Die GENERAL-Anzeiger-Berichte, 08.07.2010

Die Millionenfalle, Teil 40

Der Businessplan vereinigt alle. Pessimisten wie Optimisten, Hasardeure wie Pfennigfuchser. Hier lässt er die Stunde von Größenwahnsinnigen schlagen, dort provoziert er den Präzisionseifer der ganz Genauen.

Alle eint, dass sie die Zukunft einer Geschäftsidee in Zahlen fassen müssen. Sei es die für eine Kebab-Bude, eine Software-Schmiede oder eben ein Kongresszentrum: ohne Businessplan kein Kredit, auch kein Steuerzahlergeld. Es ist keine Übertreibung, in Businessplänen Knetgummi zu sehen.

Als der Bonner Stadtrat vor viereinhalb Jahren dem Projekt "World Conference Center Bonn" (WCCB) zustimmen sollte, war die Expertise des städtischen Investorenauswählers Michael Thielbeer die Bibel. Wenn Bonn sich für SMI Hyundai & Man-Ki Kim entscheide, würde später noch nicht einmal ein städtischer Betriebskostenzuschuss nötig. Wörtlich: "Bleibt es beim Business-Plan, kann SMI Hyundai seine Zusage, ohne operative Zuschüsse der Stadt auszukommen, halten."

Der mutmaßlich korrupte Thielbeer hielt 200 000 und mehr Kongressteilnehmer pro Jahr für "optimistisch, aber plausibel, (...) insbesondere vor dem Hintergrund des Aufbaus der Handelsvertretungen und der überaus starken koreanischen Beziehungen und Vernetzungen". Blablabla, wie man heute weiß. Thielbeer rechnete 30 Millionen Euro Mehrumsatz pro Jahr vor - "sukzessive steigend".

Damals, 2005, war es schon gängiges Wissen: Kongresszentren rechnen sich nicht. Doch hatte das Zahlenmärchen aus der Feder des unter der Hyundai-Tarnkappe agierenden Thielbeer mehr Gewicht als gesunder Menschenverstand.

Seit Ende vergangener Woche haben es die Bonner Ratsmitglieder von Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch (SPD) schriftlich: "Konferenzzentren wie das WCCB können nicht wirtschaftlich betrieben werden", steht auf Seite 103 der nicht-öffentlichen Beschlussvorlage 1012138, die der Stadtrat am Donnerstagabend verabschieden soll. Die Stadt ist auf dem Boden der Tatsachen angekommen.

2005 rief Bonn "Leinen los" für das südkoreanische Traumschiff "Man-Ki Kim": Die Stadt erhielte ein WCCB samt 352-Zimmerhotel ohne einen eigenen städtischen Euro und, wenn alles gut läuft, ohne jährlichen städtischen Betriebskostenzuschuss. Das erschien wie eine Win-Win-Situation: nichts investieren, aber später profitieren.

Denn ein WCCB sorgt für höhere Umsätze in der Region, von denen alle profitieren, auch die Stadt über Umwege, weshalb der Effekt Umwegrendite heißt. Inzwischen ist das Traumschiff gesunken - in der Insolvenz. Bauherr, Baufirma, zwei Betreibergesellschaften: alle pleite.

2010: Das WCCB kann die Stadtkasse laut Beschlussvorlage mit 140,6 und 175,9 Millionen Euro belasten, wenn der Heimfall in der Komplettversion, wie von Nimptsch favorisiert, umgesetzt wird - und wenn ein Käufer später 51,5 Millionen für das Hotel zahlt. Die komplette Rückeroberung des WCCB-Cockpits ist eine von sechs aufgelisteten Handlungsoptionen.

Die kleiner gedruckten Restrisiken im Anhang inspirieren aber auch zu Option Nummer sieben, einem "Alles-läuft-gegen-uns"-Szenario. Wer Risiko für Risiko addiert, landet bei mehr als 250 Millionen ohne Verkaufserlös. Und dabei ist sogar unterstellt, dass die für Arazim B.V. eingetragene Grundschuld weiter ignoriert werden kann.

Wie Thielbeer 2005 malt auch Nimptsch 2010 die Umwegrendite in fröhlichen Farben. Obwohl Kongresszentren sich nicht rechnen, "werden Messen und Kongresszentren von Kommunen unterhalten", schreiben Nimptschs Berater von PricewaterhouseCoopers (PwC). Wegen der Umwegrendite. Rechenexempel für 2014: 150 000 Teilnehmer, 300 bis 400 Euro Umsatz pro Teilnehmer in Bonn und Umgebung, Mehrumsatz für die Region 40 bis 60 Millionen pro Jahr. Damit liegt PwC noch oberhalb der SMI-Hyundai-Annahme.

Die Umwegrendite ist, wenngleich kaum messbar, keineswegs eine Fata Morgana, eine Glaubensfrage oder etwa nur ein argumentatives Schmiermittel, damit Großprojekte besser durch die Gremien gleiten. Unbestritten: Ein Standort für Messen oder mit Kongresszentrum sichert oder steigert die Zahl der Arbeitsplätze und damit sein Konsumvolumen. Und: Positive Beschäftigungseffekte bedeuten weniger Sozialkosten. Trotzdem bleiben viele Wenn und Aber. Vor allem kann ein Kongresszentrum nicht kosten, was es will, weil das Wunderbalsam "Umwegrendite" später alle Wunden heilt. Mehr Taxifahrten, mehr bezahlte Hotelbetten, mehr georderte Sauerbraten samt Kölschstangen, mehr Verkäufe im Handel und Aufträge für Dienstleister: Vom Mehrumsatz über den zu versteuernden Gewinn bis zu einem Gewerbesteuer-Euro in der Stadtkasse ist es ein langer Weg.

Von einem WCCB-bedingten Mehrumsatz landet die darin enthaltene Mehrwertsteuer - konkret 19 Prozent - erst einmal in der bundesweiten Umverteilungsmaschinerie. Von einer WCCB-Umwegrendite profitieren somit auch Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Bereits vor vier Jahren stellte das "Handelsblatt" fest: "Das Argument der Umwegrendite, die bisher alle Investitionen rechtfertigte, wird immer häufiger in Frage gestellt."

Einer, der sich im Kongressgeschäft auskennt, ist Norbert Stoeck, Leiter der Practice Group Mega Events & Trade Fairs bei Roland Berger Strategy Consultants (München). Stoeck sagt: "Die Mischung aus Bundesviertel, UN-Stadt und der landschaftlichen Kulisse am Rhein wird funktionieren."

Die Kongressbranche sei "ein Wachstumsmarkt", wenngleich es einen Trend zu preiswerten statt teuren Hotels gebe. Stoeck: "Gerade Neulinge haben eine Chance, weil sie ein neues Umfeld bieten." Das Bonner WCCB am Rhein und mit der Aussicht aufs Siebengebirge gehört damit offenbar zu den chancenreichen Newcomern.

Stoeck beobachtet die Branche seit Jahren, erstellt Studien, kennt auch die Unwägbarkeiten und sagt: "Man kann die Umwegrendite nicht regionalisieren" - wer vor Ort tagt, konsumiert nicht automatisch im selben Ort. Die Bonner Verwaltung zitiert unter "Begründungszusammenhänge" aus verschiedenen Studien: Von den "tourismusinduzierten Ausgaben" vor Ort "entfallen 50 Prozent auf den Einzelhandel und rund 30 Prozent auf Gastronomie und Hotels". Das klingt plausibel, aber die Erwartungen erfüllen sich nur, "wenn die Stadt denn auch ein guter Einkaufsstandort ist", sagt Stoeck. So könnte Bonns Nähe zu Köln zum Fluch und der Umweg der Rendite zu lang werden.

Auch der nationale Wettbewerb ist härter geworden. In Deutschland, dem weltweit zweitgrößten Kongressmarkt, ist die Zahl der großen Veranstaltungsstätten binnen vier Jahren von 1400 auf 1554 gestiegen. Die Kongresszentren buhlen wie die Multifunktions-und Messehallen um Veranstaltungen, was die Mieten nicht gerade nach oben treibt.

Ganz im Gegenteil: "Die Top-Veranstalter wissen, was sie wert sind und spielen die Städte gegeneinander aus", sagt Stoeck. Es gebe sogar den Trend, "dass die Veranstalter Geld dafür wollen, wenn sie kommen". Fazit: "Man kann mit einem Kongresszentrum kein Geschäft machen." Eine schwarze Null für den Betrieb sei möglich, aber das reine Tagungsgeschäft reiche nicht für den Kapitaldienst, für Zins und Tilgung der Investition - außer, es gebe quersubventionierende Faktoren.

In Deutschland rechnet sich deshalb nur das Estrel Convention Center in Berlin, das zugleich mit über 1 100 Zimmern das größte Hotel des Landes beherbergt. Das WCCB-Hotel bringt es nur auf 336 Zimmer, könnte dennoch künftige Kongressverluste etwas ausgleichen, zumal Bonn den Vereinten Nationen bei 20 Tagen pro Jahr einen 90-Prozent-Rabatt einräumen muss. Aber genau dieses - noch unfertige - Hotel will Bonn erst selbst fertig bauen und später verkaufen, damit der Kredit nicht ins Uferlose wächst.

Ein Thema, bei dem sich viel behaupten und wenig belegen lässt, lädt förmlich ein zur fruchtlosen Debatte. In Konstanz lehnten die Bürger kürzlich ein Konzert- und Kongresshaus ab. Politiker hatten mit der Umwegrendite argumentiert, die 82 000 Konstanzer nur auf die Kredithöhe gestiert. Was richtig oder falsch war, wird sich nie klären lassen, weil das Experiment nicht stattfindet. In Bonn braucht es keine Debatte mehr über das Grundsätzliche, sondern nur noch über den richtigen Weg.

Die Stadt steht überall im Wort: Nicht nur bei Bund und Land, sondern seit 2002 auch bei den Vereinten Nationen. Die ehemalige Bundeshauptstadt will ihren UN-Stadt-Status ausbauen. Ein Konferenzzentrum ist dafür unverzichtbar. Vor zwei Jahren besichtigte UN-Generalsekretär Ban-Ki Moon das letzte Mal den Baufortschritt.

Welcher Weg ist nun der beste, um die mit Insolvenzen übersäte Baustelle wiederzubeleben? Was ist das Beste? Das Preiswerte? Oder der Weg, der weitere Imageverluste minimiert? Gibt es einen Mittelweg? OB Nimptsch will nichts mehr riskieren, keine bösen Überraschungen mit windigen Partnern erleben. Vor allem kann die Stadt nicht weiter Zeit vertrödeln. Wachsende Baustillstandkosten und die UN sitzen ihr im Nacken.

Deshalb plädiert Nimptsch für die große Heimfallversion. Aber die kostet - und bedeutet für den städtischen Haushalt mehr als Klimmzüge.