"Kommando-Justiz", 17.01.2016

von Vitali NOMONOKOV

Hält man uns für Idioten?

Tichookeanskij Komsomolez , 20.01.2011

"Rituelle Tänze sind eine Form der populären Kultur, die traditionell von einer Gruppe von 100 oder mehr Männern getanzt werden. Die Tänzer singen auf charakteristische Weise, heben die Arme, schütteln sich die Hände usw. Sie zeigen den Kampf zwischen Rama, der vom Affen Vanara unterstützt wird, und dem bösen Dämon Ravana. ... Die Wurzeln des Tanzes gehen zurück auf exorzistische Rituale. Sie wurden dazu entwickelt, das Publikum und die Tänzer in Trance zu versetzen." (Wikipedia)

Das politische Jahr in Russland begann mit dem rituellen Tanz um eines der Lieblingsthemen: Die Bekämpfung der Korruption. Am ersten Tag nach dem „Winterurlaub“ fand im Kreml eine "Konferenz zur Bekämpfung von …“ statt. Präsident und Jurist Dmitrij Medwedew war der einzige Redner. Die Beobachter weisen darauf hin, dass die Darsteller keinen Mut hatten, darüber zu reden. Ob nun die „Tänze “ unter dem Weihnachtsbaum aus dem Rhythmus gekommen sind oder ob die alte Schallplatte langsam auf die Nerven ging – jedenfalls wurde das Ritual besiegt. Die Zuschauer haben unisono „Stanislawski“ skandiert: Wir glauben es nicht!

Die Gründe für den Misserfolg analysieren wir mit einem bekannten Experten für dieses Gebiet: Professor und Direktor des Wladiwostok-Zentrums für die Erforschung der organisierten Kriminalität, Dr. jur. Vitalij Nomokonow (N):

N: Soweit mir der Sitzungsbericht bekannt ist, handelte es sich um die übliche bürokratische Veranstaltung. Mir ist nicht ganz klar, warum sie statt gefunden hat, da die Strafverfolgungsbehörden noch nicht einmal die Statistik für das Vorjahr hatten. Erstens ist man zur Zeit noch damit beschäftigt, die Informationen zusammenzutragen. Eine ernsthafte Analyse steht noch aus. Zweitens, vor dem Hintergrund, dass es noch keine umfassenden Informationen gibt (die Redner hatten nur Informationen über 9 Monate vorliegen), war es ein offensichtlicher Versuch der Verantwortlichen, einen oberflächlichen Bericht zu erstatten. [...] Insbesondere vor dem Hintergrund der mangelnden Konkretheit der Korruptionsfälle, die in der Öffentlichkeit, besonders in der ausländischen Presse, für viel Wirbel gesorgt haben.

Wenn man den Berichten und Statistiken glaubt, ist der Kampf gegen die Korruption bei uns erhöht worden?

N: Ich schließe nicht aus, dass die durchschnittlichen Erfolgszahlen in Russland steigen. Aber wenn man den fernen Osten und Primorje betrachtet, erkennt man keine Senkung von Korruptionsfällen. Dies ist übrigens leicht zu sehen, nach Angaben den Medienberichten war das vergangene Jahr in der Provinz sehr ruhig und ohne irgendwelcher Erschütterungen.

Heißt das, dass niemand mehr etwas stiehlt und Ex-Gouverneur Nikolajew [aus der Region Primorje] der letzte war...?

N: Das würde ich so nicht sagen, aber angesichts der Konzentration unserer Behörden auf "Wachstums-Indikatoren" bleibt die Herkunft dieses „Wohlstands“ für mich ein Geheimnis.

Hat der Stillstand [in der Verfolgung von Straftaten] mit dem bevorstehenden internationalen Forum für Asia-Pacific Economic Cooperation (russisch АТЭС) zu tun?

N: Im Gegenteil: Der schlechte Ruf der Region Primorje als "kriminellen Hochburg" ist allseits bekannt. Deshalb hätten eigentlich unsere Strafverfolgungsbehörden zeigen müssen, dass sie in der Lage sind, in der Region das Recht durchzusetzen... Aber es passiert nichts, im Gegenteil, es ist alles ruhig und friedlich. Es lässt sich theoretisch nicht ausschließen, dass dies von der Politik beabsichtigt ist, um "keine Wellen zu schlagen" und alle Skandale zu verbergen, um in den Augen der internationalen Gemeinschaft das schlechte Bild der Region Primorje zu verbessern. Aber es ist nicht sicher, ob solche Aktionen wirklich Einfluss auf die Situation haben.

Wo sehen Sie als Experte die "weiße Flecken" auf der Korruptionskarte von Primorje?

N: Wo Geld fließt, gibt es häufig Korruption, das weiß man, auch wenn man kein Experte ist.

Das gilt erstens im Bereich der außenwirtschaftlichen Aktivitäten. Seit General Bakhschetsian verhaftet wurde, sind die Schmuggel-Kanäle nicht verschwunden, im Gegenteil, sie stehen in voller Blüte. Bakhschetsian hat alle Personen genannt, die in dieser Branche arbeiten und ihn auffordert haben, mitzumachen. Das Ergebnis ist bekannt: Der General, der die "Zusammenarbeit" verweigert hat, wurde verurteilt und die beteiligten Personen haben neue Arbeitsplätze bekommen. Der eine ging nach Moskau, der andere „arbeitet“ weiter in der Region Primorje.

Zweitens im Bereich der Bauvorhaben im Bereich der Asiatisch-pazifischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit (russisch АТЭС). Die größten Korruptionsrisiken liegen in Moskau. Aber auch in der Region Primorje wurden drei Strafverfahren gegen kleinere Firmen eingeleitet.

Drittens im Bereich der Forstwirtschaft. Hier braucht man nicht lange [nach Korruption] suchen. Der Ober-"Förster" der Region Primorje, Herr Diyuk, hat alles erzählt, aber die Strafverfolgungsbehörden haben kaum darauf reagiert - bzw. praktisch gar nicht...

Das gilt auch für den Bereich des Fischfangs: Offiziell heißt es, dass 70% der Meeresfrüchte ins Ausland illegal exportiert werden. Ist das denkbar ohne die Beteiligung des Staates (also Zoll, Grenzschutz und Fischerei)? Also unsere Strafverfolgungsbehörden müssen noch viel mehr tun in der Region. Die Frage ist, ob sie das überhaupt wollen.

Dennoch konzentriert sich der Präsident auf die kommunale Ebene. Stimmen Sie als Experte zu, dass dort das Hauptübel liegt?

N: Es ist eher ein Zeichen dafür, worauf sich das Hauptaugenmerk der Korruptionskämpfer richtet: Nämlich auf die Munizipalitäten. Die Statistik, die bei dem erwähnten Treffen vorgestellt wurde, bestätigt dies: Im vergangenen Jahr wurden wegen Korruptionsverdacht 214 Mitglieder der lokalen Regierungen, 310 kommunale Obere und nur 11 Abgeordnete der regionalen Ebene sowie ein Abgeordneter der Staatsduma strafrechtlich verfolgt...

Die Statistik, die beim Treffen mit dem Präsidenten vorgelegt wurde, sagt nichts über die Regierungsbeamten aus - so, als ob diese gar nicht existieren.

Spiegelt dies die Realitäten wider?

N: Dies zeigt die Verderbtheit unserer Anti-Korruptions-Politik und lässt vermuten, dass es im Land weiterhin eine Kaste der "Unberührbaren" gibt. Schließlich ist das die einfachste Art, mit den "Weichenstellern" zu kämpfen…

Das gilt für alle, die wir wählen können...

N: So ist es. Die Erfahrungen, die man in Singapur bei der Bekämpfung der Korruption gemacht hat und auf die sich der Kreml so gerne bezieht, zeigen, dass die "Säuberungen" von oben beginnen müssen. Der singapurische Ministerpräsident zögerte nicht, seine Verwandten und Freunde als erstes zur Verantwortung zu ziehen. Und wenn sie das Gericht verurteilt hat – nicht auf Bewährung, sondern zu einer echten Gefängnisstrafe – hat der Premier ihnen nicht geholfen. Er hat deutlich gemacht, wie ernst er die Sache nimmt.

So lange wir eine hohe Kaste der "Unberührbaren" haben, wird der gesamte "Kampf" nur wie ein läppisches Spielchen auf dem Rasen sein.

Was ist mit dem Skandal um den ehemaligen Bürgermeister von Moskau, Jurij Luschkow?

N: Was schon? Ich stimme zu, dass es der aufsehenerregendste Skandal im vergangenen Jahr war. In einem im ganzen Land gesendeten Interview sagte Medwedew offen, dass der Rücktritt des Bürgermeisters der Hauptstadt mit einem "noch nie gesehenen Ausmaß an Korruption" zu tun habe! Und was ist am Ende passiert? Beim erwähnten Treffen mit dem Präsidenten hat sich niemand mehr daran erinnert. Luschkow versucht jetzt sogar, seine Staatsbürgerschaft zu ändern. Es ist keine Rede mehr von einer strafrechtlichen Verfolgung des "korrupten" Bürgermeisters.

Dennoch hat der Präsident auf dem erwähnten Treffen behauptet, dass auf der regionalen Ebene eine grundlegende Reinigungsarbeit durchgeführt wird.

N: Glauben Sie das wirklich? Man muss nicht lange suchen, um ein Gegenbeispiel zu finden. So ist der einzige Gouverneur, der jemals für einen "Missbrauch" angeklagt wurde, der ehemalige Leiter der Region Amur, Leonid Korotkow. Am 27. Dezember 2010 wurde er vom Gericht Blagoveshchensk freigesprochen. Bei uns in der Region Primorje sind die wichtigsten Personen, die wegen skandalöser Korruptionsfälle angeklagt waren, einfach verschwunden: Der eine ist für immer „auf der Flucht", der andere wurde zuerst in eine "unbekannte Person" umbenannt und ist dann vollständig aus dem Bericht verschwunden. Auf der Anklagebank sitzen nur noch die "Sündenböcke". Das ist wieder nur eine Täuschung, weil es kein entsprechendes "Kommando" aus Moskau gab.

Oder umgekehrt: Es gab ein Kommando, dass man die Personen "nicht anfassen“ sollte?

N: Das kann man nur vermuten, aber die Politik der Doppelmoral steht im ganzen Land in voller Blüte. Das erwähnte Treffen beim Präsidenten ist ein Beispiel dafür: Während das ganze Land die Skandale um die fehlenden Milliarden von Transneft [dem Betreiber der russischen Erdöl-Pipeline], den Bau [von Putins angeblicher] Milliarden-Dollar-Villa am Schwarzen Meer und um die angeblich in der Administration des Präsidenten gezahlten „Schmiergelder“ für die Olympischen diskutiert, wird uns gleichzeitig etwas über die Korruption in der Provinz "Uryupinsk" erzählt (und vor allem nur unter den einfachen Verkehrspolizisten). Hält man uns eigentlich alle für Idioten?

Bei dem erwähnten Treffen sprach man von "Maßnahmen", unter anderem von der Aktivierung der Koordinationskommissionen durch die Leiter der jeweiligen Regionen bei Teilnahme der Strafverfolgungsbehörden.

N: Das ist schon amüsant, dass ausgerechnet der Leiter der exekutiven Macht zum "Koordinator" des Kampfes gegen die Korruption in der Region ernannt wurde. Inzwischen gibt es in allen Regionen die Vertreter des Präsidenten in Person der Federal-Inspektoren. Sie sollen die regionalen Beamten kontrollieren. Die koordinierenden Anti-Korruptions-Sitzungen fanden bei [dem oberen Inspektor] Sergej Lelyuchin statt mit allen Sicherheitskräften, den Vertretern der Exekutive, Legislative und auch der Presse, was ja auch logisch ist. Wenn nun ausgerechnet ein regionaler Beamter den Auftrag hat, die föderalen Strafverfolgungsbehörden zu "koordinieren" (die ihn kontrollieren sollen), so sieht dies zumindest seltsam aus.

Kann man die Offenlegung des Einkommens als Anti-Korruptions-Maßnahme werten?

N: Wer A sagt muss auch B sagen. Zusätzlich zu den Einnahmen sollten auch die Ausgaben der öffentlichen Beamten kontrolliert werden.

Und was ist das Problem? Heute sind es die "Einkommen" der Frau eines Funktionärs und morgen sind es ihre "Ausgaben". Worin besteht der Unterschied?

N: Weltweit funktioniert die Einrichtung der Offenlegung. Und bei uns, wie immer, gibt es zwar die Offenlegung, aber keine Mechanismen dafür. Es wurde der Auftrag ausgegeben, das alles im Zeitraum von drei Monate zu überprüfen. Zum einen ist dies physisch unmöglich. Zudem wurde der Auftrag zur Überprüfung an die Staatsanwaltschaft übertragen, die nicht in der Lage ist, die Suchvorgänge durchzuführen, da dies eine sehr anspruchsvolle Arbeit ist, für die man professionelle Mitarbeiter braucht. Aber die Einsetzung eines Untersuchungskomitees ist "irrelevant", der Einsatz des FSB auch, obwohl es wirklich ein Dienst ist, der besser als jeder andere die finanzielle Situation eines jeden unserer "VIP" kennt, aber er verweigert sich.

Das ist wieder eine Art von Illusion der intensiven Tätigkeit, anstatt tatsächlich zu arbeiten. Das gleiche kann man über die Erklärung des Präsidenten sagen, der eine "ziemlich normale Anti-Korruptions-Gesetzgebung" schaffen möchte. Glauben Sie mir, es stimmt nicht. Dort gibt es so viele Lücken und Hintertüren, durch die nicht eine "Maus“, sondern ein ganzer korrupter "Elefant" schlüpfen kann. Es gibt hier viel Lärm um nichts statt einer ernsthaften gesetzgeberischen Arbeit.

Wie beurteilen Sie die Botschaft des Präsidenten an die "Zivilgesellschaft", die sich intensiv im Internet entwickelt?

N: Die Adresse an sich ist richtig, aber ob es eine angemessene Reaktion der Behörden gibt, bezweifle ich. Die einzige offizielle Reaktion ist der Versuch, das Internet zu zensieren. Das Ungleichgewicht ist offensichtlich: Im Netzwerk gibt es eine kritische Masse an Informationen und Stimmungen - eines Tages kann alles zum Ausbruch kommen. Der 11. Dezember [die Zusammenstöße zwischen Ultranationalisten, Fußballfans, Zuwanderern und der Polizei, die am 11. Dezember 2010 auf dem Moskauer Manegen-Platz nach der Tötung eines Fußballfans durch einen Zuwanderer aus dem Nordkaukasus ausbrachen] hat gezeigt, dass das Internet heute nicht nur ein kollektiver "Propagandist und Agitator" ist, sondern auch ein realer "Organisator".

Es war das Internet, dass Tausende von Bürgern auf den Manegen-Platz brachte. Die Geduld hat eine Grenze erreicht: Tarife, Preise, Steuern – alles wird teurer und die Einkommen der Bevölkerung erhöhen sich nicht. Das Internet kann auch der berühmte "Tropfen“ sein, der das Fass der Geduld zum Überlaufen bringt. Vor diesem Hintergrund hat der Wunsch, das Internet durch Zensur "auszulöschen", durchaus Sinn.

Zu den Erfolgen zählt der Präsident die positive Beurteilung der russischen "Dynamik" der angesehenen Gruppe GREKO (Staatengruppe gegen Korruption).

N: Dies ist nichts anderes als Betrug. Was anderes kann man sagen, wenn wir von den 26 Empfehlungen dieser Organisation nur neun erfüllt haben? Welche Dynamik ist dann gemeint, wenn eine Reihe von angesehenen ausländischen Firmen ihre Mitarbeiter dafür bestraft, russische Beamte zu bestechen und wir nicht einmal darüber nachdenken, diese korrupten Beamten zu bestrafen.

Die internationale Öffentlichkeit sieht deutlich, dass es beim Fall Chodorkowskij nicht so sehr um Politik geht, sondern um einen korporativen Konflikt, nämlich die Ergreifung eines Diebes mit Hilfe der Regierung und der Komplizenschaft der Staatsanwaltschaft und der Gerichte. Das ist unsere wirkliche "Dynamik".

Vor zweihundert Jahren sagte [der russische Schriftsteller und Historiker] Karamzin einen berühmten Satz über Russland: „Jeder stiehlt". Die heutigen Beamte haben diese Behauptung wieder aufgenommen. Die Gesetzlosigkeit erklären die Beamte mit der russischen "Mentalität". Sind Sie einverstanden mit dieser Begründung?

N: Die russische Mentalität sehe ich eher in Verbindung mit einer gewissen Schludrigkeit. Aber was wir jetzt haben, ist ein Systemfehler. Das ist das Problem: Bei uns ist ein Übel zu einem Prinzip geworden. Ich bin mit dem [russischen Theater- und Filmregisseur] Andrej Konchalovsky einverstanden, der kürzlich in einem Interview (Russische Zeitung von dem 11. Januar) sagte, dass „jede staatliche Form in Russland korrupt geworden ist. Nicht, weil die Menschen schlecht sind, sondern weil es anders unmöglich ist, „sonst wird man einfach nicht überleben". Als Ergebnis hat der Staat sich selbst neu geschaffen. Sein Ziel ist es nicht, die Bedingungen für ein normales Leben der Menschen zu schaffen, sondern die Ressourcen des Landes auszubeuten und möglichst den größten Gewinn aus den Taschen der Bürger zu entnehmen zugunsten einer sehr begrenzten Gruppe von Personen. In diesem System wird das normale "Volk" überflüssig.

Interviewerin: Marina LOBODA

Interviewter: Vitali NOMONOKOV

 

 

übersetzt von Nathalia IVANOVA