Die Verantwortlichkeiten im Fall "Kevin"

Der 389seitige „Bericht des Untersuchungsausschusses zu Aufklärung von mutmaßlichen Vernachlässigungen der Amtsvormundschaft und Kindswohlsicherung durch das Amt für Soziale Dienste“ hat ergeben, dass der Tod von Kevin hätte verhindert werden können.  Kevins Tod wurde durch das Fehlverhalten mehrerer Verantwortlicher nicht verhindert. Gleichwohl hätten diese die Möglichkeit dazu gehabt. Zu den Verantwortlichen gehören:


  • der Sachbearbeiter
  • der Amtsvormund
  • der Leiter des Referats „Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfen, Familienrechtshilfen, SGB IX, Abteilung Junge Menschen und Familie“
  • der drogensubstituierende Arzt
  • und die Mitarbeiter der Prof. Hess Kinderklinik.


Alle diese Personen haben sich darauf verlassen, dass der – hier an erster Stelle genannte -Sachbearbeiter handelt. Er war mit dem Fall bzw. mit der Betreuung von Kevin – eigentlich – am intensivsten betraut. Er hat jedoch viele Fehler gemacht. Insbesondere bei der Einschätzung des Risikos, das für Kevin bestand. Außerdem wurde er von seinen Vorgesetzten nicht ausreichend kontrolliert - sonst hätte man bemerkt, dass ihm grobe Fehler unterlaufen waren. Hinzu kommt, dass aus den Unterlagen des Sachbearbeiters keine ersichtliche Fallsteuerung hervorgeht, die dringend notwendig für eine Einschätzung jeden Falles ist.

Der Sachbearbeiter wiederum hat sich auf die Aussagen des drogensubstituierenden, d.h. methadonvergebenden Arztes verlassen, obwohl dieser nur die Eltern von Kevin kannte, nicht aber Kevin, und ihm der Beigebrauch von Drogen bei beiden Eltern bekannt gewesen sein musste. Auch wegen der positiven Einschatzung des drogensubstituierenden Arztes unternahm der Sachbearbeiter trotz der zu erkennenden Gefahr für Kevin keine Maßnahmen zur Sicherung des Kindswohls. Erschwerend kommt hinzu, dass der Sachbearbeiter Informationen gar nicht oder falsch an Personen weitergab, die mit dem Fall betraut waren.

Dem Amtsleiter gegenüber schilderte der Sachbearbeiter die Situation von Kevin falsch bzw. beschönigend. Dieser wiederum beauftragte - zusätzlich - die Stadtteilhalterin „Junge Menschen“ (Vorgesetzte des ambulanten Sozialdienstes) und den Leiter des örtlichen Sozialzentrums Gröpelingen/Walle (Vorgesetzter des „Sachbearbeiters“). Keiner hatte jedoch die Akte gelesen und alle haben sich auf die Aussagen des Sachbearbeiters verlassen. Sie sind alle ihrer Pflicht nicht nachgekommen: ein Fall soll nämlich durch mehrere Personen beurteilt werden. Wenn sich aber jene, die den Fall beurteilen sollen, auf die Aussage von Dritten verlassen, ist eine objektive Beurteilung nicht wirklich möglich.

Der Leiter des Referats „Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfen, Familienrechts-hilfen - SGB IX - Abteilung Junge Menschen und Familie“ hat nach einer Anfrage des Amtsleiter Stellung zu dem Fall Kevin genommen, da er selbst die Weisung ausgegeben hatte, dass die Behörden auf Kinder von Eltern, die Drogen substituieren, ein besonderes Augenmerk richten müssen. Er kannte die Akten von Kevin, und war deshalb mit den Maßnahmen, die der Sachbearbeiter ergreifen wollte, nicht einverstanden. Zu dieser Einschätzung kam er nach der Teilnahme an einer Fallkonferenz. Er hätte eingreifen müssen, überlies die Verantwortung jedoch dem Sachbearbeiter und dem Amtsvormund. Der verließ sich darauf, dass eine Tagespflege für Kevin ausreichend sei. Dort war Kevin aber nie aufgetaucht.

Der Amtsleiter hatte sich zu sehr auf die Aussagen des Sachbearbeiters verlassen und sich zu sehr in die Situation des Ziehvaters (Bernd Kk) hineinversetzt und dabei das Wohl seines Mündels vernachlässigt. Auch den drogensubstituierenden Arzt trifft eine Teilschuld. Wahrscheinlich hat er den Beigebrauch der Eltern bemerkt und sich trotzdem dafür eingesetzt, dass Kevin bei den Eltern bleibt. Da der Sachbearbeiter ihn des Öfteren um Hilfe bat, kann ihm nicht verborgen geblieben sein, dass der Sachbearbeiter viel Wert auf seine Einschätzung legte. Er hätte deshalb anders handeln müssen. Der Sachbearbeiter hat neben den skizzierten Fehlern auch festgelegte Richtlinien missachtet. Es gibt spezielle Leitlinien für Personen, die sich in einer Drogensubstitution befinden. Es müssen zwischen diesen Personen und dem Sachbearbeiter klare Absprachen stattfinden, die auch kontrolliert werden. Diese gab es im Fall Kevin nicht.

Zu erkennen ist, dass der Sachbearbeiter nicht genügend kontrolliert wurde und es keine wirkliche Absprache zwischen ihm und anderen Kollegen gegeben hatte, weil sich alle auf die Aussagen des Sachbearbeiters verlassen haben. Auch die anderen genannten Personen sind ihren Pflichten nicht genügend nachgekommen. Auch haben sich alle darauf verlassen, dass der Sachbearbeiter ausreichende Maßnahmen unternehmen würde. Teilweise sind sie auch untätig geblieben, weil der Sachbearbeiter unvollständige oder fasche Angaben gemacht hat und so den Eindruck vermittelte, das kein weiteres Eingreifen nötig sei. Letztlich hat sich das das Amt für Soziale Dienste als ein organisiertes ‚System’ von Nicht-Verantwortlichkeiten entlarvt. Ergebnis: Niemand hatte Alarm geschlagen und niemand hatte – rechtzeitig – gehandelt.

Mit anderen Worten: es gab keine WHISTLEBLOWER.

Kurz nach Bekanntwerden des Falls trat die Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales zurück, mehrere Mitarbeiter der Zuständigen Stellen wurden versetzt. Ebenso wurde eine Umstrukturierung des Amtes für Soziale Dienste in Gang gesetzt. 

Wer sich genauer mit dem Fall Kevin auseinandersetzen möchte oder noch andere Einzelheiten erfahren möchte, kann dies in dem Bericht des Untersuchungs-ausschusses zu Aufklärung von mutmaßlichen Vernachlässigungen der Amtsvormundschaft und Kindswohlsicherung durch das Amt für Soziale Dienste nachlesen (389 S.).


(RR/VR)