1 Gutachter - 2 Meinungen in ein- und demselben Fall: Prof. Dr. med. Stephan LETZEL

Was macht ein Gericht und was macht ein Gutachter, wenn beide – von oben herab verordnet – ein zweites Mal ganz anders „gut“ achten und urteilen müssen?

Dies ist die Geschichte eines solchen Falles. Sie zeigt, wie unabhängig bzw. abhängig Gutachter arbeiten. Es betrifft niemanden anderen als den Vizepräsidenten der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) - einen Vertreter der Erlanger VALENTIN-Schule in dritter Generation.

Diesen Text können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Letzel.


Das Problem der Gerechtigkeit

Wer Gerechtigkeit möchte, muss vor Gericht klagen. Gegen einen anderen. Wenn der in der besseren Ausgangsposition ist, weil er über größere Ressourcen in Form von Geld und Expertise sowie Kontakten und alteingefahrenem ‚Standing‘ innerhalb der Justiz verfügt, wird das schwierig. Dann braucht man keinen sehr guten Anwalt, sondern einen hervorragenden. Der muss sich dadurch auszeichnen, dass er topfit in der entsprechenden Rechtsmaterie ist und ein hohes Engagement aufzubringen bereit ist. Die Streitwerte vor den Sozialgerichten sind nicht sehr hoch, das Honorar, das ein Rechtsanwalt damit verdienen kann, hält sich in überschaubaren Grenzen. Dies ist nicht Sache jeden Anwalts.

Die Schwierigkeiten, einen kausalen Vollbeweis zu führen, wenn es um die Anerkennung von beruflich bedingten Gesundheitsschädigungen geht, haben wir unter Humanmedizin vs. Arbeitsmedizin angesprochen. Insbesondere dann, wenn lange Latenzzeiten oder gar ein beruflich bedingter (zu früher) Tod eines erst erkrankten und dann daran gestorbenen arbeitenden Menschen die nachträgliche Rekonstruktion erschweren oder gar unmöglich machen. Ein Toter kann selbst nicht mehr zur Aufklärung beitragen. Die trauernden Nachfahren oder Lebensgefährten sind dann oft auch überfordert, wenn es darum geht, über Jahre oder Jahrzehnte sog. Expositionsbelastungen einzelner Stoffe im Detail, sprich unter oder oberhalb von festgesetzten Grenzwerten (sofern vorhanden) und dies für klar abgegrenzte Zeiträume oder Arbeitsplätze im Nachhinein zu belegen. Und dies alles - zur Zufriedenheit der Gesetzlichen Unfallversicherung und/oder der Sozialgerichte – beweisen zu können.

Dies sind die ersten Probleme, die es zu meistern gilt.

Weitere offenbaren sich in Gestalt von Gutachtern. Sie werden regelmäßig eingeschaltet. Die Gesetzliche Unfallversicherung beauftragt meist jene, die sie immer beauftragt. Routine sozusagen. Dann wissen beide, Auftraggeber wie Auftragnehmer, was gefragt ist, sprich: was gewünscht wird.

Jene, die klagen, haben ebenfalls das Recht einen Gutachter ihrer Wahl einzubinden, müssen diesen aber ersteinmal selbst finanzieren. Sieht sich das Sozialgericht dann mit Gutachten gegenteiliger Meinung konfrontiert, suchen sich die Richter selbst einen Gutachter aus. Gerne einen Professor Dr. med., der an einer renommierten Universität forscht und lehrt. Also einen gestandenen Arbeitsmediziner.

Der ist dann gehalten, nicht nur die gegensätzlichen Gutachten zu begutachten, sondern muss dann selbst zu den relevanten Fragen Stellung beziehen: für die Richter so eindeutig und klar, dass sie die ausformulierten Bewertungen gleich - mittels copy & paste - in die Urteilbegründung einbauen können. 

Soweit das übliche Verfahren. Es ist ausgesprochen selten, dass Klagen auf Anerkennung einer beruflich bedingten Gesundheitsschädigung, also einer Berufskrankheit, über die zweite Instanz hinauskommen. Es ist die Regel, dass solche Klagen in erster Instanz vor den Sozialgerichten abschlägig beschieden werden. Und es ist ebenso die Regel, dass eine Berufung vor dem Landessozialgericht ebenso scheitert. Damit verbunden ist im Urteil regelmäßig auch die Nichtzulassung zur letzten Instanz, dem Bundessozialgericht. Die Richter in zweiter Instanz wollen sich – gegenüber der obersten Instanz - keine Blöße zeigen.

Mit einer Nichtzulassungsbeschwerde vor dem höchsten Sozialgericht in Kassel Erfolg zu haben, ist ausgesprochen selten. Im statistischen Mittel gelingt das in der Kammer, die für Verfahrensfragen im Zusammenhang mit Unfallversicherungsfragen zuständig ist, nur in 7,3% aller Fälle (2017). Rund 93 Prozent der Nichtzulassungsbeschwerden scheitern, werden einfach nicht angenommen.

In der folgenden Rekonstruktion wird der beschwerliche Weg einer Witwe beschrieben, deren Ehemann ein Vierteljahr nach der ersten Anzeige über eine Berufskrankheit durch den Hausarzt eben daran verstorben war. Ein Weg durch alle Instanzen. Und ein komplizierter Pfad durch mehrere Gutachten mehrerer Gutachter.

Der letzte Gutachter hatte den schwierigsten Job. Das erste Gutachten ging ihm vermutlich leicht von der Hand. Und damit schien auch alles erledigt zu sein. Allerdings: die Richter am Landessozialgericht Baden-Württemberg begingen einen Verfahrensfehler. Und mussten den Prozess wiederholen. Aber mit einem anderen Ergebnis, sprich Urteil. Denn das vorangegangene konnte keinen Bestand haben, weil es sich die Richter zu einfach, zu bequem gemacht hatten. Deswegen musste auch der gerichtlich bestellte Gutachter diesesmal anders „gut"-achten. Sozusagen auf Befehl.

Und daran kann man sehen, wie einfach sich es auch Gutachter machen (können). Ganz generell. Aber eben auch, wenn zwar bei ein- und demselben Fall, aber beim anderen Mal eine andere Meinung gefragt, sprich erwünscht ist.

Dies ist die Geschichte des Malers, Lackierers und Bodenlegers Wolfgang E., gleichzeitig die Geschichte eines renommierten Arbeitsmediziners, der wie alle seine Kollegen auch als Gutachter unterwegs ist.

Wolfgang E. - ein Handwerker, der zum Rückgrat der deutschen Wirtschaft zählt(e)

Wolfgang E., geboren 1932 und gestorben 1999, war das, was man einen bodenständigen Handwerker nennt. Mit 15 beendet er seine Lehre als Maler, arbeitet in diesem Beruf danach auch als Lackierer bei unterschiedlichen Firmen und macht sich im Alter von 26 Jahren im Jahr 1958 selbstständig als Bodenleger. Es ist dies die Ära des sogenannten Wirtschaftwunders.

Wolfgang E. verlegt textile Rollenware und später auch aus Kunststoff, ebenso Flexplatten, die aus asbesthaltigen Trägerschichten bestehen, muss dazu grundieren, spachteln und kleben, benutzt die üblichen Produkte, die einen bunten Mix an diversen chemischen Zutaten, darunter sog. Lösemittel darstellen. Zum Beispiel Spezialbenzin, Essigsäureethylester, Trichlorethylen (Trichlorethen), Benzol und Toluol (Methylbenzol) und vieles anderes. Benzol beispielsweise ist inzwischen verboten.

Weil Wolfgang E. u.a. für die Gemeinnützige Baugesellschaft GBG in Mannheim ganze Wohnblocks ausstattet oder die Böden im dortigen Klinikum erneuert, diese großen Auftraggeber Ausschreibungen machen, die man nur gewinnen kann, wenn man kostengünstig anbietet, arbeitet Wolfgang E. großenteils auch im Akkord. Unterstützt wird er zeitweise von seinem Sohn. Was beide nicht wissen: Das Lösemittel Toluol, ein ähnlicher Stoff wie (das inzwischen verbotene) Benzol, ist schwerer als Luft und wenn man am Boden arbeitet, kommt man garnicht umhin, diesen flüchtigen Stoff einzuatmen. Lüften funktioniert nur im Sommer. Im Winter würde eine Innentemperatur von unter 16 Grad das Auslegen und Verkleben der Ware unmöglich machen.  

Atemschutzmasken mit Kohleaktivfilter helfen nicht. Sie verengen das Gesichtsfeld, verkomplizieren das Zurechtschneiden der Auslegeware, erschweren die Luftaufnahme, machen alles anstrengender, wenn man ohnehin gebückt arbeiten muss. Auf Dauer kein allzu schöner Beruf. Aber er sichert die Existenz in einem Wirtschaftssystem, das sich „Soziale Marktwirtschaft“ nennt.

Wolfgang E. hat aus Kindheitstagen ein kleineres Problem mit seiner Leber, hat erhöhte Leberwerte, die allerdings nicht aus Alkoholkonsum resultieren. Das schleppt er jahrelang mit sich herum, bis er im Dezember 1998 ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Die Diagnose: Verdacht auf ein „hepatozelluläres Leberkarzinom“. Zu deutsch: Krebs. Im Endstadium. Genau drei Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ist Wolfgang E. tot. Nach 51 Jahren Berufstätigkeit bzw. 40 Jahren Selbstständigkeit im System der „Sozialen Marktwirtschaft“.

Noch vor seinem Tod hatte der Hausarzt bei der zuständigen Berufsgenossenschaft Bau (BG Bau), in die Wolfgang E. jahrelang als Selbstständiger eingezahlt hatte, die Krebserkrankung als beruflich bedingten Krankheitsfall, als „Berufskrankheit“ angezeigt. Als Wolfgang E. tot ist, wird er obduziert, der Pathologe bestätigt die Fettleber und den „Tod als Folge einer Leberzirrhose mit hepatozellulärem Karzinom“. 

Die Berufsgenossenschaft Bau

Die ersten medizinischen Erklärungen, die der BG Bau gefallen: „Alkoholabusus“ und Hepatitis C. Also nicht beruflich bedingt, sondern der persönlichen gesundheitlichen Konstitution und dem Lebenswandel geschuldet. So geht es hin und her, die BG Bau lehnt die Anerkennung ab, die Witwe erhebt Widerspruch, der Widerspruch wird von der BG Bau abgelehnt.     

Die Witwe findet sich mit dem Tod ihres 67jährigen Ehemannes nicht ab und klagt auf Anerkennung vor dem Sozialgericht in Mannheim. Es steht ihre Hinterbliebenenrente auf dem Spiel. Von irgendetwas muss sie leben.

Der unterstellte Alkoholabusus kann schnell widerlegt werden, ebenso die Hepatitis C. Wolfgang E. war regelmäßig beim Deutschen Roten Kreuz zum Blutspenden.

Der Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaften, HVBG (heute: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, DGUV) tischt ein neues Argument auf. Ihm lägen „keine Informationen über neue, medizinisch-wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse“ vor, „dass Maler und Anstreicher durch die im Bericht des Technischen Außendienstes … genannten Einwirkungen in weitaus höherem Grade als in der übrigen Bevölkerung Leberzirrhose und hierdurch hepatozelluläre Karzinome erleiden.“

Dies schreibt der HVBG als zentralem Dach aller Berufsgenossenschaften zu einer Zeit (Juni 2001), als die gesundheitlichen Folgen im Umgang mit diversen Lösemitteln, die z.B. in Klebern enthalten sind, längst in mehreren anerkannten Berufskrankheiten festgeschrieben sind (BK 1302, BK 1303, BK 1317: sog. Malerkrankheit). Lösemittel sind gesundheitsschädlich. 

Im Bericht des Technischen Außendienstes (TAD) der BG Bau hatte es geheißen:

Es ist davon auszugehen, dass Herr E. während seiner Tätigkeit als Maler und Bodenleger kontinuierlich Umgang mit lösemittelhaltigen Produkten hatte und bei deren Verarbeitung lösemittelhaltigen Dämpfen ausgesetzt war. Die Lösemittelbeeinflussung in der Luft am Arbeitsplatz ist während der Tätigkeit als Bodenleger besonders relevant, da die Arbeit in geschlossenen Räumen stattfand und Lüftungsmaßnahmen verarbeitungstechnisch nur begrenzt möglich waren. Von einer Lösemittelbeeinflussung ist auch bei Arbeiten ohne direkten Umgang mit lösemittelhaltigen Produkten, z.B. Auslegen, Schneiden usw. auszugehen, da erfahrungsgemäß die Wirkung der bereits verarbeiteten Produkte über einige Zeit anhält.“

Auch wenn diese Einschätzungen ersteinmal für „berufsbedingt“ sprechen, die BG Bau will nicht. So wie (fast) immer. 

Sozialgericht Mannheim

Die Richterin am Mannheimer Sozialgericht ernennt den Leiter des arbeitsmedizinischen Instituts am Uniklinikum Ulm, Prof. Dr. Hans-Joachim SEIDEL, zum Sachverständigen, der ebenfalls keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Exposition und Leberzellstörungen erkennen kann, sondern einen, der eher zum „Bild einer Person“ passe, die „eben auch Alkohol zumindest gelegentlich über das verträgliche Maß hinaus zu sich nehme“. Im übrigen sei es in der medizinischen Literatur „nur zwei Arbeiten gelungen, ein Leberkarzinomrisiko für die Exposition gegenüber Lösungsmitteln als erhöht herauszuarbeiten.“

Gemeint: ein solches Schadensbild entspricht nicht der „herrschenden Meinung“. So steht denn auch in dem ablehnenden Urteil der Satz: „Nach alldem kann nicht zur Überzeugung des Gerichts festgestellt werden, dass die Leberzirrhose, an welcher Herr E. verstorben ist, durch dessen berufliche Tätigkeit entstanden ist“ (Az: S 11 U 489/00 v. 14.10.2002).

Witwe E. geht in Berufung, versichert sich diesesmal des Rats und der Betreuung eines anderen Anwalts, eines der sich bestens auskennt und schon oft ungewöhnliches Engagement bewiesen hat: Hans-Joachim DOHMEIER aus Ludwigshafen. 

Der Anwalt

DOHMEIER ist Experte. Experte auf Seiten der potenziell Unterlegenen. Also derer, die es schwer haben, ihre Rechte einzuklagen.

DOHMEIER hat dazu auch mehrfach publiziert. Zum Beispiel ein Buch über Dioxin herausgegeben. Oder die subtilen Tricks und sachlichen Fehler anderer Arbeitsmediziner offen gelegt und detailliert auseinandergenommen. Zum Beispiel gefälschte Zitate des Heidelberger Arbeitsmediziners Prof. Dr. Gerhard TRIEBIG, einem VALENTIN-Schüler (siehe unter Die Erlanger VALENTIN-Schule: Wie man die „herrschende Meinung“ organisiert).

Gegen TRIEBIG hatte die Heidelberger Staatsanwaltschaft wegen Falschgutachten, konkret wegen des „Verdachts der Ausstellung unrichtiger Gesundheitszeugnisse“ (Az 25 Js 90411/93) ermitteln müssen, wobei sie letztlich zu diesem Ergebnis kam:  "Soweit dem Beschuldigten nachgewiesen werden konnte, dass er in einzelnen Gutachten, teilweise auch gravierend, von falschen Tatsachen ausgegangen ist, muss davon ausgegangen werden, dass dies nicht wissentlich, sondern allenfalls aus Nachlässigkeit, möglicherweise verursacht durch die hohe Anzahl der von ihm erstatteten Gutachten, geschehen ist."

DOHMEIER hatte sich auch schon mit dem zweitgrößten Mann der Branche angelegt: mit Prof. Dr. med. Gerhard LEHNERT. Der hatte nach dem Dioxin-Unfall im Hamburger Werk des Pharmaunternehmens Boehringer-Ingelheim dem Supergiftstoff „Dioxin“ bis zuletzt die „Unbedenklichkeit“ zugesprochen (und zugeschrieben). DOHMEIER hatte LEHNERT’s Mustergutachten aus dem Jahr in Sachen Dioxin (mehr unter www.ansTageslicht.de/Dioxin) bis ins letzte Detail auseinandergenommen. Und nüchtern analysiert, dass dieser zweitwichtigste Mann der Arbeitsmedizin, ebenfalls ein VALENTIN-Schüler, für sein Mustergutachten (im Untertitel: „c) falsche Berechnungen angestellt hatte. „Erst dann konnte das Vorhaben gelingen, 2,3,7,8-TCDD (Anm. d. R. : Dioxin) für nicht karzinogen zu erklären“, so am Ende seiner Analyse, die wir hier im Link hinterlegt haben.

Jetzt steigen die Chancen der Witwe E. vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg. Potenziell jedenfalls.

Landessozialgericht Baden-Württemberg

Die Landessozialrichter machen das, was sie immer machen. Auch sie ernennen einen Sachverständigen und bitten Prof. Dr. med. Johannes KONIETZKO von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz um fachlichen Beistand. KONIETZKO war erst knapp zwei Monate zuvor in öffentliche Kritik geraten. Prof. Johannes KONIETZKO hatte Jahre zuvor und dies in seiner Funktion als Mitglied des "Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten" beim Bundesminister für Arbeit ein "wissenschaftliches Merkblatt" im Zusammenhang mit der Berufskrankheit "BK 1317", auch "Malerkrankheit" genannt, abgefälscht. "Organisierte Falschdarstellung" hatte das der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert BLÜM (CDU) genannt (mehr unter "Organisierte Falschdarstellung". Organisierte Kriminalität?). Die Richter am Landessozialgericht scheint das nicht zu stören.

Sie bekommen ihren Gutachter dennoch nicht. KONIETZKO ist inzwischen im Ruhestand. Das Institut für Arbeitsmedizin scheint bei den Sozialrichtern offenbar hoch im Kurs zu stehen. Und so beauftragen sie dessen Nachfolger, Prof. Dr. med. Stephan LETZEL, einen Schüler der Erlanger VALENTIN-Schule.

LETZEL erstellt ein „Wissenschaftlich begründetes arbeitsmedizinisches Gutachten“ auf 25 Seiten, fasst die „Vorgeschichte nach Aktenlage“ zusammen, gibt die Feststellungen des Technischen Außendienstes (TAD) der BG Bau wieder, nach der Wolfgang E. „kontinuierlichen Umgang mit lösemittelhaltigen Produkten“ und dies vor allem „in geschlossenen Räumen“ gehabt habe, führt auch die dabei relevanten Gefahrstoffe Trichlorethylen, Benzol und Toluol auf und kommt dann auf S. 19 zu diesem Ergebnis:

Eine Quantifizierung der verwendeten Mengen und/oder Schadstoffmessungen aus den speziellen Arbeitsbereichen des Herrn E. liegen nicht vor, sind retrospektiv auch nicht ohne weiteres mehr zu ermitteln. Unter denen im einzelnen aufgeführten Stoffen ist eine kanzerogene Potenz für den Menschen insbesondere von Teer, Bitumen, Trichlorethylen, Asbest und Benzol wissenschaftlich eindeutig belegt. Keiner dieser Stoffe hat jedoch die Leber als Zielorgan. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den diagnostizierten Lebererkrankungen und eine Exposition gegenüber diesen kanzerogenen Stoffen kann daher nicht wahrscheinlich gemacht werden.“

Und zusammenfassend auf Seite 23 nochmals:

„Bei den vorliegenden Angaben über die spezielle Expositionssituation kann jedoch aus arbeitsmedizinischer Sicht kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der bestandenen Lösemittelexposition und der Lebererkrankung wahrscheinlich gemacht werden. Die Anerkennung der Lebererkrankung von Herrn E. als Berufskrankheit können wir somit nicht empfehlen.“

Während Arbeitsmediziner Prof. LETZEL vom Gericht benannt wurde, beauftragt Witwe E. einen Gutachter eigener Wahl, den sie nach § 109 SGB selbst bezahlen muss: Prof. Dr. med. H.K. SEITZ, Chefarzt am Krankenhaus Salem in Heidelberg, einem „Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Heidelberg.“ Von ihm als Mitverfasser des Lehrbuchs „Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden“ erwartet sie zumindest, dass er die Behauptung widerlegt, dass das Leberkarzinom aufgrund von „Alkoholabusus“ entstanden ist.

Das Gutachten erweist sich als totaler Flop. Auch dieser Gutachter „gut“-achtet nur „nach Aktenlage“, interpretiert also nur die bisherigen Informationen.

Weder LETZEL noch SEITZ kommen auf die Idee, einen Fachmann der Bodenlegerbranche einzuschalten oder einen solchen zu empfehlen, der etwas genauer über die Arbeitsweise von Bodenlegern, die dabei benutzten Arbeitsstoffe und die typischen Expositionszeiten an einem durchschnittlichen Arbeitstag erzählen könnte. Denn dies ist das Manko aller bisherigen Gutachten: Der volle Kausalitätsbeweis lässt sich mangels nachträglicher Rekonstruierbarkeit nicht eindeutig führen. Jedenfalls solange nicht, wie man sich nicht die Mühe macht, möglichst viel trotz aller schwierigen Umstände zu rekonstruieren, was noch rekonstruierbar ist. Um dann die Wahrscheinlichkeit von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch dem Umfang nach besser einschätzen zu können.

Rechtsanwalt Hans-Joachim DOHMEIER hat an den eigenen Gutachter SEITZ viele detaillierte Fragen. Denn vieles ist vage und ausgesprochen diffus beschrieben, vieles unklar oder ungenau zitiert. DOHMEIER’s Fragenkatalog kann als Musterbeispiel dafür gelten, in welchem Umfang und vor allem in welcher Tiefe man in arbeitsmedizinische Gutachten einsteigen muss, um Inkonsistenzen, Widersprüche und eigentlich absolut Unbrauchbares zu identifizieren. Wir hinterlegen deshalb seine Fragen hinter diesem Link Was kann man tun? als Hinweis für andere, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.

Gutachter SEITZ ziert sich. Will sich den Fragen nicht stellen. Trotz Aufforderung durch das Gericht. Die Richter am Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart lassen es durchgehen. Prof. Dr. med. K.H. SEITZ muss nicht erscheinen, keine Antworten geben.

Dem Antrag von Hans-Joachim DOHMEIER, ein „arbeitstechnisches Gutachten“ einzuholen, also das eines Malers oder Bodenlegers, der in Kenntnis des typischen Arbeitsalltags erklären kann, welchen Schadstoffbelastungen („Expositionen“) ein Bodenleger üblicherweise ausgesetzt ist, also unterhalb oder oberhalb geltender Grenzwerte, lehnen die Richter ab. Begründung: Der von ihnen beauftragte Gutachter LETZEL sei bereits von einer „relevanten Schadstoffexposition“ ausgegangen, dessen genaue Expositionshöhe aber nicht mehr feststellbar sei.

Urteil: Ablehnung der Berufung (LSG Baden-Württemberg: Az L 6 U 4712/02 v. 6.4.2006).

Da die Richter am Landessozialgericht aber in ihrer ablehnenden Begründung ausgeführt hatten, dass eine toxische Schädigung der Leber „eine sehr hohe, regelmäßig über den Grenzwerten liegende Exposition voraussetzen“ würde, die ja aber „nicht nachgewiesen ist und im Nachhinein auch nicht mehr ermittelt werden kann“,  begeben sie sich in eine Falle: Weil sie genau dieser Frage nicht nachgehen wollen, beruht das Urteil auf einer „unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung“. Nämlich auf einer, über die ein Beweis gar nicht erhoben worden ist.

Bundessozialgericht, die höchste Instanz

So sehen es auch die obersten Richter am Bundessozialgericht. DOHMEIER hatte eine sog. Nichtzulassungsbeschwerde eingereicht. Die Richter der Instanz darunter, also dem Landessozialgericht, wollten eine Überprüfung ihres Urteils durch die höchste (Revisions)Instanz vermeiden.

Mit einer Nichtzulassungsbeschwerde vor dem höchsten Sozialgericht Erfolg zu haben, ist ausgesprochen selten. Die Ablehnungsquote liegt bei 93%. Anders gesagt: Fast alles scheitert. Allerdings: Anwalt DOHMEIER hatte den Fehler auf fehlendes rechtliches Gehör klar herausgearbeitet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist einer der wichtigsten Grundpfeiler unseres deutschen Rechts- und Gerichtssystems.

Deutschlands oberste Richter der Sozialgerichtsbarkeit benennen den Fehler ihrer Kollegen: die Begründung für die Ablehnung der Berufung sei „nicht prozessordnungsgemäß zu Stande gekommen“. Anders gesagt: Sie beruhe auf einer „vorweggenommenen Beweiswürdigung“. Und deshalb sei hier ein arbeitstechnisches Gutachten unabdingbar. Insbesondere schon deswegen, weil dies bisher unterlassen worden war. Sie geben den Richtern aber auch einen Wink mit dem Zaunpfahl mit auf den Weg (BSG Az: B 2 U 144-06 v. 10.10.2006):

„Auf dieser Verletzung der Amtsermittlungspflicht kann die angefochtene Entscheidung beruhen, denn es ist denkbar, dass das Landessozialgericht nach weiteren Ermittlungen zu einer anderen Entscheidung gelangt.“

Landessozialgericht Baden-Württemberg, die Zweite

Jetzt geht das Verfahren wieder zurück an das Landessozialgericht Baden-Württemberg. Es ist das Jahr nummero sechs seit Einreichung der ersten Klage vor dem Sozialgericht. Der Fall landet auf dem Tisch derselben Richter wie zuvor. Der Vorsitzende Richter WIEGANDT, sein Kollege Dr. BUSER und alle anderen haben jetzt ein Problem.

Zum einen müssen sie jetzt das nachholen, was sie unterlassen hatten. Zum zweiten benötigen Sie jetzt wieder einen Gutachter, der die dazu passenden Einschätzungen abgibt. Da die (dieselben) Richter am Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Prof. LETZEL gute Erfahrungen gemacht haben, wird er auch in dieser Runde nummero zwei erneut beauftragt.

Und sie hören sich als Zeugen den Sohn von Wolfgang E. an. Der hatte, ebenfalls von Beruf Bodenleger, seinem Vater oft ausgeholfen, sieht sich imstande, den Richtern hautnah und überzeugend zu erklären, wie das funktioniert mit dem Bodenlegen und den dabei entstehenden Dämpfen und Gasen ganz unterschiedlicher Lösemittel, mit denen die Grundierstoffe, Kleber und Spachtelmassen versehen sind. Insbesondere wie nachhaltig man beim Bodenlegen so gesundheitsschädlichen Chemikalien wie beispielsweise Toluol ausgesetzt ist. Gleiches bestätigt auch das nunmehr eingeholte arbeitstechnische Gutachten, verfasst von einem Diplomingenieur, der gleichzeitig auch einen Maler- und Lackierermeister führt. 

Der wissenschaftliche Spagat des Gutachters Prof. LETZEL

Für den arbeitsmedizinischen Gutachter LETZEL wird Runde Zwei zum Spagat. Er muss nun – aufgrund des Winks mit dem Zaunpfahl von ganz oben – den gleichen Sachverhalt anders bewerten und zu einem anderen Ergebnis kommen. Doch „Gut“achten zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie – rein juristisch gesehen – keine Tatsachenbehauptungen darstellen, sondern letztlich Meinungsäußerungen. Tatsachenbehauptungen unterliegen im Zweifel, wenn es vor Gericht hart auf hart kommt, der Beweispflicht, müssen also „erweislich wahr“ sein, wie das im Juristendeutsch heißt. Eine Meinung zu haben, fällt unter Artikel 5 des Grundgesetzes. Und so ist auch der Meinungswechsel – beispielsweise aufgrund der Kenntnis neuer Fakten oder einer stärkeren Betonung bisheriger Fakten – ebenfalls grundgesetzlich geschützt. Dies erleichtert die Aufgabe für Prof. LETZEL ungemein.

In seinem Gutachten Nr. 1 war von Toluol nur am Rande die Rede. In Gutachten Nr. 2 wird dieser Gefahrstoff jetzt in den Vordergrund gerückt:

  • In Gutachten Nr. 1 hieß es auf Seite 6: „Aussagen zu Grenzwertüberschreitungen finden sich nicht in der Stellungnahme des TAD.“
  • In Gutachten Nr. 2 wird daraus auf S. 8:, dass es „durch eine Neubewertung der Expositionsrisiken des Patienten zu dem Sachverhalt“ kommt, „dass er während seiner Tätigkeit als Bodenleger mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Grenzwertüberschreitung von Toluol ausgesetzt war.“

Ähnlich bei der Frage, ob und inwieweit organische Lösemittel Gefahren für die Leber darstellen:

  • In Gutachten Nr. 1 war auf S. 19 im Zusammenhang mit Lösemitteln die Rede davon, dass „keiner dieser Stoffe jedoch die Leber als Zielorgan“ habe. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den diagnostizierten Lebererkrankungen und eine Exposition gegenüber diesen kanzerogenen Stoffen kann daher nicht wahrscheinlich gemacht werden.“
  • Auf Seite 8 im Gutachten Nr. 2 liest sich: „Prinzipiell ist festzustellen, dass eine ganze Reihe organischer Lösemittel in zum Teil sehr unterschiedlichen Graden lebertoxisch wirken.“

Und auf S. 10 noch deutlicher: „Zusammenfassend ist aufgrund der vorliegenden Akte (die auch damals schon vorgelegen hatte, Anm. d.R.) eine über 37-jährige Exposition des Herrn E. gegenüber organischen Lösemitteln mit dem Zielorgan Leber zu unterstellen.“

Summa summarum kommt Prof. Dr. med. Stephan LETZEL auf Seite 10 dann zu der Meinung: „Ich empfehle daher die Anerkennung der Lebererkrankung als Berufskrankheit“ und Punkt.

Da für ein Urteil letztlich die Richter verantwortlich zeichnen und die Damen und Herren des 6. Senats des Landessozialgerichts diesesmal auf Nummer sicher gehen wollen, bitten sie Prof. LETZEL nochmals um ein (drittes) Gutachten. Er möge sich bitteschön etwas dezidierter ausdrücken. Insbesondere inwieweit die fraglichen Stoffe eine Einstufung nach den listenmäßigen Berufskrankheiten ermöglichen würden. LETZEL hatte dies in Gutachten Nr. 1 klar abgelehnt.

Doch diesesmal kommt der Arbeitsmediziner zu einem recht klaren Ergebnis:

  • In SachenToluol (BK 1303): „Zusammenfassend komme ich daher zu der Auffassung, dass für sich gesehen der Listenstoff Toluol (BK-Nr. 1303) eine wesentliche Teilursache für die bei Herrn E. entstandene Leberzirrhose, aus der sich ein hepatozelluläres Karzinom entwickelt hat, das letztendlich durch Herzkreislaufversagen zum Tod des Patienten führte, darstellt.“
  • In Sachen Trichlorethylen: „Wenn unterstellt werden kann, dass Herr E. mehrjährig, regelmäßig mehrmals monatlich gegenüber Trichlorethylen in einer Konzentration exponiert war, die die früheren toxikologisch begründeten Grenzwerte überschritten haben, kann für sich gesehen auch der Listenstoff Trichlorethylen (BK-Nr. 1302) als wesentliche Teilursache für die bei Herrn E. entstandene Leberzirrhose du das sich hieraus abzuleitende Krankheitsbild, das letztendlich zum Tod durch Herzkreislaufversagen geführt hat, gewertet werden.“

Jetzt haben die Richter des Landessozialgerichts Baden-Württemberg einfaches Spiel (LSG Baden-Württemberg, Az L 6 U 5889/06). Am 29. September 2011 entscheiden sie letztmalig über diesen Fall. Unter Textziffer 70 heißt es dann nach ausführlicher Begründung und unter mehrmaligem Zitieren der neuen Erkenntnisse des Gutachters LETZEL:

„Mithin liegt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine wesentliche und damit haftungsbegründende Kausalität zwischen den beruflichen Einwirkungen von Toluol und der Leberzirrhose-Erkrankung des E. vor.“

Jetzt hat Wolfgangs E's Witwe wenigstens Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente. 


(JL)


Hinweise:

Hans-Joachim DOHMEIER ist seit mehreren Jahren im Ruhestand, nimmt keine neuen Fälle mehr an. Im Kapitel Was kann man tun geben wir weitere Tipps und Hinweise.

Wir haben Prof. LETZEL um eine Stellungnahme gebeten, wie er uns den Wandel in den Gutachten erklären kann. Auf die erste Anfrage, gestellt vom DokZentrum ansTageslicht.de, sah sich Hr. LETZEL nicht bemüßigt, zu antworten. Prof. LETZEL reagierte erst, als unser Kooperationspartner Süddeutsche Zeitung nachfragte. Tenor seiner Antwort: 1) Wegen der ärztlichen Schweigepflicht könne er sich nicht "zu Einzelheiten" äußern. 2) Er habe "an keiner Stelle geschrieben, dass 'organische Lösungsmittel ... nicht das Zielorgan Leber haben'.' 
Offenbar hat er nicht genau in seinem ersten Gutachten nachgeschaut. Wie auch immer: Wir dokumentieren hier die Fragen und Antworten an/von Prof. Stephan LETZEL 

Eine Kurzfassung dieser Geschichte auf 1 DIN A 4-Seite gibt es unter www.ansTageslicht.de/ProfessorLetzel . Die ausführliche Darstellung hier unter www.ansTageslicht.de/Letzel.

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Krank durch Arbeit.

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