Weihnachten ohne Angst - die zweite Reportage

Asyl. Sie sind mittendrin und doch außen vor: Deutschland tut sich schwer mit Menschen wie den Luongs aus Vietnam und den Buzolis aus dem Kosovo. Beiden Familien drohte die Abschiebung. Der Stuttgarter Regierungspräsident hat das verhindert.
Von Michael Ohnewald, Stuttgarter Zeitung 24. Dezember 2009


Die Geschichte von damals, sie wühlt ihn noch immer auf. In sein Gedächtnis hat sie sich geschnitten, tiefer als tief. Manchmal kommt sie zurück und umklammert ihn für einige Minuten. Dann kann es sein, dass Muharem Buzoli, der ein stolzer Mann ist, weint wie ein Kind.

Eine unselige Geschichte ist das. Keine, die man vor sich herträgt wie eine Monstranz bei der Fronleichnamsprozession. Muharem Buzoli, Jahrgang 1966, ist geboren in Priluzje, einem Dorf im Kosovo, umgeben von Albanern und Serben, ehemaligen Feinden, geeint im Hass gegen die Minderheit der Roma. Die Buzolis sind Roma.

Eine Tätowierung hat der Vater am Unterarm. Sie zeugt von seinem Wehrdienst in der jugoslawischen Armee. Vor den Schikanen der Nachbarn hat sie ihn nicht bewahrt. Mitte der achtziger Jahre ist Buzoli nach Deutschland aufgebrochen, um dort zu arbeiten und Asyl zu beantragen. Die Eltern und Geschwister reisten nach. 1989 wurden sie wieder zurückgeschickt. Muharem Buzoli musste als Erster gehen, und als er mit dem Zug in Priluzje ankam, haben ihn serbische Polizisten zusammen-geschlagen und „den Verräter“ tagelang misshandelt. Das änderte sich, als auch der Rest der Familie aus Deutschland zurück war. Dann nahmen sich die Peiniger seinen Vater vor. Er starb an den Folgen ihrer Schläge.

Als eines nachts das Haus der Familie angesteckt wurde und völlig niederbrannte, haben die Buzolis einen zweiten Anlauf genommen und als Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland um Asyl gebeten. Lange her ist das. Fast 18 Jahre. Seitdem gelten sie als befristet geduldete Migranten. Muharem Buzoli hat in dieser Zeit immer wieder versucht, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Er fand Arbeit, ohne Hilfe vom Amt. Das ist nicht leicht. „Erst kommen die Deutschen, dann die Ausländer, danach anerkannte Asylbewerber und zum Schluss Geduldete wie ich.“ Er kam trotzdem unter. Seit 2006 hat er einen unbefristeten Arbeitsplatz bei Mc Donald’s. Wenn sie sparen, reicht es.

Drei der vier Kinder sind hier geboren. Sie haben nicht viel und sind mit wenig zufrieden. Nur richtige Ausweispapiere, die hätten sie gerne. Nicht bloß diesen Wisch, auf dem steht: „Duldung erlischt, sobald der Ausländer mit dem Beginn der Zwangsmaßnahme über die Abschiebung in Kenntnis gesetzt wurde.
“Die Buzolis leben in Waldenburg unweit von Schwäbisch Hall. In einem heruntergekommenen Bahnhofsgebäude bewohnen sie den obersten Stock. Es ist zugig dort, und das Öl für den Ofen muss in Kannen vom Keller hochgetragen werden. Die Wohnung strahlt trotzdem Wärme aus, auch wenn sie oft mit Angst geheizt ist. Tochter Dzejlan, 1992 geboren, sagt: „Ich schlafe mit Angst ein und ich wache mit Angst auf.“ Sie fürchtet, dass die Polizei sie nachts abholt und in den Kosovo schickt, in ein Land, das sie nicht kennt, in dem sie keine Verwandten hat, in dem die Hälfte der Bevölkerung arbeitslos ist. Für Roma wie sie liegt die Quote bei fast 100 Prozent.

Das mit der Angst kennt auch Giang aus Stuttgart. Sie ist 15 und geht aufs Wirtemberg-Gymnasium. Sie führt ein Leben auf dem Sprung. Giang Luong, hier geboren und aufgewachsen, hat es trotz widriger Umstände in Deutschland weit gebracht.

Vater Dung und Mutter Huong stammen aus Vietnam. Sie hoffen seit langem, der Abschiebung zu entgehen. Ihr Fall war vor dem Petitionsausschuss des Landtags und vor der Härtefallkommission. Hoffnungslos. Dung Luong, seit zehn Jahren fest angestellt, war in seinem früheren Leben in der DDR und ist nach der Wende straffällig geworden. Da kennt das Gesetz kein Pardon.

In einer finsteren Septembernacht klingelte die Polizei voriges Jahr an der Türe. Zwei Stunden bekamen Giang und ihre kleine Schwester Mai Linh, um das Nötigste zu packen. Die Familie wurde nach Berlin gekarrt und auf dem Flughafen in eine Abschiebezelle gebracht. Mai Linh, 2002 geboren, war krank. Sie hatte sich auf der Fahrt übergeben. Magen-Darm-Infekt. Nach drei Stunden in der Zelle kam ein Arzt der Fluggesellschaft zum Gesundheitscheck. Er erklärte das fiebrige Kind für nicht reisefähig. Anschließend wurden die Luongs von Berlin im Zug nach Stuttgart zurückgeschickt.

So etwas hinterlässt Spuren. Giang leidet seitdem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und wird von einer Psychologin betreut. Nach ihrer Berlin-Reise schlief sie oft bei einer Freundin, weil sie sich dort sicherer fühlte. Manchmal fragte sich Giang, warum sie lernen soll, wenn sie sowieso bald wieder in die Fremde muss.

Ohne Papiere kann es kein neues Leben geben, wegen der Schatten des alten. Das ist bei den Luongs in Stuttgart nicht anders als bei den Buzolis in Waldenburg. Dzejlan, die Tochter, macht in ihrer gefühlten Heimat Deutschland gerade eine Lehre als Friseurin. Sie hat einen Betrieb gefunden, was ein kleines Wunder ist, wenn man bedenkt, dass die Chefin heute nicht weiß, ob ihr geduldeter Lehrling morgen abgeschoben wird. Dzejlan arbeitet mit ihrem Reststolz gegen die Scham vor den Kolleginnen an. Sie will eine gute Friseurin werden und vielleicht eines Tages Urlaub im Ausland machen wie ihre Kusinen. Bizarres Leben. Die Brüder ihrer Eltern sind alle längst von Einwanderern zu anerkannten Inländern geworden. Sie wohnen in Schweden, Italien, Deutschland. Die Kusinen zeigen bei Familienfesten Fotos vom Schnorcheln in Kroatien und von Bergen in Tirol. Dzejlan, die Papierlose, hat nur Fotos von Waldenburg.

Manchmal kommen Briefe an die Eltern. „Zur Vorbereitung Ihrer Ausreise erhalten Sie eine weitere und letzte Frist“, heißt es darin. „Die Ausreise ist Ihnen ohne weiteres möglich und zumutbar.“ Seit 1999 gilt der Kosovo nicht mehr als Bürgerkriegsregion. Die Roma seien dort jetzt keiner Verfolgung mehr ausgesetzt, heißt es.
Vor vier Jahren lag wieder so ein Brief auf dem Tisch. Dzejlans Vater bekam Panik. „Packt eure Sachen“, sagte er zu Frau und Kindern. „Wir haben keine Chance mehr.“ Zu sechst zwängten sie sich in ihren klapprigen Golf und fuhren mit ihren Habseligkeiten in einem Rutsch nach Schweden zu den Verwandten. Das war kein guter Einfall. Die schwedischen Behörden haben sie nach wenigen Monaten zurückgeschickt, weil ihr Asylverfahren in Deutschland anhängig ist. Muharem Buzoli sagt: „Ich war froh, als wir endlich wieder zu Hause waren.”
Seit sie zurück sind, führen die Buzolis ein Leben voller Schrecksekunden. Es gibt keine Gewissheit, nur dieses „vielleicht“. Mutter Dzulhane ist darüber krank geworden und musste in eine Klinik. Fragen nagen an ihr. Was wird aus der Familie? Wo ist unser Platz? Werden wir an Weihnachten noch hier sein?

Sie werden! Stuttgarts Regierungspräsident Johannes Schmalzl hat bei den Buzolis wie auch bei den Luongs die bereits angeordnete Abschiebung gestoppt. Seine Zustimmung ist bei solchen Verfahren
erforderlich. Leiten ließ sich Schmalzl von Briefen des Kinderschutzbundes, der im vergangenen Jahr nach einem Bericht der Stuttgarter Zeitung über die Odyssee der vietnamesischen Familie Luong protestiert hatte. Seitdem werden Uwe Bodmer und seine Kollegen vom Stuttgarter Ortsverband gehört, wenn es bei Abschiebungen um die Belange minderjähriger Flüchtlinge geht, was auch im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention ist. Dort steht: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Johannes Schmalzl, der Regierungspräsident, ist kein Heiliger. Aber er ist auch keiner, dem wurscht ist, was in Kinderzimmern passiert, vor denen Polizeibeamte warten, die einen solchen Job nicht gern tun. Schmalzl sagt: „Es ist jedes einzelne Kind wert, dass man seinem Fall nachgeht.“

Damit macht er sich unter den Law-and-Order-Politikern keine Freunde. Der Kinderschutzbund hat laut Gesetzgeber in solchen Verfahren keine Stimme. Schmalzl hört sie trotzdem. Sie hat für ihn „eine große Bedeutung bei der Abwägung.“

Seine Behörde ist ein kleines Rad im großen Getriebe, das zu funktionieren hat nach den Einstellungen der gewählten Maschinisten in der Politik. Ausländerrecht ist ein hochpolitisches Recht. Nicht zuletzt im christdemokratischen Lager will man den Eindruck allzu offener Grenzen tunlichst vermeiden. Die Ansprüche sind hoch an den vorbildlichen Flüchtling.

Johannes Schmalzl hat sich gegen den leichteren Weg und für die Luongs und Buzolis entschieden. Vielleicht ist er insgeheim dem Gedanken gefolgt, ob es sich ein Land leisten kann, das in dreißig Jahren zehn Prozent weniger Einwohner haben wird, hier ausgebildete Kinder in eine ihnen fremde Heimat zu schicken. Vielleicht hat er sich die Zahlen angesehen, nach denen vor fünf Jahren 3164 Menschen aus Baden-Württemberg abgeschoben wurden, 2008 aber „nur“ noch 1201, weil es immer weniger Flüchtlinge bis Deutschland schaffen. Sie werden bereits auf Inseln wie Lampedusa abgefangen. Vielleicht hat er sich als Jurist jenseits aller Vorgaben gefragt: „Ist das, was ich mache, billig und gerecht?“

Er allein kann es nicht richten. Im Bundesjustizministerium liegt eine Initiative des Kinderschutzbundes, welche darauf abzielt, die Rechte minderjähriger Einwanderer zu stärken, wenn sie von Abschiebung bedroht sind. Johannes Schmalz wird die Sache genau verfolgen, auch wenn er selbst bald nicht mehr zuständig ist. Vom nächsten Jahr an werden alle Abschiebungsfälle des Landes zentral beim Regierungspräsidium in Karlsruhe bearbeitet. Dort fallen die Würfel, auch für die Familien Luong und Buzoli.

Dzejlan hat jetzt wieder ein bisschen Hoffnung, und Giang hat sogar einen echten „Ausweisersatz“. Er gilt bis 14. April 2010 und wird danach wahrscheinlich verlängert. „Es ist ein besonderes Fest“, sagt sie. „Das Leben fühlt sich besser an.“

Dzejlan hat mit ihrer Mutter in der Stube eine kleine Plastiktanne geschmückt. Eigentlich sind sie Moslems. „Das hier ist unsere Kultur“, sagt Dzejlan. „Und dazu gehört an Weihnachten ein Christbaum.“



Wie die Geschichte im Original auf einer ganzen Seite in der Zeitung abgedruckt und mit Bildern und Überschriften ge-layoutet war, können Sie hier als pdf-Datei anschauen.