"Kommando-Justiz", 25.03.2010

von Vitali NOMONOKOV

Zum Verbrecher gemacht?

Novaja Gazeta , 25.03.2010

Häufig frage ich meine Studenten, ob ihrer Meinung nach jeder Mensch dazu fähig ist, ein Verbrechen zu begehen. Das Interesse hat mit meiner Lehrtätigkeit zu tun: Ich halte Vorlesungen über Strafrecht und Kriminologie. Jedes Jahr bemerke ich, wie der Anteil derjenigen Studenten steigt, die glauben, dass jeder Mensch ein Verbrechen begehen kann. Anschließend muss ich erklären, was eigentlich gemeint ist: Die Fähigkeit, ein Verbrechen zu begehen, oder aber die Wahrscheinlichkeit, von einem Gericht als Verbrecher verurteilt zu werden.

Aus irgendeinem Grund glauben viele Menschen, dass eine Person, die ein Verbrechen begangen hat, aber dafür nicht bestraft wird, kein Verbrecher ist. Und umgekehrt glauben sie, dass jemand, der kein Verbrechen begangen hat, aber verurteilt wurde, dennoch ein Verbrecher ist. Ich muss dann den Studenten geduldig erklären, dass nicht jeder Mensch dazu in der Lage ist, ein Verbrechen zu begehen, sondern dass es eine starke Barriere in Form von Anstand und Ehre gibt.

Am 19. März 2010 wurde Oberst Alexander Astafjew, der ehemalige Chef des staatlichen Innenministeriums der Region Primorje, verurteilt. Er wurde wegen zwei Verbrechen angeklagt:

  • Missbrauch von Macht (Art. 285 Teil 1 des Strafgesetzbuches)
  • und Amtsmissbrauch unter erschwerenden Umständen (Artikel 286, Teil 3 des Strafgesetzbuches).

Das Gericht stimmte der Staatsanwaltschaft zu und verurteilte Alexander Astafjew zu vier Jahren Haft ohne Bewährung, wie es in den meisten derartigen Fällen passiert. Wahrscheinlich wurde dabei nicht nur die Forderung der Staatsanwaltschaft berücksichtigt, sondern auch die Tatsache, dass der Angeklagte bereits seit Mitte Juni 2009 im Gefängnis sitzt. Deswegen sollte er sich schon an das Leben in Gefangenschaft gewöhnen, zudem hatte er vom Staat keine Wohnung.

Aus irgendeinem Grund scheint es mir, dass unsere braven Strafverfolgungsbehörden über diesen Fall nichts an die Öffentlichkeit dringen lassen wollen. Bestenfalls werden sie von einer "gerechten Vergeltung" in Bezug auf einen neuen "Werwolf in Epauletten" berichten. Der Verlauf der Untersuchung wurde vor den Augen der Öffentlichkeit wie ein schreckliches Geheimnis verborgen. Selbst der Oberst hat darum gebeten, nicht über seinen Fall vor Beginn des Gerichtsverfahrens zu berichten. Darüber hinaus hat er sogar überraschenderweise zugestimmt, dass sein Fall ohne detailliertes Ermittlungsverfahren verhandelt wird.

Ich bin von der Notwendigkeit überzeugt, die Öffentlichkeit auf diesen Fall hinzuweisen. Astafjew wurde betrogen. Wie ich gehört habe, sollte er der Anklage zustimmen und dafür die Freiheit in Form einer Bewährungsstrafe erhalten.

Ich habe schon früher über den Fall öffentlich gesprochen. Ich wiederhole, dass ich einen offensichtlichen Zusammenhang mit dem Fall des General Bakhschetsian sehe, obwohl es hier um eine ganz andere Art von Angelegenheit geht.

Hier gibt es viele Gemeinsamkeiten. Das Hauptproblem ist die große Diskrepanz zwischen dem tadellosen persönlichen, moralischen und beruflichen Charakter des Angeklagten und der Schwere des Verbrechens, das ihm zur Last gelegt wurde. Ich erkenne hier einen gefährlichen Trend in der russischen Politik hinsichtlich der Bekämpfung der Kriminalität: Eine wachsende Missachtung des Individuums und der sozialen und rechtlichen Bedürfnisse der Menschen.

Leider sind immer mehr Fälle bekannt geworden, in denen Personen aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität (russisch: OPG) nicht verurteilt wurden, obwohl sie schwere Verbrechen begangen haben. Andererseits wurden anständige Leute wegen fragwürdiger Verbrechen angeklagt und hinter Gitter gebracht.

Ein zweites gemeinsames Element ist die deutliche Diskrepanz zwischen dem Grad der "öffentlichen Gefahr", die angeblich vom Angeklagten ausgeht, und der Härte der Strafe.

Ein drittes, und das vielleicht entscheidende Element, ist die Einleitung von strafrechtlichen Vorgängen durch die Mitarbeiter des FSB. Vielleicht liegt hier das eigentliche Problem: Der Schatten der mächtigen Strukturen hat die Einleitung vieler Prozesse und vor allem viele außergerichtliche Entscheidungen beeinflusst.

Meine Behauptungen beziehen sich auf die Zeitung Narodnoe Vetsche (Volksrat) vom 2. Juli 2009, wo trotz der Verschleierungsversuche über die Geschichte des Strafverfahrens gegen Astafjew im Detail berichtet wurde. So schreibt die Zeitung, dass Oberst Astafjew verhaftet wurde, weil er von dem FSB Oberstleutnant Alexander Zlatkin denunziert wurde, der auf diesem Wege seinen Vetter, Oberstleutnant A. Vasiltschenko, schützen wollte. Nach Angaben der Zeitung war Vasiltschenko schon in andere Skandale verwickelt.

Oberst Astafjew wurde verhaftet und angeklagt, weil er im Verdacht stand, von „Sponsoren“ drei Klimaanlagen und einen Computer erhalten zu haben. Tatsächlich wurden die Geräte vom Innenministerium der Region ordnungsgemäß erfasst und eingerichtet, was später in Abrede gestellt wurde. Da Astafjew in Haft saß, obwohl er unschuldig ist, sollte eine Sonderlösung her. Plötzlich erscheint „wie der Teufel aus der Schnupftabakdose“ ein Mann namens Sorokin im Verhörraum. Er lebt in den Vereinigten Staaten und steht laut öffentlich zugänglichen Dokumenten auf einer internationalen Fahndungsliste wegen der Begehung einer Straftat. Er macht eine Aussage, dass Oberst Astafjew schon im Jahr 2001 gegen ihn ein Verbrechen begangen hat und zwar den Missbrauch von Macht, weil ihn Astafjew bei einer Festnahme geschlagen haben soll. Laut Strafgesetzbuch drohen ihm dafür 10 Jahre Haft.

Die staatsanwaltschaftliche Untersuchungsmaschinerie ist weiter gegangen. Der Fall wurde mehrmals wieder verlängert, wahrscheinlich aufgrund seiner besonderen Komplexität.

Das Gericht hat die Aussage des Verteidigers von Astafjew nicht berücksichtigt, dass Astafjew am 18. August 2009 im Gebäude der Staatsanwaltschaft in Wladiwostok in Gegenwart des Verteidigers und eines Mitarbeiters des FSB von Sorokins Sicherheitschef, Maxim Ssotstkov, körperlich bedroht wurde.

Eine Demonstration der Macht und der Straflosigkeit?

Das Urteil gegen Alexander Astafjew ist meiner Meinung nach nicht nur unfair und eine Vergeltung, sondern ein weiterer Gewaltakt gegen einen unschuldigen Menschen im Namen und unter dem Deckmantel des Staates. Kurz ein Auftrags-Urteil (russisch „zakazucha“). Es ist bitter und beleidigend. Und wie viele solcher Urteile gibt es schon, weiß das jemand? Man hat versucht, mich zu beruhigen: „Panzer überfahren keine Mäuse“...

Vitali NOMONOKOV, Professor der FEFU, "Novaya Gazeta"

übersetzt von Nathalia IVANOVA