1,9 Prozent. Wie kommt man zu so blauäugigen Berechnungen ?


SCHOPPIK: Ich glaube nicht, dass man uns blauäugig nennen kann. Wir hatten 2011 sehr starke erste Monate. Wie in vielen anderen Krankenhäusern gab es ab September Einbrüche bei den Patientenzahlen. Da konnten wir dann nicht mehr kurzfristig gegensteuern. Schließlich hatten wir in den Vorjahren immer deutliche Wachstumssprünge von bis zu sieben Prozent. Auf Basis dieser Erwartungen haben wir im ersten Halbjahr 2011 das Personal disponiert, entsprechend Nachbesetzungen und Neueinstellungen vorgenommen.


Das beweist doch, wie riskant es ist, nur auf Wachstum zu setzen?


SCHOPPIK: Die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen sind eben so, dass wir Kostensteigerungen haben. Wir haben hauptsächlich Personalkosten, und die Tarifsteigerungen stehen den Mitarbeitern auch zu. Die Preissteigerungen, die wir durchsetzen können, sind aber sehr begrenzt. Die Kostenschere ist systemimmanent. Dem kann man nur entgehen, wenn man zusätzliche Leistungen erbringt. In Deutschland ist es heute so, dass sie, wenn sie gute Medizin machen, aber jedes Jahr die gleiche Anzahl von Patienten behandeln, in die Miesen fahren. Das ist in jedem Krankenhaus so. Es gibt natürlich Rationalisierungsreserven. Aber gerade in einer Klinik der Maximalversorgung ist das mitunter schwierig umzusetzen.


MARRE: Die Patientenzahlen sind in den letzten Jahren stetig nach oben gegangen. Natürlich wird diese Kurve irgendwann abflachen, schon allein wegen der demographischen Entwicklung. Hinzu kommt, dass in den letzten zehn Jahren bundesweit zehn Prozent der Krankenhausbetten abgebaut wurden. Viele Krankenhäuser müssen schließen, auf die verbleibenden kommen zusätzliche Aufgaben zu. Es ist aber nicht so, dass wir nur auf Wachstum setzen. Wir setzen auf Innovation. Teure Innovationen wie unser neuer Hybrid-OP sind allerdings nur über Wachstum möglich.


Werden Sie dieses Jahr wieder ein Defizit einfahren?


SCHOPPIK: Ich gehe davon aus, dass der Verlust etwas geringer ausfällt als 2011. Man muss berücksichtigen, dass wir im Vergleich zum Vorjahr höhere Abschreibungen haben, hinzu kommt der Zinsaufwand, weil wir die Chirurgie vorfinanziert haben. Wir haben aber auch Kosten eingespart, in Höhe von fünf bis sieben Millionen Euro.


Das von Ihnen vorgegebene Einsparziel von zehn Millionen Euro wurde also verfehlt. Das heißt doch, Sie müssen im nächsten Jahr noch strenger sparen?


SCHOPPIK: Nein. Wir haben bei Umsätzen von circa 400 Millionen Euro eben einen kleinen Verlust. Das ist nicht schön, aber auch nicht dramatisch. Wichtig ist uns, dass wir als Maximalversorger alle Disziplinen in der kompletten Breite anbieten können. Wir sind in unseren Ergebnisprognosen wesentlich stabiler als im letzten Jahr. Zudem herrscht in unserem Haus maximale Transparenz: Alle Ärztlichen Direktoren sind informiert. Jeder Einrichtungsleiter hat Einblick in alle Zahlen.


Wie wird sich denn die Mitarbeiterzahl im Pflegebereich entwickeln?


SCHOPPIK: Das kommt darauf an, wie sich die Fallzahlen entwickeln. Ich bin nach den Erfahrungen von 2011 vorsichtiger geworden. Ich gehe aber davon aus, dass wir weitestgehend mit dem aktuellen Personalstamm weiterarbeiten.


Planen Sie weitere Ausgliederungen?


MARRE: Wir prüfen das. Es wäre fahrlässig, weitere Ausgliederungen langfristig auszuschließen.


Konkret?


MARRE: Wir werden nichts übers Knie brechen. Die Frage ist: Wie hoch sind die Einsparpotenziale? Vor allem: Sind sie nachhaltig?


Sind Ausgliederungen im Pflegebereich tabu?


SCHOPPIK: Das ist nicht geplant. Höchstens bei krankheitsbedingten Personalengpässen greifen wir mal auf Leihkräfte zurück, die uns für zwei, drei Monate unterstützen.


MARRE: Wir brauchen Ärzte und Pflegekräfte, die sich mit dem Klinikum identifizieren – in guten und in schlechten Zeiten.


Immer wieder gibt es Kritik, die Ausgliederungen gefährden die Patientenversorgung aus einem Guss. Es kommt zu Situationen, dass DUU-Mitarbeiter (DUU ist das Dienstleistungsunternehmen der Uni-Klinik, Anm. d. Red) das Essen auftragen und nach einer halben Stunde abholen, ohne hinzuschauen, ob der Patient gegessen hat.


SCHOPPIK: Diesen Fall gab es in den Anfangswochen der neuen Chirurgie, das möchte ich nicht bestreiten. Wir haben reagiert. Ich höre, dass die Pflegekräfte mit den DUU-Leuten gut und äußerst kooperativ zusammenarbeiten.


Wissen Sie, wie viel ein Mitarbeiter der ausgegliederten DUU verdient?


SCHOPPIK: Etwa 1600 Euro in der untersten Lohngruppe.


Was bleibt Netto?


SCHOPPIK: 1200 bis 1300 Euro.


Kann man davon würdig leben?


SCHOPPIK: Eine schwierige Frage. Für uns ist ausschlaggebend, dass wir auch in der DUU Tarifverträge haben. Die haben die Arbeitgeber nicht einseitig festgelegt, sondern die Tarifparteien ausgehandelt. Das ist die Vergütungsrealität.


Herr Marre, Sie hatten zwischen 2009 und 2010 eine Gehaltssteigerung von 17 Prozent – von 299 000 Euro auf 351 000 Euro im Jahr. Ist das gerechtfertigt vor dem Hintergrund, dass ansonsten gespart wird, wo es geht?


MARRE: Es ist das Ergebnis einer Verhandlung zwischen dem Aufsichtsrat des Klinikums und mir. Wenn es dem Aufsichtsrat zu viel gewesen wäre, hätte er es nicht gemacht. Wenn mein Nachfolger kommt, möchte er ja vielleicht mit der Hälfte auskommen. Es gibt allerdings nicht so viele, die diesen Job machen wollen. Es ist eine ausgesprochen reizvolle Aufgabe mit großem Gestaltungsspielraum. Aber die hohe Verantwortung birgt die große Gefahr des Scheiterns mit sich. Das muss man auch sehen.


Und Sie, Herr Schoppik, bekommen unseren Informationen zufolge 10 bis 15 Prozent weniger als Ihr Vorstandskollege. Stimmt das?


SCHOPPIK: Ich darf Ihnen den Betrag nicht nennen. Was ich sagen kann: 2011 kam ein Teil der Prämien nicht zur Auszahlung.


Es gibt Klagen aus der Chefarzt-Riege, Sie seien als Labormediziner zu weit weg vom Klinikalltag.


MARRE: Ich kann mich schlecht selbst bewerten. Stationsorganisation ist in der Tat nicht meine Aufgabe. Da gibt es exzellente Ärzte, denen ich keine Konkurrenz machen kann und will. Meine Qualifikationen liegen woanders. Der Aufsichtsrat wollte mich 2004 und 2009 haben. Wenn man mich nicht gewollt hätte, hätte ich damit auch gut leben können.


Sie sind bis 2014 gewählt, gehen aber ein Jahr früher als geplant in den Ruhestand. Wieso?


MARRE: Ich war drei Jahre Dekan und neun Jahre Leitender Ärztlicher Direktor. Ich finde, ich habe genug getan. Ich bin dann im Pensionsalter. Dass die Chirurgie läuft, ist ein schöner Abschluss für mich. Ich bin auch der Ansicht, innovative Unternehmen brauchen Verjüngung.


Wer wird Ihr Nachfolger?


MARRE: Die Stelle wird ausgeschrieben. Man kann sich bewerben.


Professor Klaus-Michael Debatin hat, wie man hört, abgelehnt. Kennen Sie die Gründe?


MARRE: Da müssen Sie Herrn Debatin fragen. Ich rede nicht über andere Personen.


SCHOPPIK: Die Vorstandsbesetzung ist Aufgabe des Aufsichtsrats.