Die GENERAL-Anzeiger-Berichte, 23.04.2010

Das große Schauspielhaus

Erstaunlich, wie viele Romane nach 475 Seiten enden. "Die Ankunft der Pandora" von Kerstin Jentzsch gehört dazu oder "Bittere Medizin" von Arthur Hailey. Die Titel würden auch zum Inhalt des Berichts des Rechnungsprüfungsamtes (RPA) zum World Conference Center Bonn (WCCB) passen. Der RPA-Report ist natürlich alles andere als ein Roman, sondern eine nüchterne Aneinanderreihung von Auszügen aus E-Mails, Dokumenten und handschriftlichen Notizen. Aber er bespielt auf seine Weise romanhaft die Fantasie des Lesers mit "Begebenheiten" in einer überforderten Stadtverwaltung. 475 Bonner WCCB-Seiten enden mit einer Pointe aus vier Buchstaben: Nein.

Nein, die Baukostenexplosion beim WCCB "von insgesamt 60 Millionen Euro" wurde vom Bauherrn UN Congress Center GmbH (UNCC) und seiner Baufirma nicht "ausreichend plausibilisiert und zeitnah im Detail nachgewiesen". Nein, die Stadt Bonn hat kein "geeignetes und effektives Controlling durchgeführt" und damit nicht "die Interessen der Stadt gewahrt". Zweimal Nein auf zwei Fragen, die im Mittelpunkt des Prüfauftrags des Stadtrates an die RPA-Mitarbeiter standen.

Auf den 474 Seiten zuvor entblättern sich haarsträubende Details, ein übergroßer Bruder Leichtsinn im Umgang mit Steuergeldern und eine seltsam devote Haltung gegenüber den südkoreanischen "Investoren". Offenkundig: Die Intensität, mit der das Städtische Gebäudemanagement (SGB) die Schlitzohren aus Fernost begleitete, mag für den Bau eines Kiosk auf einem Schulhof reichen, nicht aber für ein Weltkongresszentrum mit 352-Zimmerhotel. Das SGB seinerseits hatte dargelegt, dass es zu intensiverer Prüfung vertraglich nicht verpflichtet gewesen wäre. Aber das war bereits im Dezember 2009, als die Phase von "Der Letzte macht das Licht aus" angebrochen war und jeder Stadtinvolvierte nur noch strategisch agierte: Was bleibt an mir hängen und welche Spuren lassen sich nicht mehr verwischen?

Aus den großen Skandalen der Republik im E-Mail-Zeitalter quillt ein roter Faden: Wer in rechtlich heiklen Fällen auf die elektronische Kommunikation setzt und seine Gedanken freizügig in die Tasten tippt, riskiert im Ermittlungsfall, auf einem sogenannten Stick zu landen, den dann ein städtischer Rechnungsprüfer oder Staatsanwalt akribisch auswertet. Der Spruch "Wer schreibt, der bleibt" erhält so eine unverhoffte Bedeutung.

Wer hat was wann gewusst? Eine nicht nur im WCCB-Fall entscheidende Frage. Auf den 475 RPA-Seiten spiegelt sich ein munterer E-Mail-Verkehr. Es fällt auf: Nahezu alle mit dem WCCB befassten städtischen Bediensteten tauchen dort auf, nur die ehemalige Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann kaum. Bei blauäugiger Betrachtung erscheint die Verwaltungschefin im RPA-Bericht als nahezu Unbeteiligte. Wer nicht schreibt, hinterlässt keine Spur: Ob dieser Umkehrschluss tatsächlich gilt?

Noch einmal: Wer hat was wann gewusst? Der RPA-Bericht bestätigt nicht nur die aus Indizien abgeleiteten Annahmen der GA-Serie "Die Millionenfalle", sondern "hat meine schlimmsten Befürchtungen übertroffen", so ein Ratsherr. Es dürfte im durch und durch kontrollierten Deutschland kaum eine kommunale Großbaustelle geben, bei der bereits bei Spatenstich, Grundsteinlegung oder Richtfest, gemeinhin Anlässe für Zuversicht und Aufbruch, das Desaster aktenkundig ist. Während die städtische Außendarstellung zur Hochform auflief und das WCCB-Richtfest als "Visitenkarte von Bonns neuer Mitte" feierte, so die in der Stadt auch "die Unbestechlichen" genannten Prüfer, "diskutierte man intern bereits eine Baukostensteigerung von 43 Mio. Euro und ließ rechtliche Bewertungen zu den Themen Heimfall und Insolvenzen erstellen". Das war am 19. September 2008. 450 geladene Gäste applaudierten einem Bau, hinter dem Eingeweihte wirtschaftlich bereits ein Kartenhaus erkannten. Wochen zuvor hatte Dieckmann - für die Bürger überraschend - erklärt, dass sie als Oberbürgermeisterin nicht mehr kandidiert.

Nicht nur Südkoreaner sind Schauspieler. Spatenstich: Dieckmann bezeichnet ihren Hoffnungsträger Man-Ki Kim, obwohl der da bereits erste Anzeichen chronischer Kapitalschwäche zeigte, als "Glücksfall für Bonn". Beim Richtfest legt sie nach, lobt Kim für die Intensität, mit der seine Company SMI Hyundai als Investor das Projekt bisher verfolgt habe. Doch zu diesem Zeitpunkt war Kim stadtintern, so der RPA-Bericht, längst als Null-Euro-Mann entlarvt - ob auch als mutmaßlicher Betrüger? Ganz ahnungslos dürfte keiner gewesen sein, denn schon sieben Monate später wird eine neue WCCB-Betreibergesellschaft gegründet. Warum? Damit Kim, so Projektbeauftragte Eva-Maria Zwiebler an Dieckmann, keine Möglichkeit mehr habe, auch dort vielleicht noch in die Kasse zu greifen.

Nepper, Schlepper, Bauernfänger: Keine Woche vergeht, in der nicht TV-Serien den Bundesbürger für 08-15-Betrügereien sensibilisieren. Doch die Welt zwischen Bonner Rat- und Stadthaus zeigt sich erstaunlich dickhäutig: Mit "Alles-wird-gut"-Mails machen sich städtische WCCB-Beauftragte bereits frühzeitig Mut. Manchmal regen Sparkassen-Mitarbeiter an, den Sekt schon mal kalt zu stellen, "aber für den Korken knallen zu lassen", so Zwiebler in einer rheinischen Frohsinnsmail an ihren Kollegen Arno Hübner, "wäre es noch zu früh". Fürwahr, denn Kim überzeugte stets als Meister der Versprechungen. Oder: In SGB-Aufzeichnungen werden Kims zehn Millionen Eigenkapital als "Sack Kartoffeln - oder was?" bezeichnet. Beim Thema "Checken der Zahlungsströme" erschreckt naive RPA-Leser die Formulierung "Komm, wir machen halbe/halbe".

Bonn am Tag danach. Egal, welche Seite der 475 man aufschlägt: Dieser Bericht lässt Bonns Politiker und Bürger die Luft anhalten. Jürgen Nimptsch, der den RPA-Report seit Ostern studiert, stockte der Atem hingegen nicht, wie er dem WDR versicherte. Vielleicht das Alleinstellungsmerkmal eines Oberbürgermeisters. Wie dem auch sei. Niemand wird mit einer "Schwamm- drüber"-Mentalität zur Tagesordnung übergehen.

Der WCCB-Bericht des Rechnungsprüfungsamtes

Am 7. Mai 2009 begründeten die Stadtverwaltung und Bauunternehmer Young-Ho Hong gegenüber dem Stadtrat, warum das WCCB nun um bis zu 60 Millionen Euro teurer werden soll. Einigen ausgeschlafenen Feierabend-Politikern kam das "spanisch" vor. Deshalb beauftragte der Stadtrat an diesem Abend das städtische Rechnungsprüfungsamt (RPA), die ominöse Baukostenexplosion beim WCCB zu analysieren und der Frage nachzugehen, ob die Stadt das Millionenprojekt angemessen kontrolliert hat. Am 24. August 2009, 48 Stunden nach Erscheinen der ersten "Millionenfalle-Folge", erweiterte die damalige Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann den Prüfauftrag um die Frage, welche finanziellen Mittel in das Projekt geflossen und verbaut worden sind. Weil die RPA-Analyse dauerte und dauerte, argwöhnte mancher Kommunalpolitiker bereits, die Prüfung verlaufe im Sande oder nicht mit dem nötigen Engagement. Seit vorgestern Abend steht das Gegenteil fest: Akribie und logische Stringenz zeichnen die 475-Seiten-Antwort des RPA aus. Das Prüferteam Helga Kaspari und Christian Gollnick kämpfte sich durch Tausende von E-Mails und 145 Aktenordner. Die Prüfer berichten von "unvollständig" dokumentierten Schriftwechseln und "keiner durchgängigen Aktensammlung der Bauvorgänge". Der hohen Kunst und Ausdauer des Prüferteams, ein kleinteiliges Puzzle zusammenzusetzen, bei dem zudem viele Teile fehlen, verdankt Bonn jetzt ein Stück Aufklärung - 475 Seiten, aus denen der GA in den nächsten Tagen und Wochen die wichtigsten Tatsachen und Zusammenhänge berichten wird. ga

OB Nimptsch will nichts unter den Teppich kehren: Disput über den Umgang mit dem WCCB-Bericht gegenüber der Öffentlichkeit. Heute tagt die UNCC-Gläubigerversammlung

"Das WCCB hängt wie ein Dämon über dieser Stadt", sagte gestern Abend Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch im Hauptausschuss der Stadt - ein Projekt, von dem heute niemand weiß, ob es die Kommune 100, 150, 230 oder 270 Millionen Euro kosten wird. Eine erste Weichenstellung, möglicherweise zur WCCB-Rückübertragung an die Stadt oder einen Dritten, könnte heute erfolgen, wenn die Gläubigerversammlung des Bauherrn UN Congress Center GmbH (UNCC) tagt.

Am Abend zuvor hatte Nimptsch in der Sitzung des Rechnungsprüfungsausschusses an Rat und Verwaltung appelliert, sich über alle parteipolitischen Grenzen hinweg auf die Vollendung des WCCB-Projektes zu konzentrieren. Gleichzeitig solle und werde aus der Vergangenheit nichts unter den Teppich gekehrt werden. Danach erhielten die Politiker im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung den mit Spannung erwarteten, streng vertraulichen Bericht der WCCB-Rechnungsprüfer. Und der war für jedes Ratsmitglied namentlich gekennzeichnet. Auf jeder Seite. Erstaunt waren einige, dass ihnen der OB quasi ein vierwöchiges Schweigegebot verordnen wollte. Beraten und bewertet solle der RPA-Bericht erst werden, wenn alle Stellungnahmen der betroffenen Dienststellen eingegangen seien, sagte er - und erinnerte an eine "klare Verabredung" zwischen ihm und den Fraktionsspitzen.

Daran konnte sich Grünen-Fraktionschef Peter Finger nicht erinnern: "Was soll denn diese Geheimniskrämerei?" Das WCCB-Drama werde am Ende weitgehend durch die Steuerzahler bezahlt, weshalb die Öffentlichkeit das Recht habe, zügig und umfassend informiert zu werden über Ursachen und Verantwortung. Deshalb sei auch verabredet worden, für die Öffentlichkeit ebenfalls einen Prüfbericht zu erstellen - selbstredend ohne datenschutzrelevante Fakten. Davon wiederum wusste RPA-Leiter Horst Schallenberg auf Nachfrage des GA bis zur Sitzung nichts.

Nimptsch blieb dabei, das Verfahren sei so abgestimmt gewesen. Und dass Finger das nicht wisse, liege daran, dass die Grünen schon mal in wechselnder Besetzung an den Gesprächen teilnähmen.

Auch Bürger-Bund-Fraktionschef Bernhard Wimmer plädierte für vorzeitige Transparenz. Er habe eigens den Termin einer Bürgerversammlung zum WCCB auf gestern Abend verschoben, um über den RPA-Bericht informieren zu können, sagte er später. "Und das lasse ich mir von niemanden, auch nicht vom Oberbürgermeister verbieten." Als Stadtrat sei er nur dem Wohl der Stadt Bonn und ihrer Bürger verpflichtet.