Luftfahrt: zwischen Präventionsdenken und Schweigegeldern

Fliegen gilt als das sicherste Verkehrsmittel. Und so ist es auch tatsächlich. In wenigen Bereichen haben die Branche selbst und die Politik so viele Regelungen, sprich Vorsorgemaßnahmen eingezogen wie in der Luftfahrt. Der Grund ist einfach: Bei einem schweren Autounfall ist das Fortbewegungsmittel kaputt und die Insassen entweder verletzt oder schwer verletzt, (nur) manchmal tot. Bei einem vergleichbaren Flugzeugunfall haben die Menschen in der Regel keinerlei Überlebenschance. Und dann sind es meist auch mehrere, die tot sind, und das Flugzeug ist nur noch Schrott - mehrere Millionen Dollar müssen abgeschrieben werden. Ein Airbus kostet um die 300 Millionen.

So war und ist der brancheninterne (u.a. der ökonomische) sowie der externe, der öffentliche Druck erheblich größer, Flugunfälle tunlichst zu vermeiden. In den USA, wo das Lernen aus Fehlern begann, sind auch viele Politiker bei Flugzeugdesastern ums Leben gekommen - die USA sind ein großes Land und Fliegen war dort schon immer wegen der großen Entfernungen der Normalfall. So war auch dies ein Grund, dass die Politik nicht tatenlos zusah. Diese Entwicklung, die dort im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" ganz maßgeblich die Fehlerkultur vorantrieb, also das Lernen aus Fehlern, haben wir rekonstruiert unter Meldesysteme in der Luftfahrt - Whistleblower auch hier unverzichtbar.

Von dort konnte sich die Vorsorge-Philosophie, konkret das Präventionsdenken auch nach Europa und anderen Kontinenten verbreiten. Heute kann die Luftfahrt stolz von sich behaupten, das mit Abstand sicherste Fortbewegungsmittel zu sein und technische Fehlerkultur, technisches Qualitätsmanagement und technisches und organisatorisches Präventionsdenken flächendeckend implementiert zu haben. Jedenfalls in jenen Bereichen, die sichtbar, für jeden wahrnehmbar und deswegen im öffentlichen Blickfeld sind.

Nicht sichtbar, nicht für jeden wahrnehmbar und deswegen nicht in der öffentlichen Diskussion ist allerdings ein Problem, das

  • der Branche seit rund 65 Jahren bekannt ist
  • regelmäßig auftritt
  • und dessen Folgen von vielen Betroffenen eben nicht im Zusammenhang mit eben diesem Problem gesehen werden, weil niemand darüber spricht. Am wenigsten jene, die um das Problem wissen: die Luftfahrtindustrie.

Die Rede ist von sogenannter kontaminierter Kabinenluft, sprich von "Smell Events" oder "Fume Events". Das Problem: Die Luft im Flugzeug wird über die (Hochleistungs)Turbinen abgezapft, also dort, wo es richtig heiß ist, dann verdichtet und so über die Klimaanlage verteilt. Die rechte Grafik zeigt dies am Modell: "Bleed-Air" meint "Zapfluft"

Wenn die Dichtungen in den Turbinen, die mit speziellen Motorölen am Laufen gehalten werden (müssen), ganz neu und 100%ig dicht sind, nicht porös werden oder lecken, dann kann im Regelfall eigentlich nichts passieren.

Ist das nicht der Fall, dann strömt verdampftes Motoröl in die Kabine. Die Grafik links unten zeigt einen solchen Turbinenmotor, der hier aus der Turbinenschale gezogen ist. Und wo genau die Luft abgezapft wird.

Bei einem Auto käme niemand auf die Idee, den Auspuff durch den Fahrgastraum zu legen, um von der Wärme zu profitieren und sich darauf zu verlassen, dass das Rohr schon perfekt halten werde. Mit der Beruhigung, dass man ja im Ernstfall das Fenster herunterdrehen könne. Im Flugzeug geht das bekanntlich nicht. 

Genau so kann man sich - übertragen - das im Flugzeug vorstellen. Mit einigen Besonderheiten. Verdampftes Motoröl enthält mehrere chemische Stoffe, sog. Additive, die toxisch sind. Konkret: Organophosphate, darunter beispielsweise Trikresylphosphat (TKP, im englischen: TCP) - ein Nervengift. Diese TCP-Additive haben die für die Motoröle gewünschte Eigenschaft, hohe Temperaturen auszuhalten, gut zu schmieren und dabei wenig flammbar zu sein. Aber: Sie sind mehr als schädlich.

Wird die Luftfahrt darauf angesprochen lautet das Standardargument regelmäßig: TCP ist maximal mit 5% enthalten. Und die Giftstoffe lägen alle unter den Grenzwerten. Und deswegen seien keine negativen Folgen bekannt, die sich auf dieses Problem zurückführen ließen. Mit dieser Logik (z.B. Grenzwerte bei Nervengiften) setzen wir uns im Kapitel Gesundheit, Wissenschaft und Interessen beim aerotoxischen Syndrom auseinander.

Was ebenfalls regelmäßig abgestritten bzw. kleingeredet wird: die Häufigkeit solcher Vorkommnisse. Der WDR hatte vor einiger Zeit für das Jahr 2008 - nachträglich - 121 solcher Fume Events recherchiert. Bei der für Deutschland zuständigen Behörde, der Bundesanstalt für Flugunfalluntersuchungen (BFU), waren davon nur 56 registriert. Weniger als die Hälfte. Das Luftfahrtbundesamt (LBA) hatte überhaupt nur von 10 solcher Vorfällen erfahren. Und bei der EASA, Europas oberste Behörde für die Sicherheit im Flugwesen, war kein einziger dieser 121 Vorfälle notiert. Dies haben wir unter "Incidents": Vorfälle, die meistens nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen rekonstruiert.

Dass dies so ist, hängt mit mehreren Faktoren zusammen:

  • Die Melde-Vorschriften werden von den Airlines lax praktiziert und noch laxer von den Behörden kontrolliert
  • Das Flugpersonal steht unter erheblichem Druck: die Arbeitgeber, die Fluggesellschaften, sehen das nicht gerne und signalisieren unmissverständlich Sanktionen, und zwar der unterschiedlichsten Arten. Außerdem verdrängen die Crewmitglieder oft das potenzielle Gesundheitsproblem: In den Arbeitsverträgen gibt es einen Passus, der besagt, dass bei Erkrankung - etwa aufgrund des aerotoxischen Syndroms -, also bei Flugunfähigkeit, "das Arbeitsverhältnis endet, ohne dass es einer Kündigung bedarf."
  • Die Passagiere wissen von all diesen Dingen so gut wie nichts. Und können deshalb von sich aus wenig unternehmen
  • Die Politik, konkret die Parteien CDU/CSU, die FDP (als es sie im Bundestag noch gab), aber auch die SPD in der Großen Koalition, nehmen das Problem nicht ernst, egal aus welchen Gründen. Stattdessen versuchen sie es ganz offensichtlich auszusitzen. Das haben wir rekonstruiert unter Die Politik und das aerotoxische Syndrom.

Weil es daher keine flächendeckenden Informationen zur Häufigkeit gibt und die Vorfälle verschwiegen werden, weil sie nach der Argumentation der Airlines und der Aufsichtsbehörden gar keine Gefährdung darstellen, haben wir mit Januar 2017 beginnend ein aerotoxisches Logbuch gestartet. Dort listen wir solche Vorfälle auf, sofern sie uns bekannt werden. Und wir dokumentieren, was sich sonst so tut bei diesem potenziellen Gesundheitsproblem. Bzw. was sich nicht tut:  www.ansTageslicht.de/ATLB. Dieses Aero-Toxische Log Buch wird unter der Rubrik "Aktuelle Entwicklungen" geführt, die Sie auch auf jeder Seite links ganz oben ansteuern können.

Sicher ist nur, dass es immer mehr Betroffene werden, die in "Smell Events" bzw. "Fume Events" geraten. Die Folge: kontaminierte Kabinenluft. Es sind - nach bisherigem Erkenntnisstand - über 200 chemische Stoffe, die über pyrolisiertes Motoröl aus der Turbine oder sonstwie in die Klimaanlage geraten (können). Anschlussfolge: unterschiedliche gesundheitliche Auswirkungen, abhängig von der individuellen genetischen Disposition, die unter dem Stichwort aerotoxisches Syndrom zusammengefasst werden. Mehr dazu unter Gesundheit, Wissenschaft und wirtschaftliche Interessen.

Die potenziell Betroffenen des "aerotoxischen Syndroms": Piloten, das Kabinenpersonal und Vielflieger. Unter Betroffene kontaminierter Kabinenluft haben wir einige Lebensläufe skizziert. Darunter auch jenen ehemaligen Lufthansa-Piloten, der in rund 50 solcher Fume Events geraten war und fluguntauglich wurde und der schon früh erst intern innerhalb des Lufthansa-Konzerns die Probleme kommuniziert hatte, erfolglos. Dann aber auch den Medien Rede und Antwort gestanden hatte.

Er wurde nicht gekündigt. Die Lufthansa bezahlte ihm einfach kein Gehalt mehr - er konnte ja nicht mehr fliegen. Als er nach mehreren Jahren finanziell am Boden lag und dann zu klagen begann, bekam er eine bescheidene Abfindung. Die Gegenleistung: eine Verschwiegenheitserklärung (siehe Bild und das dahinter liegende PDF).

Dies ist ein weiteres Problem: Wenn Betroffene bzw. Gesundheitsgeschädigte dennoch klagen, beispielsweise vor den Sozialgerichten, um die gesundheitlichen Folgen und Leiden als Berufskrankheit anerkannt zu bekommen, enden derlei Versuche ganz oft ergebnislos. Die Airlines bieten in letzter Sekunde bescheidene Abfindungen an und die Betroffenen sehen sich meist gezwungen, derlei Angebote anzunehmen, weil "wenig" immer noch mehr als "garnichts" ist - von den Gerichts- und Anwaltskosten abgesehen. Sog. Lost-Licence-Versicherungen sind sehr teuer, Kabinenangestellte können sich so etwas nicht leisten, müssten sonst von einer Minirente leben - für den Rest ihres Lebens.

So ist auch hier der Druck des Luftfahrt-Business auf das Personal immens, nicht darüber zu reden und nichts zu sagen. Und dies verfestigt den oben geschilderten Zusammenhang, dass dieses Thema - bisher - nicht groß in die öffentliche Wahrnehmung geriet. Für die Luftfahrt ist es eben so lange kostengünstiger, Schweigegelder zu bezahlen und technische Veränderungen zu unterlassen, wie das Problem noch nicht in aller Öffentlichkeit ist.

So gesehen ein Paradoxon: Fliegen ist sicher und die Luftfahrt tut (fast) alles, um mittels Präventionsdenken technische Sicherheitsstandars zu gewährleisten und zu verbessern. Nur hier geschieht nichts. Ausnahme: der Dreamliner (Boeing 787), der jetzt wieder- wie vormals -  mit sog. Stauluft (von hinten am Heck) belüftet wird.

Wie das Phänomen des aerotoxischen Syndroms zumindest ein klein wenig bekannt wurde, haben wir in einer Chronologie rekonstruiert: Kontaminierte Kabinenluft: Ein Gesundheitsproblem wird zur Gewissheit

Wie das Thema im WIKIPEDIA dargestellt wird, dokumentieren wir ebenfalls. Schließlich ist diese Plattform für viele der Weisheit letzter Schluss. Und weil nichts bleiben muss, wie es ist, geben wir unter Was kann man tun Hinweise und Tipps, wie sich jeder verhalten kann (z.B. medizinisch), wenn er in ein Fume Event gerät, und was jeder sonst tun kann, diesem Problem abzuhelfen.

Wenn Sie diwww.ansTageslicht.de/Kaese Site direkt aufrufen oder verlinken wollen, geht dies ganz einfach mit dem Permalink www.ansTageslicht.de/Kabinenluft. Das aerotoxische Logbuch über www.ansTageslicht.de/ATLB.

(JL)

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