FOCUS, 04.07.2005

Verfahren Molto Delicato

Offiziell steht Adriana B. in Diensten des Volkswagen-Konzerns. Doch niemand will derzeit offiziell sagen, welche Arbeit die attraktive Dame aus São Paulo in den vergangenen Jahren eigentlich zu verrichten hatte. In welchem Auftrag die Brasilianerin auch immer unterwegs gewesen ist — ihre mysteriöse Mission spielte beim Rücktritt von Klaus Volkert als Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei VW offenbar eine entscheidende Rolle.

Der Absturz des Gewerkschafters katapultierte die von FOCUS zuvor aufgedeckte Schmiergeldaffäre bei VW zur bundesweiten Top-Nachricht. Schließlich war Volkert über Jahre einer der wirklich Mächtigen in einer der größten Firmen der Republik. Und der Wolfsburger Wirbelwind könnte an Stärke noch zunehmen: Schon wird über einen bevorstehenden Rücktritt von Peter Hartz spekuliert, dem prominenten Kanzler-Freund und Autor der nach ihm benannten Arbeitsmarktreformen.

Auf unglaubliche Vorwürfe waren die internen Ermittler in der Wolfsburger Zentrale offenbar kurz vor Volkerts überraschendem Abgang gestoßen. Die Indizien nähren den Verdacht, dass der oberste Kämpfer für die Arbeitnehmerrechte gleich in zwei mutmaßliche Raffke-Affären verstrickt sein könnte. Gemeinsam mit dem wegen Schmiergeldvorwürfen gefeuerten Skoda-Vorstand Helmuth Schuster soll Volkert versucht haben, verdeckte Geschäfte auf Kosten des eigenen Konzerns zu machen und sich auf diese Weise zu bereichern.

Das zweite Problem des einflussreichen Gewerkschafters hieß offenbar Adriana B., die der verheiratete Volkert 1998 im Club Méditerranée in Brasilien kennen gelernt haben soll. Volkswagen hat die Südamerikanerin vermutlich jahrelang großzügig unterstützt, ergaben die konzerninternen Nachforschungen. Die Zuwendungen sollen über einen vorgeblichen Werbevertrag getarnt gewesen sein. Volkerts Club-Entdeckung durfte demnach stets als Erste-Klasse-Passagier nach Deutschland einfliegen (Hin- und Rückflug zirka 6000 Euro), wo ihr jederzeit ein VW-Fahrzeug zur Verfügung stand. Mit dem Betriebsratschef traf sie sich angeblich in einer von Volkswagen bezahlten Wohnung in Braunschweig.

Sogar einen Hauskauf in Brasilien scheint der Autobauer mitfinanziert zu haben. Etwa 60000 Euro seien dafür geflossen, vermuten firmeninterne Fahnder. Offenbar begleitete die Brasilianerin den Aufsichtsrat Volkert häufig auf dessen zahlreichen Auslandsreisen. Zuletzt sollen die beiden Anfang Juni im 5-Sterne-Hotel „Lapa Palace“ in Lissabon, einer Luxusherberge aus dem 19. Jahrhundert, für vier Nächte logiert haben.

Geldnöte kannte B. bei ihren häufigen Visiten in Deutschland nicht. Bei der Sparkasse im niedersächsischen Gifhorn existiert ein Konto für Adriana B., auf das VW pro Quartal 23008 Euro einzahlte. Diese Summe bestätigte B. gegenüber FOCUS. Allerdings gibt sie an, für das Honorar auch Gegenleistungen erbracht zu haben: Sie produziere regelmäßig Firmenvideos für VW. Zuletzt will die Journalistin und ehemalige Animateurin einen Werbespot für Volkswagen in der chilenischen Atacama-Wüste gedreht haben. „Ich habe das Geld bekommen und arbeite auch dafür“, sagt B. Eine Liebesaffäre mit Volkert bestreitet sie.

Über ganz andere Informationen verfügen hingegen die Experten der Wolfsburger Revisionsabteilung. Nach ihren Erkenntnissen soll sich hinter den Zuwendungen für B. ein mutmaßlicher Filz-Fall verbergen. Die Zahlungen an die Brasilianerin soll ein hochrangiger VW-Manager abgewickelt haben, dem der Autobauer in der vergangenen Woche gekündigt hat. Von den ungewöhnlichen Sponsorleistungen wussten offenbar nur ganz wenige im Konzern. Wer zu den Eingeweihten zählte, überprüfen derzeit die VW-Ermittler.

Auf FOCUS-Anfrage teilte VW Brasilien mit, eine Adriana B. sei im Unternehmen nicht bekannt. Unter ihrer Mitarbeit seien weder Werbefilme noch Firmenvideos für das südamerikanische Tochterunternehmen produziert worden. Ein Sprecher der Zentrale in Wolfsburg sagte, ob B. tatsächlich Leistungen für den Konzern erbracht habe, „müssen wir prüfen“. Nach seinem Rücktritt tauchte Volkert ab und war am vergangenen Freitag für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Wo die Antworten fehlen, grassieren die Gerüchte: Eine höchst infame und eigentlich irrwitzige Spekulation vergiftet derzeit die Gespräche in den Wolfsburger Chefetagen. Demnach könnte der eigentliche Zweck für die Bezahlung der Brasilianerin darin bestanden haben, den wichtigen Betriebsratschef Volkert milde zu stimmen — etwa im Hinblick auf Arbeitszeitverlängerungen und Investitionsentscheidungen im Konzern. Ein ungeheurer Verdacht, der — würde er sich bestätigen — zum GAU beim VW-Vorstand führen würde.

Auch unabhängig von diesem Horrorszenario: Vorstandsmitglied Peter Hartz wird sich bald erklären müssen. Was wusste der Kanzler-Ratgeber über Volkerts mögliches Fehlverhalten?

Hartz soll nach internen Ermittlungen mehrere brisante Volkert-Belege abgezeichnet haben. Auch habe er scheinbar erst vor kurzem seinen Widerstand aufgegeben, die Abrechnungen des Gesamtbetriebsratsausschusses, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, der Revisionsabteilung zu übergeben.

Mit dem geschassten Skoda-Vorstand Schuster und dem zurückgetretenen Betriebsratschef Volkert verlor Hartz gleich zwei enge Vertraute innerhalb weniger Tage. Womöglich muss nun auch der Personalvorstand schon bald den Autobauer unfreiwillig verlassen. „Er wird die nächsten Tage wohl kaum überleben“, orakelt ein hochrangiger Manager. Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch dagegen beteuerte am vergangenen Freitag, Hartz werde Personalvorstand bei VW bleiben. Der Aufsichtsrat werde ihm „keinen Aufhebungsvertrag anbieten“.

Auslöser der VW-Affäre waren die mutmaßlichen Machenschaften von Skoda-Manager Helmuth Schuster, die FOCUS vergangene Woche enthüllt hat und die mittlerweile auch die Staatsanwaltschaft Braunschweig beschäftigen. Laut Strafanzeige von VW soll der Hartz-Getreue Schuster Schmiergelder von einem Zulieferer für die geplante Autoproduktion in Indien verlangt haben. Auch steht er im Verdacht, über Tarnfirmen lukrative Generalimporteursverträge für Indien und Angola mit seinem Arbeitgeber abgeschlossen zu haben, ohne dass Volkswagen von Schusters Beteiligungen wusste. Der exklusive Zwischenhandel beschert den VW-Generalimporteuren häufig Millionengewinne.

Der Fall Schuster hatte sich VW-intern zu einem überaus spannenden Kriminalstück entwickelt. Nach ersten Hinweisen aus Prag vor etwa einem Jahr kümmerte sich die Sicherheitsabteilung um die Aktionen des Top-Managers und stieß dabei offenbar auf erhebliche Widerstände in der Chefetage. Vorstand Hartz, so kolportieren Kreise in Wolfsburg, hielt schützend die Hand über seinen Zögling, der seine Arbeitsmarktideen mit zu Papier gebracht hatte.

Die VW-Detektive ließen nicht locker und entschieden, Schuster zu beschatten. In den vergangenen Monaten hatte der Skoda-Mann zumeist ein Observationsteam im Nacken. Der geheime Spionage-Einsatz endete Mitte Juni. Als die VW-Spitze angesichts der massiven Erkenntnisse den Daumen über Schuster gesenkt hatte, erschien der tschechische Werkschutz beim verdutzten Vorstand und forderte ihn auf, sein Büro unverzüglich zu räumen. Offiziell schied Schuster auf eigenen Wunsch aus dem Unternehmen aus. Vor allem der neue VW-Markenvorstand Wolfgang Bernhard war es, der ohne Rücksicht auf langjährige Seilschaften die Karriere des Skoda-Vorstands zügig beendete.

Der einst als Hartz-Nachfolger gehandelte Schuster ging in seinen verdeckten Nebenjobs äußerst trickreich vor, fanden die Spezialisten der Revisionsabteilung heraus. In Indien kassierte er angeblich über einen Vermittler rund drei Millionen Euro, weil er der Regierung im Bundesstaat Andra Pradesh die Errichtung eines VW-Werkes versprochen haben soll. Auf offiziellem Volkswagen-Briefpapier soll er die Zusage verfasst haben. Allerdings ist die endgültige Standortentscheidung in Wolfsburg bis heute nicht gefallen.

Bei seinen Geschäften in Angola stellte er zur Kontaktpflege, so die VW-internen Ermittlungen, die Tochter eines hochrangigen Regierungsmitglieds in seiner Tarnfirma an, die wiederum den Generalimporteursvertrag mit Volkswagen abschloss.

Bei einem weiteren zwielichtigen Deal war Volkert offenbar mit von der Partie. Der IG-Metall-Mann wollte laut internen Volkswagen-Erkenntnissen an einem Skoda-Projekt in Prag mitverdienen. Volkert soll demnach Gesellschafter der Luxemburger Propery Finance S.A. sein. Diese Firma hielt gleichfalls die Anteile am tschechischen Unternehmen F-Bel, bei dem eine Schuster-Vertraute die Geschäfte leitete.

Die zwischengeschaltete Firma F-Belsollte sich einen lukrativen Auftrag von Skoda sichern, offenbar mit heimlicher Unterstützung von Skoda-Vorstand Schuster. Dabei ging es um den 60 Millionen Euro teuren Bau eines Autopalasts in Prag. Bei den Verhandlungen mit Skoda tauchten angeblich weder Schuster noch Volkert persönlich auf.

Die erhofften Millionengewinne blieben jedoch aus. Anfang des Jahres stoppte die Skoda-Chefetage überraschend das Prestigevorhaben. Die tschechische Tarnfirma F-Bel wurde daraufhin im April aufgelöst.

Auf die Luxemburg-Prag-Connection stießen die VW-Fahnder erst kürzlich — und dabei auch auf den Namen Klaus Volkert. Als die Konzernspitze vergangenen Mittwoch von den FOCUS-Recherchen in dem Fall erfuhr, erklärte VW-Boss Bernd Pischetsrieder die heikle Angelegenheit zur Chefsache. Der Vorstandsvorsitzende drängte auf lückenlose Aufklärung und zügiges Handeln. Inzwischen kündigte er an, er werde die Wirtschaftsprüfungsge-sellschaft KPMG mit der Untersuchung des Falles beauftragen.

Volkert wollte offenbar weitere Enthüllungen gar nicht erst abwarten. Am vergangenen Donnerstag, auf einer Betriebsversammlung in Wolfsburg, erklärte er nach 15 Jahren an der Spitze der Arbeitnehmervertretung seinen Rücktritt. Über die Vorwürfe gegen seine Person verlor der gelernte Schmied, der 1969 als Mechaniker im VW-Presswerk angefangen hatte, vor den Mitarbeitern kein Wort. Stattdessen begründete der 62-Jährige den unerwarteten Abschied mit seinem Alter und der strategischen Neuausrichtung des Betriebsrats. Nachfolger wird sein bisheriger Vize Bernd Osterloh.

Angeblich sei der Stabwechsel von langer Hand geplant gewesen. Mit riesigem Beifall verabschiedete die ahnungslose Belegschaft ihren Vorkämpfer, der als einer der einflussreichsten Betriebsräte der Republik galt.

Erst als nach der Betriebsversammlung Vorwürfe gegen Volkert publik wurden, kämpfte der abgetretene Betriebsratsvorsitzende um seinen Ruf: „Ich habe mich keiner kriminellen Handlung schuldig gemacht“, beteuerte Volkert. Sein Abschied sei vorgezogen worden, „in Kenntnis der zu erwartenden öffentlichen Diskussion um scheinbare Unregelmäßigkeiten“ im Zusammenhang mit seiner Person.

Mit Volkerts Absturz ist die Debatte bei VW freilich noch lange nicht beendet. Ferdinand Gillmeister, Rechtsanwalt des gefeuerten Skoda-Mannes Schusters, machte jedenfalls gegenüber FOCUS klar, dass sein Mandant nicht der alleinige Schuldige in der Korruptionsaffäre sei. Es handele sich um „ein Verfahren molto delicato“, so der Jurist sibyllinisch, das „mit dem Bauernopfer Schuster sicher nicht erledigt sein wird“.