36 Jahre: 11 Asbest-Gutachter, 30 Gutachten und kein Ende

Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), ein eingetragener privatwirtschaftlicher Verein, der das Dach aller Berufsgenossenschaften und Unfallkassen bildet, kommuniziert immer wieder - auch in den politischen Raum hinein -, dass die Bearbeitungszeit eines Antrags auf Anerkennung einer Berufskrankheit nur wenige Monate dauere. Im Durchschnitt 5 Monate. So hat sie es auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE (Frage Nr. 7) mitgeteilt.

Wie sie das rechnet wird, gibt die DGUV nicht an. Sie sagt nur, dass die "Laufzeit ... vom Eingang der Meldung bis zur ersten versicherungsrechtlichen Entscheidung" durch die BG selbst gezählt wird. Langdauernde Verfahren und überhaupt alle, die vor Gericht gehen, werden nach dieser Auskunft ausgeblendet. Mit schönen Zahlen lässt sich besser renommieren. 

Das nachfolgende Beispiel eines Dachdeckers, der mit Asbestzementplatten der Marken "Eternit" und "Fulgurit" zu tun hatte, zog sich vor Gericht in 1. Instanz über 330 Monate hin. Erfolglos.

Der Fall, der bei der Berufsgenossenschaft Bau, Frankfurt/M. unter dem Aktenzeichen "82/00752-9" geführt wird, demonstriert gleichzeitig die vielen Hürden, die mit einer Anerkennung verbunden sind. Allein, dass sich ein knappes Dutzend Gutachter immer wieder widersprechen, zeigt die Absurdität dieses Systems, das regelmäßig den "Vollbeweis" eines Zusammenhangs zwischen Asbesteinwirkung und Gesundheitsschaden fordert.

Dass Asbest schädlich ist, weiß man seit rund 120 Jahren, rekonstruiert in 3 Teilen: Warum es so lange gedauert hat, bis Asbest verboten wurde - die ersten 70 Jahre - Asbestchronologie Teil I, Die zweiten 50 Jahre - Asbestchronologie Teil II und Warum um Asbest immer noch geschachert wird: der Showdown - Asbestchronologie letzter Teil III

Die Asbestindustrie konnte sich sehr lange behaupten. Auf Kosten der Beschäftigten.

Und mit Duldung der Politik. Die Anerkennungsquote bei asbestbedingtem Lungenkrebs sinkt seit 50 Jahren kontinuierlich: von einstmals 90% auf inzwischen (2017) 16%. Und die Politik schaut (tatenlos) zu. Sie hat die arbeitenden Menschen, die durch die Ausübung ihres Berufs krank werden, längst abgeschrieben - Kranke und Tote zählen nicht (dazu mehr unter Das System der (Deutschen) Gesetzlichen Unfallversicherung. Wie es gedacht war. Und was daraus geworden ist. Und warum).

Dieses Fallbeispiel können Sie auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/36Jahre

1978

An der Justus-Liebig Universität in Gießen beginnen Prof. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ (HJW) und sein Team im Rahmen ihrer „Hessischen Baustellenstudie" mit ihren Untersuchungen an 409 Hessischen Dachdeckern. Gegenstand ihrer Forschungen: Sie wollen wissen, wie groß die Belastung mit Baustellenstaub für Bauarbeiter ist, insbesondere auch für Dachdecker. Denn die arbeiten mit Asbest: Sie decken viele Dächer mit gewellten Asbestzementplatten ein, die u.a. auf die richtige Größe geflext werden müssen.

Neben dem Gesundheitszustand der 409 Dachdecker, der fachärztlich dokumentiert wird, messen die Arbeitsmediziner an 88 Baustellen und an 5 Schneideanlagen den asbesthaltigen Staub mit speziell dafür konstruierten Messgeräten. Man beachte auf dem Foto das direkt am Rücken angebrachte Gerät und die Messinstallation bei den Ziegelsteinen auf dem Stativ:

Zwischen 30 und 60 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Luft messen Hans-Joachim WOITOWITZ und sein Team. Eine extrem hohe Belastung.

Unter den Dachdeckern, die dazu nach Giessen zum Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin (IPAS) nach Giessen kommen, ist auch Philipp G. Er ist zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt


1982

Vier Jahre später, im Januar 1982, begibt sich Philipp G ins örtliche Krankenhaus. Es geht ihm sehr schlecht. Die Ärzte diagnostizieren ein Bronchialkarzinom (Lungenkrebstumor), das bereits sehr weit fortgeschritten ist. Hans-Joachim WOITOWITZ erfährt davon und erstattet bei der Berufsgenossenschaft Bau, über die der Arbeitgeber von Philipp G versichert ist, "Anzeige auf Verdacht einer Berufskrankheit". Auslöser: Asbest.

Die zuständige Berufsgenossenschaft (BG) will Philipp G durch WOITOWITZ untersuchen lassen, weil der bereits in seinen Akten viele Informationen aus der Dachdeckerstudie über Philipp G hat. Doch dazu kommt es nicht. Philipp G stirbt vor dem anberaumten Termin - im Alter von 52 Jahren 


Juli 1982

Gutachter 1 - Gutachten 1: Prof. Herbert OTTO

Weil Philipp G jetzt tot ist, ist Prof. WOITOWITZ aus dem Rennen. Die BG Bau erteilt jetzt dem Pathologen Prof. OTTO in Dortmund, der gleichzeitig Chef des Deutschen Mesotheliomregisters ist, den Gutachtenauftrag, festzustellen, ob der Tumor wirklich aufgrund der Asbeststaubbelastung entstanden sein könnte. Diese Wahl ist nicht zufällig. OTTO hat sich schon lange auf die Seite der Berufsgenossenschaften geschlagen, dafür eine spezielle Theorie aufgestellt, die jetzt aufgrund der Macht der Berufsgenossenschaften auch flächendeckend praktiziert wird: OTTO schaut mit seinem Lichtmikroskop nach, wieviele Asbestkörperchen er in 1 Kubikzentimeter Lungengewebe finden, sprich zählen kann.

Dass sich die Fasern von Chrysotilasbest im menschlichen Körper nach einer sehr kurzen Halbwertzeit auflösen, nachdem sie den Schaden angerichtet haben, und deshalb eine solche Zählung ohne nennenswerte Erfolgsaussicht ist, ficht OTTO nicht an. Chrysotilasbest ist der Asbest, der zu weit über 90% das Asbestgeschehen bestimmt. Deshalb ist, wenn hier von Asbest die Sprache ist, genau dieser Chrysotilasbest gemeint.

OTTO stört sich auch nicht an dem Umstand, dass diese Erkenntnis längst international Konsens ist. WOITOWITZ hat für diesen Umstand den Begriff des "Fahrerfluchtphänomen" geprägt, um für die Nichtmehrnachweisbarkeit einen griffigen und verständlichen Namen zu haben.   

Doch das System der Gesetzlichen Unfallvesricherung, das aus den verschiedenen Berufsgenossenschaften samt ihrem Dachverband besteht, ist ein Monopol. Und ebenso das ihr gehörige Mesotheliom-Register, das die Deutungshoheit in diesen Dingen beansprucht. Und auch durchsetzen kann, weil niemand, der am oder durch den Arbeitsplatz geschädigt ist oder vorzeitig stirbt, an diesem System vorbeikommt, wenn er Entschädigungsansprüche stellen will.

Prof. OTTO, der im Rahmen seiner Funktion als Leiter des Mesotheliomregisters in Diensten der Berufsgenossenschaften steht, hat deshalb seine "Theorie der 1.000 Asbestkörperchen" als Voraussetzung für eine "Minimalasbestose" ohne Probleme durchsetzen können. Wie es dazu kam, ist ausführlich dokumentiert unter Warum es so lange gedauert hat, bis Asbest verboten wurde - die zweiten 70 Jahre.

Prof. OTTO zählt. Und findet 7 Asbestkörperchen in einem Würfel Lungengewebe von 1 Kubikzentimeter. Damit ist für OTTO nach seiner "OTTO-Methode" klar: Der Krebs war nicht asbestbedingt. Vielmehr muss es eine "schicksalshafte Erkrankung" gewesen sein 


Oktober 1982

Gutachter Nr. 2 - Gutachten Nr. 2

Mit einem sog. Zusammenhangsgutachten wird beauftragt der Giessener Pathologe Prof. KRACHT. Er stützt sich dabei auf das Gutachten von Prof. OTTO und kann deshalb - so wie OTTO - ebenfalls keine Asbestose feststellen


März 1983

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 3

Jetzt will die BG Bau den Ursachenzusammenhang anhand arbeits- und sozialmedizinischer Kriterien wissen und beauftragt damit - wie ursprünglich schon einmal vorgesehen - Prof. WOITOWITZ, der Philipp G's Arbeitsanamnese erstellt hat, also aus Gesprächen mit Philipp G über Daten verfügt, a) wo, b) was c) wie und d) wie lange und e) unter welchen Umständern Philipp G gearbeitet hat.

WOITOWITZ kann damit begründen, dass "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" der Lungenkrebs aufgrund der extrem hohen Asbestbelastung entstanden ist. WOITOWITZ kann das auch unterlegen mit Hinweis auf epidemiologische Untersuchungen weltweit, die eine Zunahme an Häufigkeiten von Lungenkrebs mit zunehmender Beschäftigungsdauer an asbestbelasteten Arbeitsplätzen belegen. 

Eine "epidemiologische" Studie vergleicht das Risiko, berufsbedingt zu erkranken mit den Risiken der Normalbevölkerung, solche Krankheiten zu bekommen. Daraus kann man - indirekt bzw. statistisch - zeigen, dass das Ausgesetztsein gegenüber gefährlichen Stoffen eben gefährlicher ist als wenn man nicht damit in Berührung kommt. Das gibt weitere Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Krankheit nur durch den Arbeitsplatz enstanden sein kann


April 1983

Gutachter Nr. 4 - Gutachten Nr. 4: Prof. VALENTIN

Der BG Bau schmeckt dieses Gutachten offenbar nicht, sie vergibt einen weiteren Gutachtenauftrag. Diesesmal an den Landesgewerbearzt. Der fühlt sich fachlich offenbar nicht sehr sicher und reicht das Gutachten weiter: an Prof. Helmut VALENTIN in Erlangen, den Widersacher von Prof. Hans-Joachim WOITOWITZ.

WOITOWITZ war einst Schüler von VALENTIN. Hatte sich aber abgesetzt von ihm. Erst recht, als er vor knapp 10 Jahren einen eigenen Lehrstuhl an der Uni Giessen übernommen hatte. Aber auch die geistige und finanzielle Nähe von VALENTIN und OTTO zu den Berufsgenossenschaften trennt WOITOWITZ von seinen arbeitsmedizinischen Artgenossen.

VALENTIN sieht (natürlich) ebenfalls keinen kausalen Zusammenhang zwischen der hohen Asbestbelastung und dem Lungenkrebs - die Resultate seine Kollegen seien eindeutig und epidemiologische könnten keinerlei Rolle spielen.

Über die Person Prof Dr. Helmut VALENTIN haben wir Informationen in einem etwas anderen Kontext unter Die Erlanger VALENTIN-Schule. Oder: Wie man die herrschende Meinung organisiert zusammen getragen. Wie es zu der absehbaren Gegnerschaft zwischen VALENTIN und WOITOWITZ kam, ist rekonstruiert unter Wieso es so lange gedauert hat, bis Asbest verboten wurde - die zweiten 70 Jahre


September

Jetzt ist der "Technische Außendienst" der BG Bau am Zug. Er ermittelt die potenziell Lungenkrebs verursachenden Einwirkungen. Ergebnis: Philipp G sei kumuliert 2 - 3 Stunden pro Woche in einem Zeitraum von 10 - 15 Jahren dem asbesthaltigen Feinstaub ausgesetzt gewesen. Und: Philipp G habe sogar während seiner Arbeitszeit geraucht - leichte Zigarren, sog. 10-Pfennig-Stumpen 


August 1984

Die BG Bau lehnt unter Hinweis auf die bisherigen Begutachtungen die Anerkennung einer Berufskrankheit ab. Bereits aus formalen Gründen, was zu dieser Zeit möglich ist. Einen beruflich bzw. asbestbedingten Lungenkrebs kann man nur bekommen, wenn man gleichzeitig auch eine Asbestose hat. Und eine Asbestose habe Prof. OTTO ja nicht nachweisen können. Nicht einmal eine "Minimalasbestose".

Diese Bedingung wird in einigen Jahren aufgehoben, wenn man nach vielen Jahren zur Kenntnis genommen hat, dass ein asbestbedingter Lungenkrebs keine zeitgleiche oder vorangegangene Asbestose zur Voraussetzung hat. Diese Einsicht allerdings wird noch dauern. Bis dahin können alle, die dieses Gesundheitsproblem vorher haben, schon aus diesen Gründen keinen Erfolg haben.

Weil der Gesetzgeber weiß, dass dies ein (jahre)langes Verfahren ist, hat er eine Sonderregelung in das Gesetzeswerk eingeführt: Eine Krankheit kann dann als eine Quasi- bzw. Wie-Berufskrankheit anerkannt werden, wenn erstens alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind, und zweitens, die medizinische Wissenschaft eine bestimmte Krankheit als Berufskrankheit annimmt, diese aber noch nicht den politischen Entscheidungsprozess durchlaufen hat.  

Die BG Bau lehnt aber diese Option mit der Begründung ab, weil eben "nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, daß der während der versicherten Tätigkeit entstandene Asbeststaub auf die Lunge eingewirkt habe."

Und:

"Eine unterstellte schädliche Einwirkung könne hinweg gedacht werden, ohne daß das Bronchialkarzinom mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entfiele. Denn auch von dem Personenkreis, die einer Asbesteinwirkung ausgesetzt gewesen seien, bleibe eine überwältigend große Anzahl verschont."

Anders formuliert: Nicht jeder wird durch Asbest krank. Folglich kann auch Philipp G deswegen nicht krank geworden sein. Diese Begründung entspricht dem üblichen Argumentationsmuster einer BG. Ablehnen und auf Zeit spielen. Irgendwann wird auch die Witwe das Zeitliche segnen.

Die Witwe von Philipp G akzeptiert das nicht. Sie legt Widerspruch bei der BG Bau ein.

Die weist den zurück.

Philipp G's Witwe erhebt daraufhin Klage vor dem Sozialgericht Fulda unter dem Aktenzeichen S 1b U 102/84


1985

Gutachter Nr. 5 - Gutachten Nr. 5

Es dauert ein ganzes Jahr bis das von der BG Bau wegen des absehbaren Gerichtsverfahrens neu bestellte Gutachten vorliegt. Beauftragt hatte die Berufsgenossenschaft Prof. Dr. med. SCHLIEPKÖTER aus Düsseldorf.

SCHLIEPKÖTER ist u.a. für die Chemiebranche als Gutachter im Einsatz. Aus der Sicht der Industrie, konkret der Fa. DESOWAG, die die giftigen Holzschutzmittel "Xylamon" und "Xyladecor" herstellt, "positiv" im Einsatz. Jedenfalls steht sein Name mit dieser Bezeichnung auf einer internen "Liste der Gutachter", die die Firma für den anstehenden Holzschutzmittelprozess ins Feld führen möchte - rund 2.000 Geschädigte haben Strafanzeige wegen Körperverletzung gestellt. Die Liste führt Wissenschaftler auf, die aus der Sicht des Chemieunternehmens DESOWAG, einer Tochter des Chemieriesen BAYER AG, "positiv" zu sehen sind, und solche, die als "negativ" eingestuft werden.

Unter "positiv" stehen mehrere Namen. Unter anderem auch "Professor Dr. Valentin, Erlangen". 

Mehr zu diesem Vorgang in einem anderen Kontext unter www.ansTageslicht.de/Holzschutzmittel (Eintrag ab September 1988).  

SCHLIEPKÖTER wiederholt das, was Prof. OTTO bereits begutachtet hat: Wenn sich nicht genügend Asbestkörperchen finden lassen, dann liegt auch keine Minimalasbestose vor. Und er hebt in seiner gutachterlichen Stellungnahme hervor, dass Philipp G „seit seinem 18. Lebensjahr mehr als 30 Jahre lang ohne Unterbrechung täglich 20 Zigaretten geraucht und ein Jahr vor seinem Tod täglich 10 Stumpen“. Deshalb müsse „auch nicht mehr Stellung zu einer möglichen Potenzierung von Asbest und Tabakrauch genommen werden“


1989

Gutachter Nr. 6 - Gutachten Nr. 6

Seit Philipp G's Witwe Ende 1984 gegen den Bescheid der Berufsgenossenschaft geklagt hat, sind inzwischen vier Jahre ins Land gezogen. Und weil die Berufskrankheiten-Verordnung, in der alle - potenziell - anerkennungsfähigen Berufskrankheiten gelistet sind, eine kleine Veränderung erfahren hat, nach der jetzt auch eine Schädigung des Lungenfells ("Pleura"), das die Lunge ummantelt, ohne Asbestose anerkannt werden kann, führt sie ein neues "Feststellungsverfahren" durch.

Und beauftragt den Lungenkliniker Prof. Dr. med. E. HAIN in Hamburg.

Der kommt zum Ergebnis, dass eine Schädigung der Pleura nicht vorliegt, mithin also keine Berufserkrankung nach der neuesten Definition gegeben ist.

Während dieser Zeit war der Technische Außendienst (TAD) der BG Bau nicht untätig. Er hat jetzt ausgerechnet, dass Philipp G im Rahmen seiner Dachdeckertätigkeit, insbesondere beim Flexen der Asbestplatten insgesamt (nur) 14 Faserjahren ausgesetzt gewesen sei. 

Dieses Rechnungsergebnis ist wichtig. Weil sich inzwischen nach und nach die Erkenntnis durchsetzen kann, dass man Lungenkrebs auch ohne Asbestose bekommen kann, selbst wenn man Nichtraucher ist, muss man "25 Faserjahre" lang Asbest ausgesetzt gewesen sein, um einen Lungenkrebs auch ohne Asbestose anerkannt zu bekommen. Bisher hatte die "herrschende Meinung", die v.a. Prof. VALENTIN regelmäßig in dem mit von ihm herausgegebenen Standardwerk "Arbeitsunfall und Berufskrankheit: rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung und Gerichte" flächendeckend kommuniziert wird, immer auf dieser Kombination bestanden

Die Faserjahre berechnen sich nach der Formel 'Dosis mal Dauer der Belastung'. Also "1 Faserjahr" = 1 Million Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft multipliziert mit 240 Arbeitstagen a 8 Stunden täglich. Ist man 30 Millionen Fasern 1 Jahr lang ausgesetzt, so hat man innerhalb 240 Tagen "30 Faserjahre" erreicht. Undsoweiter ... 


1995

Gutachter Nr. 7 - Gutachten Nr. 7

Nach weiteren sechs Jahren kommt der nächste Gutachter zu einer Einschätzung. Seit die Witwe von Philipp G vor dem Sozialgericht in Fulda Klage erhoben hat, sind nun über 10 Jahre vergangen. Noch ist die Witwe am Leben.

Gutachter Nummero sieben, Prof. Dr. med. POTT, vertritt die Ansicht, dass es nicht nur das Fahrerfluchtphänomen gäbe, sondern "aufgrund der wenig empfindsamen Untersuchungsmethoden das Vorliegen einer Minimalfibrose nicht ausgeschlossen werden könne. Angesichts der Beweislast ließe sich das Vorliegen einer Minimalasbestose nur dann wahrscheinlich machen, wenn die aus den Äußerungen von Prof. OTTO interpretierbare Minimalfibrose mit einer ausreichend hohen Asbestexposition verknüpft werden könne." 

Dies wäre bei (mindestens) 25 Faserjahren der Fall. Somit geht es ab sofort um die Berechnung der Faserjahre. Ausgang offen


2005

Weil das Sozialgericht mit der Begründung, dass es an einer "ausreichenden Exposition des verstorbenen Versicherten" fehle, den Fall ersteinmal zu den Akten gelegt hat, ruht das Verfahren. Auch deswegen, weil der Gesetzgeber 1992 jetzt auch den asbestbedingten Lungenkrebs ohne gleichzeitiges Vorliegen einer Asbestose anerkannt und in die Berufskrankheitenliste aufgenommen hat. Jetzt geht es um die Frage, ob diese neue Regelung auch rückwirkend gilt. Und wenn ja, seit wann.

Ein ähnlicher Fall, bei dem es um die inzwischen neu anerkannte Berufskrankheit "Chronisch obstruktive Bronchitis" von Bergleuten geht, wurde nämlich gerade vom Bundessozialgericht (BSG) abschlägig beschieden. Die Klägerin, Witwe eines Bergmanns, der 40 Jahre lang unter Tage im Steinkohlebergbau geschuftet hatte, wollte sich mit dem Hinweis, ihr Antrag bzw. der ihres inzwischen verstorbenen Mannes sei quasi verjährt bzw. zu spät, weil das Rückwirkungsdatum auf das Jahr 1992 begrenzt worden wäre, nicht abspeisen lassen. Sie zieht vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Deutschlands höchste Richter sprechen unter dem Aktenzeichen 1 BvR 235/00 Klartext: Einer Berufsgenossenschaft ist es nicht gestattet, einen Anerkennungsantrag "zu Lasten des Versicherten hinauszuzögern" mit der Begründung, dass eine Änderung des Gesetzes in Sicht sei. Und man deshalb ersteinmal abwarten müsse. Und erst recht dürfe sie in einem solchen Fall einen entscheidungsreifen Antrag nicht ablehnen


danach

Die Kanzlei Battenstein & Battenstein aus Düsseldorf, die die Witwe von Phlilipp G vertritt, argumentiert vor Gericht, dass wegen des "Fahrerfluchtphänomens" auch bei wenig auffindbaren Asbestkörperchen eine Minimalasbestose vorgelegen haben müsse. Außerdem sei die Teerbelastung des Dachdeckers noch garnicht berücksichtigt worden. Und im übrigen sei inzwischen der asbestbedingte Lungenkrebs auch ohne Asbestose als Berufskrankheit im Prinzip anerkannt: seit 1.1. 1993.

Die BG kontert: Eine Rückwirkungsklausel käme nicht in Betracht, weil die Leistungspflicht der neuen Rechtslage erst mit dem Ende des Jahres 1992 einsetzen würde und Philipp G sei zu diesem Zeitpunkt bereits 10 Jahre tot gewesen.

Nun ist es so, dass eine Krankheit als "Quasi-" bzw. "Wie-Berufskrankheit" dann anerkannt werden kann, wenn sich das Meinungsbild einer solchen verfestigt habe, aber der politische Entscheidungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb will das Sozialgericht vom Bundesarbeitsministerium (BMAS) nun wissen, seit wann das Modell der "25 Faserjahre" als BK-relevant bekannt gewesen sei.

Antwort des BMAS: „Der Erkenntnisgewinn sei ein allmählicher und kontinuierlicher Prozess“. Ein genauer Zeitpunkt lasse sich daher nicht bestimmen. Konkret sei dies erst ab 31.03.1988 möglich, denn es gelte § 6 der Berufskrankheiten-Verordnung: „Bei einem Erkrankungseintritt vor diesem Stichtag ist eine Anerkennung ausgeschlossen, unabhängig davon, ob zu diesem Zeitpunkt die der Berufskrankheit zugrunde liegenden Erkenntnisse bereits vorgelegen haben oder nicht“.

Weiterhin: „Sofern ein Verfahren zum Zeitpunkt der Aufnahme der Krankheit in die Berufskrankheiten-Verordnung bereits begonnen hatte und nach § 9 Abs 2 SGB VII zu beurteilen sei, gelte die Rückwirkungsklausel auch für Fälle mit einem Verfahrensabschluss nach Inkrafttreten der jeweiligen Berufskrankheiten-Verordnung nicht“

Und: „Für die Anerkennung komme es darauf an, ob die entsprechenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Zeitpunkt der letzten Tatsachenentscheidung vorlägen. Diese müssten bei retrospektiver Betrachtung neu im Sinne des Gesetzes gewesen sein“  


2008

Inzwischen schreiben wir das 16. Jahr, seit Philipp G tot ist. Jetzt stirbt auch seine Witwe.

Sie hatte zuletzt ihr Leben mit einer kleinen Rente in Höhe von rund 500 DM, sprich 250 Euro fristen müssen. Da davon kein Mensch leben kann, auch nicht auf dem Land mit vier Kühen, war sie auf erhebliche finanzielle Unterstützung ihrer Tochter angewiesen. Eine Witwenrente durch die Berufsgenossenschaft wäre ausgesprochen hilfreich gewesen, weil ihr mit 52 Jahren verstorbener Mann ja nicht einmal das Rentenalter erreicht hatte.

Die Tochter ist entschlossen, den Kampf ihrer Mutter gegen die Berufsgenossenschaft, die sich immer noch weigert, eine Berufskrankheit ihres Vaters anzuerkennen, fortzuführen


Oktober 2008

Gutachter Nr. 8 - Gutachten Nr. 8

Da es jetzt die neue "BK 4104", Lungenkrebs durch Asbest, aber ohne Asbestose, gibt, wird ein weiterer Gutachter, ein Lungenfacharzt, Prof. Dr. med. HÜTTEMANN,  eingeschaltet, der begutachten soll, ob denn eine solche "BK 4104" vorliege.

Sein Resüme: Nein. Auch nicht eine "Quasi-Berufskrankheit" aufgrund einer Rückwirkung.

Begründung: Zwar könnte das "Fahrerfluchtphänomen" durchaus eine Rolle spielen, aber hier handele es sich bei den bisherigen Untersuchungsergebnissen um „charakteristische und typische Befunde für starke Inhalationsraucher mit chronischer Bronchitis und COPD“.

Allerdings, so räumt dieses Gutachter Nummero. 8 ein: 1982 habe es noch keine hochauflösende Computertomographie gegeben. Diese hätte „möglicherweise minimalasbestotische Strukturen nachweisen können. Jedoch  seien Diskussionen über die Aussagekraft solcher Methoden, projiziert in die damalige Zeit, rein virtuell und spekulativ“.

Ausserdem fehle es „für die von Prof. WOITOWITZ vermutete Quasi-Berufskrankheit Lungenkrebs durch Asbestfaserstaubeinwirkung ohne Nachweis einer Asbestose  bis zum heutigen Zeitpunkt an den dazu erforderlichen medizinisch gesicherten Erkenntnissen


März 2009

Gutachter Nr. 8 - Gutachten Nr. 9

Auch bei einer Nachfrage zu seinem Gutachten bleibt HÜTTEMANN bei seiner Einschätzung. Und die lautet: Nein!


Dezember 2009

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 10

Prof. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ ist erneut mit dem Fall betraut. Er erstellt ein weiteres Zusammenhangsgutachten, in dem er auf alle vorigen eingehen muss. WOITOWITZ bzw. seine Mitarbeiter rechnen erneut die Faserjahre aus. Und kommen auf den Wert von 40. Und nicht zu nur 14 Jahren, wie das der Technische Außendienst (TAD) der BG Bau errechnet hat.

WOITOWITZ ist schließlich der Experte, der 1980 maßgeblich die umfassende Studie des Umweltbundesamtes geschrieben hat, in der es um "Luftqualitätskriterien. Umweltbelastung durch Asbest und andere faserige Feinstäube" gegangen war. Diese Untersuchung war der Auslöser, dass sich die sozialliberale Bundesregierung bemüßigt sah, das Thema Asbest anzugehen und ein schrittweises Verbot anzugehen, das 1993, also 10 Jahre, nachdem Philipp G gestorben war, dann umgesetzt wurde. Und es war WOITOWITZ, der das Modell der "25 Faserjahre" sehr zum Missfallen vieler Kollegen, allen voran den Vertretern des GUV-Systems, im "Ärztlichen Sachverständigenbeirat 'Berufskrankheiten'" beim Bundesminister für Arbeit und Soziales durchgesetzt hatte. Wenn sich einer auskennt mit der Faserjahrsberechnung, dann WOITOWITZ.

Weil WOITOWITZ auch über alle originalen Unterlagen aus der Baustellen- bzw. Dachdeckerstudie verfügt, in deren Rahmen auch Philipp G untersucht und zu seinen Arbeits- und Lebensbedingungen gefragt worden war, entdeckt WOITOWITZ auch Fehler in den bisherigen Gutachten seiner Kollegen.

Die 20 Zigaretten pro Tag, auf die sich die Gutachter Nummero 5 und Nummero 8 versteift hatten, betrafen den Bruder, der ebenfalls als Dachdecker in der Studie erfasst worden war. Philipp G hat nach seinen Angaben täglich sogenannte "10-Pfennig-Stumpen" geraucht. Und Zigarren inhaliert man nicht, an Zigarren zieht und nuggelt man ohne den Tabakrauch einzuatmen.

Aufgrund der nahezu 26-jährigen Dachdeckertätigkeit seien die Asbestfaserstaub-Einwirkungen bei Philipp G „nach Art und Intensität als hinreichend geeignet anzusehen, um in Kombination mit den Einwirkungen von Bitumen oder Teer – d. h. auch  unter Berücksichtigung der synkanzerogenen, in der Regel jedoch nicht inhalativen Rauchgewohnheiten – eine wesentliche Teilursache seiner Erkrankung an Lungenkrebs darzustellen."

Und: WOITOWITZ erklärt nochmals seine Zahlen von "40 Faserjahren". Ein Dachdecker sei beim Flexen von Asbestzementplatten zwischen 30 bis 60 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft ausgesetzt (siehe das Foto, erstellt im Rahmen der Dachdeckerstudie)


2010

Gutachter Nr. 8 - Gutachten Nr. 11

Jetzt muss sich der so ertappte Gutachter Nr. 8 dazu äußern.

Prof. Dr. med. HÜTTEMANN vermag den WOITOWITZ'schen Argumenten nicht zuzustimmen: Es sei nicht seine Aufgabe, ein technisches Gutachten hinsichtlich der Berechnung der Asbestfaserjahre – ob 40 oder 14 - zu erstellen. Daher bleibe er bei seiner ablehnenden Meinung. Punkt.


danach

Der Präventionsdienst der BG Bau berechnet anhand der Angaben des früheren Arbeitgebers von Phlipp G für den Toten die Asbestfaserstaub-Gefährdung jetzt mit 21 Asbestfaserjahren. Nach den Angaben des bereits verstorbenen, ehemaligen Versicherten seien es dagegen lediglich 6 Asbestfaserjahre gewesen


Mai 2011

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 12

Prof. Dr. med. WOITOWITZ sieht demgegenüber keinen nachvollziehbar begründeten Anlass, von der Berechnung der ca. „40 Asbestfaserjahre“ abzuweichen. Hiernach habe der Asbesttote mehr als die BK-rechtlich notwendigen 25 Faserjahre erreicht. Punkt.


Mai 2012

Gutachter Nr. 9 - Gutachten Nr. 13

Und wieder ist ein weiteres Jahr ins hessische Land gegangen.

Nun wird Dipl.-Ing. Günther SONNENSCHEIN mit einem weiteren sicherheitstechnischen Gutachten beauftragt. Als langjähriger Mitarbeiter war er bei der großen Berufsgenossenschaft Holz und Metall beschäftigt. Anerkanntermaßen verfügt er auf diesem Gebiet über besonders umfangreiche und vielseitige Erfahrungen. 

Anhand der Ergebnisse seiner dezidierten Recherchen erstellt er ein ausführliches Gutachten. Darin geht er  zunächst den Fragen nach, seit wann sog. Winkelschleifer, also Flexgeräte auf Baustellen zum Einsatz kamen? Und seit wann Asbestzementprodukte damit von Dachdeckern bearbeitet wurden?

Nach seinen Recherchen habe Herr Greb 20,4 Jahre als Dachdecker gearbeitet. Unter Berücksichtigung 

  • der Winterausfallzeiten und damit einer verbleibenden jährlichen Arbeitszeit von 9 bis 11 Monaten, 
  • einer täglichen Arbeitszeit von 8 - 9 Stunden, 
  • der konkreten Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Verlegung von sog. Asbestzementwellplatten (50% Verlegung auf Dächern und 25% für Seitenwände + 25% für Schieferplatten aus Asbestzement),
  • sowie einer durchschnittlichen Schneidezeit pro Schicht mit der Winkelschleifmaschine von einer halben Stunde pro Tag,

ermittelt er eine Asbestfaserbelastung von 31,6 Faserjahren. 

Damit stehen jetzt mehrere Faserjahre-Berechnungen im Raum:

  • 14 durch den Gutachter Nr. 6
  • 21 ermittelt durch den BG-eigenen Präventionsdienst
  • 40, die Prof. WOITOWITZ errechnet hat
  • 31,6 seitens des BG-eigenen Gutachters 9 

SONNENSCHEIN ist nicht irgendwer. Günther SONNENSCHEIN gilt sowohl in den berufsgenossenschaftlichen als auch in den Staatlichen Arbeitsschutzgremien als besonders ausgewieser Experte


unmittelbar danach

Gutachter Nr. 3 - Gutachten 14

Im Auftrag des Gerichts sieht sich Prof. Dr. med. WOITOWITZ veranlasst, zunächst nochmals festzustellen, dass alle gesundheitlichen Daten, die er mit seinem Team seinerzeit im Zusammenhang mit der Baustellenstudie auch für den inzwischen Verstorbenen Herrn Philipp Greb erhoben habe, nicht nur korrekt erhoben, sondern auch dokumentiert worden seien. 

Hiernach habe der Tote zuvor keinesfalls „20 Zigaretten pro Tag“ geraucht. Da ist die BG Bau Hessen einem Fehler aufgesessen.  

Und egal, wie man jetzt rechne: Im Fall von Philipp G sind „die erforderlichen 25 Asbestfaserjahre als überschritten festgestellt worden“ – und zwar unabhängig davon, ob man nun von 31,6 oder von 40 Asbestfaserjahren ausgehe


November 2012

Gutachter Nr. 9 - Gutachten Nr. 15

Die von Dipl.-Ing. SONNENSCHEIN errechneten 31,6 Faserjahre versucht die BG Bau nun mit dem Hinweis zu entkräften, dass es Winkelschleifer, sprich die "Flex" generell erst seit 1965 eingesetzt worden wären. Und nicht bereits seit 1956. Ein Zahlendreher?

SONNENSCHEIN lässt sich nicht ins Boxhorn jagen. Schon garnicht als Mitautor des alle Jahre erscheinenden "BK-Reports Faserjahre", das das GUV-System herausgibt.

Günther SONNENSCHEIN bleibt bei seiner Berechnung: 31,6 Faserjahre


Januar 2013

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 16

Prof. Dr. med. WOITOWITZ weist ergänzend darauf hin, dass es ja auch selbst der frühere Arbeitgeber des Verstorbenen war, der den Gebrauch von Trennschleifern (Winkelschleifern) bzw. den Einsatz der "Flex" aktenkundig bereits seit 1961 bestätigt hat


Mai 2013

Gutachter Nr. 9 _ Gutachten Nr. 17

Dipl.-Ing. Günther SONNENSCHEIN weist nochmals ausdrücklich darauf hin, dass auch nach seiner Kenntnis Trennschleifer, die man auch als Winkelschleifer und im Volksmund als "Flex" bezeichnet, tatsächlich bereits seit 1961 im Einsatz gewesen seien


November 2013

Gutachter Nr. 8 - Gutachten Nr. 18

Nach den letzten positiv für den längst verstorbenen Phlipp G ausgehenden Gutachten fährt die BG Bau wieder Gutachter Nr. 8 auf. Prof. Dr. med. HÜTTEMANN betont erneut seine Annahme, dass „angesichts der pathologisch-anatomisch beschriebenen massiven Schädigung der Lunge durch Tabakrauch, d. h. durch die anthrakotische Pigmentierung davon auszugehen sei, dass der Versicherte auch ohne die berufliche Asbestfaserstaubeinwirkung an den Folgen seines Lungenkrebses verstorben wäre.“ 


Dezember 2013

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 19

Entschieden tritt Prof. Dr. med. WOITOWITZ erneut dieser Annahme entgegen. Denn es sei allseits bekannt, daß man Zigarrenrauch normalerweise nicht inhaliere. Ausdrücklich habe dies der verstorbene Dachdecker Philipp G zu Lebzeiten im Rahmen der anamnestischen Befragung aller 409 in seiner Poliklinik untersuchten Dachdecker selbst bestätigt. Diese Tatsache spricht somit eindeutig gegen die Annahme einer übermäßigen Verursachung des Bronchialkarzinoms durch das Tabakrauchen


Februar 2014

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 20

Erneut wird WOITOWITZ vom Gericht zu einem Gutachten aufgefordert. Es ist sein 7. Gutachten in dieser Sache. Und betont wiederum erneut, dass beim Toten kein Inhalationsrauchen stattgefunden habe. Und dass die krebserzeugende Eigenschaft des Asbests bereits im Jahr 1943 durch die seinerzeitige Reichsregierung anerkannt worden war. Allerdings habe damals beim asbestbedingten Lungenkrebs noch eine Asbebstose vorliegen müssen. Da ist man heutzutage mit den Erkenntnissen weiter: ein asbestbedingter Lungenkrebs kann sich auch ohne Asbestose einstellen – unabhängig davon, ob jemand raucht oder nicht, und unabhängig davon, wie er raucht


Januar 2015

Gutachter Nr. 10 - Gutachten Nr. 21

Die BG gibt sich nicht zufrieden, denn sie sieht ihre Felle davonschwimmen. Also behauptet sie, dass das Arbeiten von Philipp G mit einer Flex, bei dem eine extreme Staubbelastung entsteht, nicht zu belegen sei - Gutachter hin, Gutachter her.

Nun ist auch das Gericht verunsichert. Und bestellt ein weiteres Gutachten - Gutachten Nr. einundzwanzig. Die damit betrauten Herren kommen in ihrer arbeitsmedizinischen Begutachtung zu dem Ergebnis, dass Philipp G weniger als 25 Faserjahren ausgesetzt gewesen ist 


April 2015

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 22

Hans-Joachim WOITOWITZ weiß wovon er spricht, wenn er "Faserjahre" erklärt und sie berechnet. Unter seinem Vorsitz des "Ärztlichen Sachverständigenbeirats 'Berufskrankheiten'" beim Bundesarbeitsminister hat er dieses Modell durchsetzen können. Und er hat ja über einen längeren Zeitraum auf 88 Baustellen und 5 Schneideanlagen die Arbeitsbedingungen für Dachdecker gemessen und dokumentiert.

Auf keiner Baustelle hätten sie je irgendjemanden angetroffen, der mit einem Atemschutz ausgestattet gewesen ist. Und die Messungen haben beim Flexen eine Faserbelastung von 30 bis 60 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Luft ergeben. Selbst wenn man nur von 30 Millionen ausgeht, so hat ein Dachdecker, wenn er diesen Job ein ganzes Jahr lang ausübt, danach bereits das Kriterium von "25 Faserjahren" überschritten. Sind es 60 Millionen Fasern pro 1 Kubikmeter, so braucht es nur ein halbes Jahr.

Im Vergleich: Als man begonnen hatte, ab 1976 die Grenzwerte am Arbeitsplatz nach und nach zu reduzieren, so habe man bei 2 Millionen Maximalbelastung begonnen, die bis zum totalen Asbestverbot 1993 auf 15.000 heruntergefahren worden sei: auf einen Bruchteil von ursprünglich 2 Millionen. Hier aber stehen 30 bis 60 Millionen zur Debatte.

Und das, was die Berufsgenossenschaften bzw. ihre Dachorganisation, die "Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV)" als "Faserreports" veröffentliche, habe den Zweck, die arbeitstäglich beim Flexen etwa eine halbe Stunde lange Extrembelastung auf einen ganzen 8-Stundentag rechnerisch zu verteilen. Man könne auch davon sprechen, nachträglich die Extrembelastung auf dem Papier zu verdünnen. Aus arbeitsmedizinisch-fachärztlicher und toxikologischer Sicht sei das auf keinen Fall zu akzeptieren.

Wollten die BG-Gutachter damit etwa den eklatanten Verstoß gegen die geltenden Höchstgrenzwerte vor Gericht verschleiern?


April 2016

Gutachter Nr. 11 - Gutachten Nr. 23

Da sich die BG Bau nun in die Enge getrieben sieht, macht sie zwei Dinge:

Zum ersten besteht sie nun auf dem kausalen Vollbeweis des Zusammenhangs zwischen Asbestbelastung und Lungenkrebs. "Hinreichend wahrscheinlich", obwohl dies so im Gesetz steht, würden ihr nicht reichen. Und dabei dürfe der "Aspekt des Rauchens" keinesfalls bagatellisiert werden.

Zum zweiten fährt sie schweres Geschütz auf. Sie ordert den DGUV-Mann Dr. rer. nat. Markus MATTENKLOTT, der bei der DGUV bzw. dem ihr angeschlossenen "Institut für Arbeitsschutz (IFA)" in St. Augustin fürs Grobe, konkret fürs grobe Rechnen zuständig ist. Er ist auch Mitverfasser des DGUV-Reports "Faserjahre".

Dort finden sich viele Messdaten und Informationen auch von WOITOWITZ und seinem Team - aus insgesamt 14 wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Aber MATTENKLOTT verzichtet dann im Einzelfall darauf, die arbeitsmedizinische Interpretation zu übernehmen. Denn die passt meistens nicht zu dem, was die Berufsgenossenschaften möchten.

So kommt MATTENKLOTT auch zum Ergebnis, dass Philipp G die 25 Faserjahre nicht erreicht hat. Ergo: kein absestbedingter Lungenkrebs


November 2016

Gutachter Nr. 9 - Gutachten Nr. 24

Der anerkanntermaßen besonders langjährig praxiserfahrene, ehemalige Technische Aufsichtsbeamte der BG Holz und Metall in Düsseldorf, Dipl.-Ing. Günther SONNENSCHEIN, der sich jetzt zum 3. Mal mit dem Fall befassen muss, ist nach wie vor anderer Ansicht. Er schreibt, „dass auch die Hessische Baustellenstudie mit ausschlaggebend für die Aufnahme des Absatzes in der Berufskrankheiten-Verordnung gewesen sei“, nämlich die 25 Faserjahre betreffend. Und eben diese seien hier erreicht. Er bleibe bei seiner detaillierten Berechnung von 31,6 Faserjahren, die mehr sei, als die kritische Zahl von „25 Faserjahren


Dezember 2016

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 25

Die Tochter des toten Hessischen Dachdeckers kann eine Zeugenaussage eines ehemaligen Kollegen ihres Vaters vorlegen. Danach wurden bereits seit Mitte der 50er Jahre Asbestzementplatten in dem Unternehmen benutzt. Und anfangs habe man die Platten mit einem sogenannten Fuchsschwanz auf die benötigte Größe zurecht gesägt.

Jetzt wird der Arbeitsmediziner Prof. Dr. med. WOITOWITZ zum neunten Male bemüht. Und er fokussiert sich auf den sogenannten "Overload". Das ist die temporäre Spitzenbelastung, die "zu einem geradezu extrem hohen oxidativen, Krebs erzeugenden Stress" führt.

"Ganz besonders greift dieser overload die vulnerablen Zielzellen der Bronchialschleimhaut an. Gerade dort werde der sog. „Lungenkrebs“ aufgrund der fehlenden Abwehrmöglichkeiten gegenüber der in überwältigender Anzahl eingedrungenen, anerkanntermaßen Krebs erzeugender Asbestfasern verursacht. Deshalb sei die Tatsache einer Differenz zwischen tatsächlich 30-60 Millionen - gegenüber den von Dr. Mattenklott bevorzugten 4,0 bis 6,4 Millionen pro Kubikmeter Atemluft eingeatmeten Astbestfasern - fachärztlich aufgrund des Tatbestandes eines lebensbedrohenden Überladungsphänomens keinesfalls ein lediglich unbedeutendes Schädigungsmuster. 

Deshalb sei klar, "dass die eingeatmeten, bekanntermaßen Lungenkrebs verursachenden Asbestfasern eine teilursächlich wesentlich mitwirkende Ursache für den Tod an Lungenkrebs beim Versicherten aufgrund seiner Tätigkeit als Dachdecker darstellen. Sie könne beim Erreichen von mindestens 25 Asbestfaserjahren nicht hinweg gedacht werden, ohne dass der 'Erfolg' entfalle.

Denn gemäß der Erfahrungen der eigenen „Baustellenstudie Hessen“ sei an immerhin 15 Tagen jährlich zu je 30 Minuten  mittels eines Trennschleifers gearbeitet worden. Die Dachdeckertätigkeit sei mit 20,4 Asbestfaserjahren und die Schneidearbeiten mit der Flex bei den Fassadenverkleidungen mit 10,2 Asbestfaserjahren zu berücksichtigen."

Und im übrigen sei bei der ganzen Kausalitätsbetrachtung noch nicht berücksichtigt, dass Philipp G an 5 Tagen pro Jahr auch mit Bitumen gearbeitet habe mit einem hohen Teeranteil. Deswegen müssen eigentlich auch die Einwirkungen von "polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen vom Typ des Benzo(a)pyrens" berücksichtigt werden. Dabei sei "zusätzlich von mindestens vier Benzo(a)pyren-Jahren auszugehen"


März 2017

Gutachter Nr. 9 - Gutachten Nr. 26

Und wieder wird Dipl.-Ing. SONNENSCHEIN zu Rate gezogen. Er muss erneut ermitteln, nachdem das Sozialgericht Fulda im fünfunddreißigsten Jahr mehrere Zeugen nicht persönlich, sondern schriftlich danach gefragt hat, was wohl einen typischen Dachdeckerarbeitstag ausmacht?

Konkret geht es um Fragen: Wie hoch ist der zeitliche Anteil der Schneidearbeiten der Asbestplatten: 30%? 40% Mehr? Weniger? Mehr als 30 Minuten pro Tag? Weniger als 30 Minuten pro Tag?

SONNENSCHEIN, der diese Antworten auswertet, kommt zu diesem Ergebnis:

Ab Anfang der 1960er Jahre sei von den vielfältigen Angeboten der Asbestzement-Bauprodukte Gebrauch gemacht worden. Bis zur Änderungen der Unfallverhütungsvorschriften 1973/1974 hat ein völlig unkontrollierter Umgang mit Asbest stattgefunden.“

Ergo: „Die Asbestexpositionen vor den 1970er Jahren sind deutlich höher gewesen: um den Faktor 10 und höher.“


Juli 2017

Gutachter Nr. 11 - Gutachten Nr. 27

Und wieder wird der IFA-Mann Dr. Markus MATTENKLOTT bemüht. Er kommt erneut mit seiner Tabelle. Laut den eigenen Angaben des Toten und den Daten, die Prof. WOITOWITZ in seinem ersten Gutachten (Gutachten Nr. 3) aufgeführt habe, ergebe die tatsächliche Dosis „nur etwa 1/3 der in der Tabelle ausgewiesenen Werte.

Und so sehen die Zahlenspielereien aus, die man wissenschaftlich Sensitivitätsanalyse nennt; sie sind in der Tabelle dokumentiert.

Dazu kommt, so laut MATTENKLOTT: „weil der Schneideaufwand für das Verlegen von Wellasbest auf Dächern bei 6% der Arbeitszeit gelegen habe. Wenn großflächige Dächer erstellt worden seien (z.B. Hallen oder Scheunen) reduziere sich der Aufwand auf nur 1% der Arbeitszeit."

Der Gutachterstreit dreht sich aber auch darum, ob konkrete „Tätigkeitswerte“ zu unterstellen seien, die hohe Spitzenexpositionen berücksichtigen können, oder „Schichtmittelwerte“.

Aber das sei im Endergebnis egal, er, MATTENKLOTT würde mit Schichtmittelwerten rechnen, die „natürlich niedrigere Zahlen als der Blick auf die einzelne darin enthaltene hoch exponierte Tätigkeit“ enthalten. Aber „es sei jedoch in den die Dosisberechnung unterfütternden Berichten zu den asbestexponierten Tätigkeiten eines Arbeitsnehmers grundsätzlich zu erkennen, welche wie hoch belasteten Arbeiten durchgeführt worden seien. Bei der Verwendung des Schichtmittelwertes von 4 F/cm3 werde selbstverständlich auch der Schneideanteil der Flex mit einer Exposition von 60 F/cm3 erfasst."

Und zu den von WOITOWITZ in die Diskussion eingebrachten kurzfristigen Staubbelastungen („Overload“), die eine stärkere Gefährdung für die Lunge darstellen als über eine längere Zeit verteilte gleiche Belastungen bei geringerer Expositionshöhe, meint MATTENKLOTT: WoITOWITZ habe in seiner Zeit als „der führendste Asbestexperte“ im "Ärztlichen Sachverständigenbeirat ‚Berufskrankheiten‘" bei der Erstellung des Merkblattes die Overload-Problematik nicht erwähnt oder diskutieren lassen. Und deshalb sei das jetzt vorgebrachte Argument „nicht relevant


März 2018

Gutachter Nr. 11 - Gutachten Nr. 28

MATTENKLOTT ergänzt seine Argumentation mit weiteren Detailüberlegungen, die u.a. darauf abzielen, dass der tote Dachdecker nicht den ganzen Tag mit Asbestzement gearbeitet habe, „sondern nur einen bestimmten zeitlichen Anteil davon“. 

Der aber lässt sich – nach 35 Jahren – nicht mehr exakt rekonstruieren


August 2018

Gutachter Nr. 9 - Gutachten Nr. 29

Und wieder ist der ehemalige Mitarbeiter der BG Holz und Metall, Dipl.-Ing. Günther SONNENSCHEIN gefragt. Er hat inzwischen erfahren, dass der Tote seinerzeit selbst „60 % Asbestzementplattenverarbeitung“ angegeben habe und die Inhaberin des Dachdeckerunternehmens sogar „80%“. Hieraus ergibt sich eine „Gesamtbeschäftigungszeit von 10,3 Jahren mit Asbestzementprodukten (17,2 Jahre Dachdeckertätigkeit mal 60%). Lege man die vierte Auflage des 'BK-Reportes 1/2007 Faserjahre' zugrunde, ergibt sich für die Dacheindeckungen mit Asbestzementplatten ein Schichtmittelwert von 20,6 Asbestfaserjahren, für die Arbeiten mit Asbestzementtafeln ein Wert von 16,6 und für die Asbestfassadenverkleidungen ein Wert von 1,04 Asbestfaserjahren. Insgesamt ist der Tote 37,2 Faserjahren ausgesetzt gewesen


September 2018

Gutachter Nr. 3 - Gutachten Nr. 30

Dem, was der ehemalige Mitarbeiter einer anderen BG, Dipl.-Ing. SONNENSCHEIN, geschrieben hat, widerspricht (natürlich) die BG Bau. Sie ist es ja, die im Zweifel zahlen muss. Und meint, „eine Basis der notwendigen gesicherten arbeitstechnischen Anamnese nicht gegeben ist“, die Herr SONNENSCHEIN dargelegt habe. Anders gesagt, was Dipl.-Ing. SONNENSCHEIN ermittelt und zur Grundlage seiner Faserjahren-Berechnungen gemacht hat, taugt nichts.

Deswegen kommt erneut der Arbeitsmediziner Prof. Dr.med. Hans-Joachim WOITOWITZ ins Spiel, der als "Asbest-Pabst" gilt.

Es ist das 10. Gutachten, das WOITOWITZ in dieser Sache erstellt. Der Fall geht jetzt ins 36. Jahr, der Dachdecker ist längst tot, seine Witwe ebenfalls und nur die Tochter führt das Verfahren weiter, aus grundsätzlichen Gründen. Sie möchte Gerechtigkeit walten sehen für ihren Vater, der jahrelang dem gefährlichen Stoff ausgesetzt war, nie darauf aufmerksam gemacht wurde, weder vom Unternehmen noch von der zuständigen Berufsgenossenschaft, die – eigentlich – auch für Prävention, also Vorbeugemaßnahmen zuständig ist.

Aber sicherheitstechnische Vorkehrungen kosten immer Geld und das will die Berufsgenossenschaft Bau ihren Mitgliedsunternehmen nicht zumuten. Oder anders gesagt: die darüber versicherten Unternehmen, die die Berufsgenossenschaft finanzieren, haben daran selbst kein (großes) Interesse, wenn es auch anders geht. Anders in dem Sinne, dass man die gesundheitlichen Folgen den Beschäftigten aufhalst und sich selber sauber und frei von möglichst vielen Kosten hält.

Das mag die Tochter des toten Dachdeckers nicht akzeptieren.

WOITOWITZ steigt also erneut in den sozialgerichtlichen Ring.

Und betont erneut, dass eine Dosis-Wirkungsbeziehung nicht nur linear verlaufe, insbesondere nicht bei Asbest. Auch bei Alkohol sei es nicht anders. Wer 2 Flaschen Hochprozentiges auf einmal hintereinander trinke (Fall "Overload"), bekomme eine Alkoholvergiftung und käme bestenfalls ins Krankenhaus, im schlechtesten Fall gleich in die Kiste. Würde man sich die beiden Flaschen innerhalb zwei Wochen nach und nach zu Gemüte führen, sei das eindeutig weniger problematisch. 

Gleiches gilt für Tabletten. Nimmt man 3 Tabletten auf einmal, die man eigentlich über 24 Stunden verteilen soll, können toxische Nebenwirkungen durch Überdosis zustande kommen; Nebenwirkungen die nachhaltige Schädigungen nach sich ziehen können. Und bei Asbest geht es um mehr als nur um „Nebenwirkungen“


3. Dezember 2018

Gerichtstermin im Sozialgericht Fulda, Aktenzeichen S 8 U 120/05

Aber das will die Richterin am Sozialgericht Fulda in der Verhandlung nicht gelten lassen. 

WOITOWITZ ist auf Bitten der Richterin nach Fulda gefahren, um seine Argumente nochmals coram publico zu erläutern und er hat auch gleich eine Präsentation mitgebracht, in der er nochmals deutlich macht, dass der tote Dachdecker in seiner arbeitstäglichen Situation mit bis zu 60 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft pro Stunde ausgesetzt war. Seit 1976 hätte – eigentlich – ein Grenzwert von maximal 2 Millionen Asbestfasern gegolten. Und der sei dann nach und nach reduziert worden. Erst auf 1 Million seit 1985, dann auf 250.000 und seit 1995 gelte ein Maximalwert von nur noch 15.000 Fasern pro Kubikmeter Atemluft. Und all das hätte seinen Grund gehabt, dass man die Grenzwerte erst reduziert und dann, 1995, Asbest ganz verboten habe.

Die Richterin macht das, was fast alle Richter an den Sozialgerichten machen: den „Vollbeweis“ anzuzweifeln, weil das die geringste Arbeit macht. Schon deswegen, weil sich danach die Berufsgenossenschaft zufrieden gibt. Die dann auch keine weiteren Einsprüche geltend macht und das Gericht mit weiteren Schriftsätzen und gutachterlichen Stellungnahmen bombardiert.

Also schreibt sie in die Urteilsbegründung dies:

„Im Unfallversicherungsrecht müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen einschließlich Art und Ausmaß sowie die Erkrankung erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich ihrer Art und ihres Ausmaßes (sog. arbeitstechnische Voraussetzungen) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein, wobei kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen der Tatbestandsmerkmale zweifelt. Es muss ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass alle Umstände des Einzelfalles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen. 

Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Diese hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist.

Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. 

Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Feststellungslast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers.“

Und ein wenig entschuldigend fügt die Richterin hinzu:

Die Kammer sieht wohl die erheblichen Belastungen, denen Dachdecker und all die anderen Berufsgruppen, die mit dem 'Wunderstoff' Asbest gearbeitet haben, ausgesetzt gewesen sind. Die Gefährlichkeit steht vollkommen außer Frage. Auch der Umstand, dass möglicherweise schon eine Faser zur Verursachung tödlicher Krankheiten ausreichen kann, ist der Kammer bewusst.

Allerdings muss sich die Kammer bei der Bewertung an die Vorgaben des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung halten. Dazu müssen die einwirkenden Umstände im Vollbeweis notwendig sein.


Und dieser „Vollbeweis“ war nachträglich einfach nicht mehr zu erbringen. Denn das „gesetzliche Recht“ der Unfallversicherung ist eben so, wie es die Mehrheit der Parlamentarier im Deutschen Bundestag gesetzt hat. Seit Jahrzehnten.


(JL)