Kleine Chronologie der OTRAG

Eine kleine Weltgeschichte zweier Raketentüftler


1970

Lutz KAYSER gründet nach seinem erfolgreichen Ingenieurexamen in Stuttgart den Vorläufer der späteren Firma OTRAG: die Technologie und Forschungs GmbH


1971

Das Bonner Forschungsministerium bewilligt dem schäwbischen Tüftler 3,5 Millionen DM (rund 1,7 Mio €) für die Entwicklung eines neuen Triebwerks. Nach der ersten Mondlandung 1969 und den weiteren erfolgreichen "Apollo"-Unternehmungen hatte sich bei vielen eine Pionierstimmung breitgemacht: kommerzielle Raumfahrtunternehmungen waren das Ziel vieler Menschen, nicht nur das von einzelnen Technikfreaks


1974

Nach einem erfolgreichen Test des mit Bonner Geldern entwickelten Triebwerks bei der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt ("Konzept ist grundsätzlich durchführbar") gründet Lutz KAYSER seine zweite Firma, mit der seine weiteren Pläne umsetzen will: die Orbital Transport- und Raketen AG, kurz OTRAG. Sitz: Stuttgart und Neu-Isenburg, für das das hessische Finanzamt Offenbach-Land zuständig ist. Viele andere so genannte Abschreibungsgesellschaften, die sich mit ersparten Steuern von Großverdienern finanzieren, haben dort ein (zweites) Domizil.
Im selben Jahr gewinnt KAYSER einen berühmten Mann für sich: Kurt DEBUS. Der war bis vor kurzem Chef des US-amerikanischen Kennedy Space Centers bei der NASA - als einer der bekanntesten deutschen Raketenpioniere. In den 40er Jahren hatte er zu den engsten Mitarbeiter Wernher von BRAUN's in Peenemünde gehört, der die "V2" ("V" = "Vergeltungswaffe") entwickelt hatte. HITLER hatte damit London und Antwerpen bombardieren lassen.
DEBUS geht mit seinem Namen Geld einsammeln. Bei Gut-, Besser- und Großverdienern der Republik. Sein Konzept: das steuerliche Modell einer Abschreibungsgesellschaft, das sich über Steuern finanziert, die die Großanleger dabei 'sparen' können. Statt Geld an das Finanzamt zu überweisen, überweisen die Anleger ihre 'ersparten' Steuern an die OTRAG. So zum Beispiel der Fernsehtalkmeister Wim THOELKE oder der Stuttgarter Verleger Ernst KLETT


30.11.1975

Der afrikanische Präsident von Zaire, MOBUTU SESE SEKO, einer der 'großen' Diktatoren des armen Kontinents, empfängt die beiden deutschen Ingenieure Lutz KAYSER und Frank WUKASCH , mit offenen Armen. Er ist ganz begeistert von der Vorstellung, ausgerechnet in seinem Land ein "Cape Kennedy" aufzubauen. Er verspricht den beiden Raketenfreaks ein gigantisches Versuchsgelände - 4% des Staatsgebietes, so groß wie die DDR.
62,5 Millionen Mark Miete jährlich soll das kosten. Der Mietpreis wird bis zum ersten kommerziellen Erfolg gestundet. 
Im hessischen Finanzamt Offenbach-Land werden diese Mietausgaben, die noch gar keine Ausgaben sind, als abzugsfähige Betriebsausgaben anerkannt. Damit macht die OTRAG - steuerlich gesehen - Verlust und just diese "Verluste" können die Großanleger mit ihren sonstigen Einkommen verrechnen. Und sparen dadurch Steuern, die sie stattdessen an die OTRAG überweisen


1976

Die OTRAG urbanisiert ihr Gelände, baut Startbahnen für gebraucht eingekaufte Flugzeuge und Baumaschinen, macht den Vertrag mit MOBUTU klar, der bis 2000 Gültigkeit hat und unkündbar ist


17. Mai 1977

Um 10:15 startet die erste Versuchsrakete der OTRAG: erfolgreich. 15 Kilometer schießt sie in den Himmel. Die halbe Welt schaut zu. Auch Bundesaußenminister Dietrich GENSCHER, FDP, hat sich auf den Weg nach Afrika gemacht, um diesem Ereignis beizuwohnen


unmittelbar danach

Die deutsche Rakete sorgt für erheblichen Wirbel in der Welt. Der angolanische Präsident des Nachbarstaates, der den Sowjets nahesteht, befürchtet, dass die Rakete auf gewisse Staaten in Afrika zielen soll. Gleiches nimmt das sowjetische Politbüro in Moskau an. Und in der DDR (Deutsche Demokratische Republik) betrachten die SED-Oberen die OTRAG als "Deckfirma für die BRD-Rüstungsindustrie", so die staatlich gelenkte SED-Zeitung Neues Deutschland.
Es ist jenes Jahr, in dem in Deutschland der "Herbst 1977" Einzug hält: Generalbundesanwalt BUBACK wird von der RAF erschossen, der RAF-Prozess in Stuttgart-Stammheim ist zu Ende, der Chef der Dresdner Bank, PONTO, wird von RAF-Genossen erschossen, Arbeitgeberpräsident SCHLEYER entführt und später ermordet, die Lufthansa-Maschine "Landshut" von der "GSG 9" in Mogadischou erfolgreich befreit


1978

Bundeskanzler Helmut SCHMIDT muss bei allen Staatsbesuchen fortan beteuern, dass die Bundesregierung mit der privaten OTRAG nichts zu tun hat. Wörtlich überliefert ist der Satz "Ich wünsche das Ding zum Teufel".
Dies und über die vielfältigen Facetten der internationalen Verwicklungen berichtet auch das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL"Dann wäre Deutschland führend in der Welt"


1979

Bundeskanzler Helmut SCHMIDT und sein französischer Amtskollege Valéry Giscard d'ESTAING praktizieren einen Schulterschluss. Beide vereinbaren einen Deal mit Zaire: Entwicklungshilfegelder aus Europa gegen den Rauswurf der OTRAG aus dem Land


1981

Als Ersatzmann bietet sich der lybische Staatspräsident GADDAFI an. Er lässt ein als Obstplantage getarntes Gelände herrichten.
Jetzt sind es die Israelis und die westlichen Geheimdienste, die das Tun und Treiben der OTRAG argwöhnisch beobachten.
Und diesesmal ist es die Illustrierte stern, die in ihrem dreiseitigen Artikel "Deutsche Raketen für Gadhafi" mit Neuigkeiten aufwartet:

  • angesichts der internationalen Proteste seien immer weniger bundesdeutsche Großverdiener bereit, ausgerechnet in dieses Projekt in Lybien zu investieren 
  • Lutz KAYSER habe - offenbar vorsorgehalber - seine Patente an die OTRAG für 150 Millionen verkauft und sich - sicherheitshalber - schon mal 20 Millionen in bar auszahlen lassen. 

Egal, wie und warum: GADDAFI's Streitkräfte besetzen das OTRAG-Gelände sowie die gesamte Infrastruktur neben allem technischen Gerät. Der Staatspräsident will jetzt selber alles weiterentwickeln.
Der Ex-Raktetenbauer zu Zeiten Hitlers und zu Zeiten der Amerikaner, Kurt DEBUS, scheidet daraufhin aus dem Aufsichtsrat in Deutschland aus. Und auch Lutz KAYSER ist jetzt weg vom Fenster, wird aber noch ca. 10 Jahre in Tripolis bleiben. Er unterrichtet jetzt als "Professor". Neuer Chef der OTRAG außerhalb Lybiens: KAYSER's Studienkollege aus Stuttgart und Partner Frank WUKASCH


danach

Die OTRAG findet einen neuen Sponsor. Nach MOBUTU und GADDAFI: jetzt Franz-Josef STRAUSS.
Der bietet den Verbliebenen eine neue Heimat im Technologieland Bayern an. Allerdings: Inzwischen ist die Luft raus - aus dem ursprünglichen Vorhaben und aus den steuerlichen Möglichkeiten. In Bonn schränkt der Gesetzgeber die Steuersparmöglichkeiten immer weiter ein


Mitte der 80er Jahre

WUKASCH löst die Firma auf und auch alle Konten. Kein allzugroßes Problem, denn die meisten Anleger haben mit den Steuerersparnissen mehr verdient als sie investiert hatten. Nur wenige sind dagegen bzw. prozessieren. Insgesamt haben sich 173 Millionen Steuergelder 'in Luft' bzw. im Himmel aufgelöst. 
KAYSER geht in die USA, beteiligt sich dort an der Firma "von Braun, Debus, Kayser Rocket Science LLC", später an einer Firma Interorbital Systems in Kalifornien. In Deutschland lässt er sich seither nicht mehr blicken.
Nur WUKASCH ist immer noch hier. Gelegentlich hält er hier und da Vorträge: über die OTRAG



(WJ)