Die GENERAL-Anzeiger-Berichte, 09.06.2010

Die Millionenfalle, Teil 38

Eine bleierne Stimmung liegt über dem World Conference Center Bonn (WCCB). Nur schemenhaft erkennt man Täter und Opfer. Möglich, dass einige Täter waren und es nicht ahnten. Auch möglich: Dass aus ahnungslosen Tätern Opfer wurden. Jedenfalls wirken zwischen den harten Fakten - Insolvenzen, Ermittlungen, Zukunftssuche - heute auch die unsichtbaren Kräfte der Täter-Opfer-Psychologie.

Forscher haben herausgefunden, dass die Psyche des Täters sich mit dem Danach besser arrangiert als die des Opfers. Der eine ist Herr seiner Tat, während das Opfer Ohnmacht und weniger Selbstvertrauen spürt.

Daraus folge "die große psychologische Ungerechtigkeit, dass Täter sehr viel besser mit ihren Taten leben können als die Opfer mit dem, was sie durchmachen mussten", so der Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer. Und: Es werde die Fähigkeit von Menschen unterschätzt, unangenehmen Wahrheiten auszuweichen.

Beim WCCB ist nichts angenehm. Oder übersichtlich. Das Geschehen hat auch manche psychologische Verwerfung produziert. Die Bürger, der Rat und Bonns Oberbürgermeister (OB) Jürgen Nimptsch (SPD), realisieren gerade: Dass sie für den ganzen Scherbenhaufen mit mehr als 100 Millionen Euro - Tendenz steigend - haften und ihnen trotzdem nichts gehört.

Das widerspricht der Alltagserfahrung: Wer das Bestellte bezahlt, besitzt es danach. In der Regel.

Bonn empfindet kollektiv Unrecht. Gefühltes Recht ist jedoch selten justiziabel. Nur nachvollziehbar: Die Stadt ist eigentlich der Investor des WCCB; sie trägt als Bürge nicht nur den Löwenanteil am Invest, sondern hatte heimlich sogar für das fehlende Eigenkapital des Dreiecks Man-Ki Kim, UNCC und SMI Hyundai, des Bauherrn, gebürgt.

Die UNCC war nur eine private Investitionshülle, die Bonn mit über 100 Millionen aufpumpte. Da Stadt und Sparkasse die Mittelkontrolle nur lässig (siehe Millionenfalle 36) begleiteten, ließen sich der mittellose Kim und Helfershelfer nicht zweimal bitten - und brachten ihre Schäfchen ins Trockene. So blieb weniger Geld zum Bauen übrig.

Die Erkenntnis, alles bezahlen zu müssen, nichts zu besitzen und noch nicht einmal Gläubiger zu sein, provoziert Zorn, Entsetzen, Tristesse, Empörung, Ohnmacht. Ein emotionsgeladener Cocktail, der eine nüchterne Situationsanalyse trübt und die Sehnsucht nach Sündenböcken fördert. Sie, die Analyse, wird auch dadurch erschwert, dass der neue Stadtrat in Teilen der alte ist. Er ist mehr Opfer als Täter.

Der Rat hatte sich von der ehemaligen OB Bärbel Dieckmann und Hyundai-Rädelsführern wie eine Schafherde zu verheerenden Beschlüssen treiben lassen. Teilweise wurden die Volksvertreter sogar betrogen, aber die Mehrheit glänzte auch nicht durch kompetente, kritische Begleitung. So wurde der Rat "Stimmvieh". Oder dazu missbraucht. Eine Frage der Perspektive, wie so vieles beim WCCB.

Auch der frische Wind einer Kommunalwahl hat die psychologische Situation eher verkompliziert. Der neue OB Nimptsch, von dem nicht eine WCCB-Scherbe stammt, soll nun nach Art eines Wunderheilers die Stadt flott aus einer völlig verkorksten Situation lotsen. Dazu ist Nimptsch ein Minderheiten-OB.

Zudem muss er sich mit einem Rat arrangieren, in dem die "Psychologie des gebrannten Kindes" herrscht. Leichtfertiges Armheben, kritikloses Abnicken - das war gestern. Dass der neue OB das Bedürfnis der Betrogenen nach Vergangenheitsbewältigung übergeht, macht es nicht einfacher.

Es könnte sich Unmut anstauen, der sich in parteipolitischen Reflexen entlädt. Wenn der für die Ausgangssituation nicht verantwortliche Nimptsch nun am Pranger steht, weil er im kompliziertesten Insolvenzfall Deutschlands noch keine Lösung für Bonn parat hat, so zeigt auch das: Die Situation ist psychologisch völlig verfahren.

Es scheint, als sei aber auch Nimptsch vom gefühlten Unrecht infiziert. Eingezwängt zwischen drohendem Nothaushalt und schwacher Rechtsposition ist der ehemalige Schulmanager in ein Loch gefallen, dessen Perspektive er (noch) nicht akzeptiert: Ohne zusätzliche Millionen wird Bonn nicht UN-Stadt mit WCCB.

Da beißt die Maus keinen Faden ab. Vielleicht düngt große Not auch abwegigste Gedanken. So hatte Nimptsch nach GA-Informationen zwischenzeitlich erwogen, mit der Sparkasse über die städtische Kreditbürgschaft zu streiten, weil diese von argusäugigen EU-Hüter als unlautere Beihilfe empfunden werden könnte. Aber vielleicht steckte hinter diesem gedanklichen Ballon auch nur die Tages-Weisheit einer überdrehten Beratung von 13 000 Euro täglich?

Wer die schwer verdauliche WCCB-Suppe auslöffeln soll, muss seine Situation realistisch einschätzen und, weil ein Hauch der Schuldfrage stets mitschwingt, akzeptieren, dass der WCCB-Meteorit kein Schicksalsschlag war. Alles, was heute passiert oder nicht passiert, ist eine Folge von gestern und vorgestern.

Auch der Dschungel rechtlicher Abhängigkeiten und juristischer Unwägbarkeiten. Da hilft nur die herkömmliche Machete: Geld, Euro, Millionen. "Am Ende des Tages wird die Stadt der Hauptgeschädigte sein", sagt ein Fachbeobachter.

Dass die aus der Vorgeschichte entstandenen Demütigungswunden noch nicht verheilt sind, spiegelt die letzte Ratssitzung. Die Volksvertreter und der OB kämpfen um den richtigen WCCB-Weg in die Zukunft.

Der Heimfall (siehe Millionenfalle 37) soll dazu das Vehikel sein. Als würde Nimptsch wittern, dass der Heimfall ein Holzweg sein könnte, rutscht ihm der Satz raus: "Man kann alles vom Insolvenzverwalter (Christopher Seagon/Anm. d. Red.) haben, wenn man genug Geld auf den Tisch legt." Das klingt nach einem Abzocker, nach listig ausgelegten dicken Kröten, die Bonn schlucken soll.

Nimptsch spricht öffentlich, dazu live im Internet. Er muss damit rechnen, dass die Mitspieler im WCCB-Poker - Seagon, Sparkasse, Arazim - zuhören. Vielleicht hofft er es sogar und sagt ihnen auf diese Weise, was er ihnen schon immer einmal sagen wollte. Nimptsch sagt: "Seagon will aus dem Projekt das Maximale für sich herausholen."

Als er verbal zur Sparkasse ausholt, betont er "unsere Sparkasse" so, als verhalte die sich nicht angemessen - wie es die Stadt mit 30 Prozent Anteilen am Zweckverband Sparkasse KölnBonn erwarten könnte. Und dann zu Arazim: Die haben einen Kredit von zehn Millionen Euro mit Wucherzinsen zurückerhalten und haben - sinngemäß - den Hals immer noch nicht voll. Kims verwahrlostes Erbe rechtfertigt in der Tat jede Empörung. Kurzum: "Wir haben nicht nur Freunde", sagt Nimptsch.

Seine Sätze klingen wie eine Moralpredigt, auch wie ein Flehen: Warum hilft uns keiner, kommt uns keiner entgegen? Hat die Stadt nicht schon genug geblutet? Vielleicht möchte er so solidarische Effekte erzeugen, wenigstens in der WCCB-Frage das parteipolitische Gezänk einmal verbannen.

Aber was nützt ein Rat als Wagenburg, in der alle auf Feindbilder eingeschworen sind? Was nützt das gegen Paragrafen? Keine Silbe verliert Nimptsch über das Selbstverständliche: Dass jeder für sich das Beste herausholen will. Seagon, Stadt, Sparkasse.

Seagon, einziger Akteur ohne WCCB-Vorgeschichte, taugt kaum als Feindbild, noch nicht mal aus populistischen Motiven. Am Ende entscheiden Richter, nicht Wähler. Bei Seagon laufen jetzt viele Fäden zusammen, weil kriminelle Machenschaften vier GmbHs in die Insolvenz getrieben und knapp 100 Handwerksbetriebe auf ihren Rechnungen sitzen gelassen haben. Also: von Amts wegen.

So ein gerichtlich bestellter Aufräumdienst kommt immer dann, wenn alles schiefgelaufen ist. Letztlich erscheint Seagon aber, weil die Stadt eine Rolle als Bauherr scheute, gleichzeitig aber nicht davor zurückschreckte, Möchtegern-Investoren Millionen anzuvertrauen. Eine verheerende Weichenstellung.

Ohne diese unglaubliche Konstellation gäbe es heute kein gefühltes Unrecht. Dieser Anfang hat erst ein solches Ende ermöglicht - und Bonns Kompassnadel durch psychologische Kräfte abgelenkt, was den Fortschritt in der Sache verlangsamt. Es warten unbequeme Wahrheiten, danach bittere Pillen. Sie sind kaum bitterer als das, was Bonn zuvor alles zugelassen hat.