Vermächtnis eines Vaters

Ein Portrait

Dies ist die Geschichte einer jüdischen Familie in Stuttgart. Alfred Kandler hat sie aufgeschrieben, bevor er starb. Sein Sohn Henry reist mit ihr in die Vergangenheit.
Von Michael OHNEWALD, Stuttgarter Zeitung 2. Februar 2011


Manchmal gibt es Punkte im Leben, die so weit auseinanderliegen, dass es fast unmöglich scheint, sie mit einer Linie zu verbinden. Deutschland und Amerika heißen die Punkte bei Henry Kandler. Vergangenheit und Gegenwart. Dazwischen liegt eine Fahrt im Zug nach Nirgendwo.

Henry Kandler ist 81 Jahre alt. Da hat man nicht mehr allzu lange. Vielleicht drängt es ihn deshalb, sein Leben auf Linie zu bringen. Er tut das von hinten nach vorne, vom Heute zum Gestern. Seine Reise führt ihn von New York nach Stuttgart, wo es ein Haus gibt, das schweigt zu einer schreienden Geschichte. Das frühere Hotel Silber. Die Zentrale der Gestapo.

Ein paar Kilometer von diesem Ort entfernt sitzt an diesem Nachmittag ein Mann mit schlohweißen Haaren, schwarzem Rollkragenpulli und wachen Augen am Tisch von Freunden in Sillenbuch. Henry Kandler ist zurückgekommen in die Stadt seiner Väter, die neun Jahre lang auch seine war. Neben ihm liegt ein blaues Buch. Der Lebensbericht seines Vaters Rudolf Kahn, eines schwäbisch-jüdischen Textilunternehmers, der sich später in Alfred Kandler umbenannte. Die Aufschriebe lagen in einer Schublade, bis sie der Sohn auf seine alten Tage hervorkramte. Das Archiv der Stadt Stuttgart hat daraus ein Buch gemacht, das gestern Abend vorgestellt worden ist.

Henry Kandler ist der Einzige aus seiner Familie, der noch davon erzählen kann, wie sich das anfühlt, wenn man plötzlich nicht mehr mit der Großmutter ins Schwimmbad darf, wenn an vertrauten Geschäften große Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ prangen. Er hat das alles abgelegt in der Asservatenkammer des Gedächtnisses. Sie zu öffnen fällt ihm nicht immer leicht.

Zweiundsiebzig Jahre ist er jetzt fort aus seiner Heimatstadt. In Amerika hat er sich ein neues Leben aufgebaut. Manchmal kann Henry Kandler kaum glauben, dass es immer noch dasselbe ist.

Heinz Otto Kahn heißt der Junge, der am 5. September 1929 in Stuttgart zur Welt kommt. Er wächst behütet auf in einer nichtreligiösen jüdischen Familie, deren Wurzeln in dieser Gegend bis 1529 zurück- reichen. Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, führen die Kahns einen florierenden Textilbetrieb in Laichingen auf der Schwäbischen Alb, wo eine Straße nach dem Firmengründer benannt ist.

Acht Jahre alt ist Heinz Otto Kahn, als er seinen Vater zum ersten Mal weinen sieht. Die Nazis zwingen den Unternehmer, seine Textilfabrik zu einem Schleuderpreis an einen SS-Offizier zu verkaufen. Auch aus der Wohnung im Stuttgarter Herdweg müssen die Kahns ausziehen. Nach der Reichskristallnacht spitzt sich die Lage zu. Vater Rudolf und Großvater Paul werden im Hotel Silber verhört. Der Name klingt einladend, doch in Wahrheit steht er für das Grauen. An diesem Tatort der Geschichte hat die Gestapo ihr Hauptquartier für Württemberg. Für viele, die in Stuttgart und drum herum verhaftet werden, ist dieses Haus die erste Station eines Leidenswegs.

Der Rassenwahn greift um sich. Die Juden sollen aus dem Land getrieben werden. Vater Kahn wird ins Konzentrationslager nach Dachau verfrachtet und wie viele andere misshandelt. Als er mit Glück frei- kommt, erhält er eine Bescheinigung der Geheimen Staatspolizei: „Der Jude Rudolf Kahn wurde heute aus der Schutzhaft entlassen. Er hat sich freiwillig bereiterklärt, sofort seine Auswanderung zu betreiben.“

Spätestens jetzt wissen sie, wem die Stunde geschlagen hat. Umgehend schickt die Familie ihren Sohn Heinz und dessen zwei Jahre jüngeren Bruder Gert zu Verwandten nach London. Geplant ist, dass alle bald wieder in der Schweiz zusammenkommen, wo der Vater eine Stelle in Aussicht hat. 10 000 jüdische Kinder werden im Januar 1939 in Züge nach England gesetzt. Sie ahnen nicht, dass die meisten von ihnen ihre Eltern nicht wiedersehen.

Mit der Zukunft in der Schweiz wird es nichts. Der kleine Heinz muss bei Onkel Edwin in England ausharren, mit dem er nicht sonderlich gut auskommt. Der Junge wird Henry gerufen. Er bleibt nirgendwo lange, besucht sechs Schulen, lebt bei zwei Pflegefamilien und getrennt von seinem Bruder auch monatelang im Internat. Als deutsche Flieger ihre Bomben über der Stadt abwerfen, verschwimmen für ihn alle Grenzen. In London werden die Kinder bei Alarm in Bussen vor die Stadt gekarrt, die mit Angst geheizt sind. Henry denkt nur noch in Kategorien von Gut und Böse. Die Nazis sind eindeutig die Bösen.

Was in Stuttgart aus seinen Eltern wird, weiß er nicht. Er wartet Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Es kommen keine Briefe mehr. Er ist verzweifelt, fühlt sich allein, nichts will ihm gelingen. Sein Vater ist weit weg und kann ihm nicht helfen. Rudolf Kahn hat selbst größte Probleme in einem Land, in dem alle Dämme der Menschlichkeit brechen. Mit seiner Frau Grete bekommt er 1941 eine der letzten Passagen nach Amerika. Beim Abschied schreibt er in sein Tagebuch: „Sich von den Lieben endgültig zu verabschieden ist immer schwer. Noch viel schlimmer ist es allerdings, wenn man aus guten Gründen glauben und fürchten muss, dass man sie nie wiedersehen wird.“

Rudolf und Grete Kahn schaffen es nach New York und fangen dort in einer Weberei als Fabrikarbeiter ganz unten an. Aus Rudolf Kahn wird Alfred Kandler. Drei Jahre später holt er seine Söhne nach. Heinz alias Henry ist jetzt 14 und fühlt sich als Engländer. Er muss seinen Alltag neu möblieren. Die Eltern sind Deutsche, und ein bisschen fremd sind sie auch. Es dauert seine Zeit, bis sie sich wieder nahekommen.

Solche Brüche wirken nach, ohne dass es einem bewusst ist. Mit den Kandlers geht es aufwärts in der neuen Welt. Die Eltern können ihrem Sohn ein Studium finanzieren. Henry wird Fachmann für geschun-dene Seelen. In New York arbeitet er als Kinder- und Jugendpsychiater und lehrt als Professor am Albert-Einstein-College.
Nach dem Krieg bekommen die Kandlers ihre Weberei in Laichingen zurück, aber sie wollen nicht mehr in diesem Land leben. Acht nahe Verwandte, so erfahren sie, sind von den Nationalsozialisten ermordet worden, darunter auch Henrys Großeltern. Die Familie verkauft die Weberei. Alfred Kandler verbringt seinen Lebensabend in Philadelphia, wo er seine Erinnerungen schreibt und sie vor seinem Tod 1975 an die Kinder und Enkel schickt.

Lange her. 35 Jahre später sitzt Henry, der einst im Zug nach England flüchten musste, wieder dort, wo alles angefangen hat. Vor sich hat er das Vermächtnis seines Vaters, gespickt mit erhellenden Details aus einer dunklen Epoche. Henry Kandler hatte Freunden aus Stuttgart irgendwann von dem Manuskript in seiner Schublade erzählt, und so kam es zu diesem späten Buch in seiner Geburtsstadt, die sich in diesen Tagen schwertut mit ihrer Geschichte.

Das liegt an jenem Haus in der Dorotheenstraße 10, das einem neuen Stadtquartier der Firma Breuninger weichen soll. Henry Kandler weiß von dem Streit, der in Stuttgart um dieses Gebäude tobt, in dem heute Ministerialbeamte ihren Dienst versehen. Für einen Moment macht er eine Pause. Sein Gesicht wirkt plötzlich seltsam hart. Als Psychiater, erzählt er dann, seien ihm viele Menschen begegnet, die in Konzentrationslagern in menschliche Abgründe geblickt hätten. „Für mich ist das Hotel Silber für all das eine Projektion.“

Henry Kandler hat einen Brief an Willem G. Van Agtmael geschrieben und dem Breuninger-Chef mitgeteilt, dass sein Kaufhaus in früheren Zeiten vermutlich auch Stoffe der Leinenweberei Kahn geführt habe. „Ich würde das Hotel Silber gerne als einen Ort bewahrt wissen, der an dunkle Zeiten erinnert, die sich niemehr wiederholen dürfen“, heißt es in Kandlers Brief. Eine Antwort hat er bis heute nichtbekommen.

Es sind aufwühlende Tage für den betagten Zeitzeugen. Er hat noch einige Termine in Stuttgart. Auch bei Schülern des Dillmann-Gymnasiums. Sein Vater ist dort zur Schule gegangen. Er will ihnen von der Vergangenheit erzählen, die nachwirkt. Henry Kandler kann gut mit Menschen. In New York arbeitet er noch immer als Psychiater. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center hat er sich freiwillig gemeldet für den Dienst im Familienzentrum am Pier 94. Er behandelte Kinder, die ihre Eltern verloren hatten. „Danach habe ich schlecht geschlafen, weil mich die Angst ausmeiner eigenen Jugend überkam.“

Noch ein paar Tage, dann geht es zurück zur Familie nach Amerika. Henry Kandler hat sieben Enkel. Einer von ihnen ist jüdisch, drei sind katholisch und drei muslimisch. Sie verstehen sich prächtig und feiern die Feste, wie sie fallen. Das macht den Großvater glücklich.

Es ist spät geworden. „Ich bin ein Entkommener“, sagt Henry Kandler und spielt auf dem Tisch in Sillenbuch mit seiner Brille. Draußen vor dem Fenster trägt die Stadt das Sauwetter wie ein Kleid. Drinnen zeichnet ein alter Mann seine Linie. „Don’t forget“, sagt er leise. Vergesst nicht.


Wie die Geschichte im Original auf einer ganzen Seite in der Zeitung abgedruckt und mit Bildern und Überschriften ge-layoutet war, können Sie hier als pdf-Datei anschauen: Vermächtnis eines Vaters.