Wie der panorama-Bericht auf die Schnelle entstand

Im Fall Kevin fand keine „klassische“ journalistische Recherche statt - der Junge war bis zu seinem Tod der Öffentlichkeit und auch den Medien völlig unbekannt. Erst als am Dienstag, den 10. Oktober 2006 zwei Tage vor der panorama Sendung - wie üblich an einem Donnerstag – die Nachricht über den zu Tode gekommenen Bremer Jungen bekannt wurde, den man im Kühlfach des Ziehvaters entdeckte, entschied man beim NDR kurzfristig, dass panorama mit diesem Thema auf Sendung gehen muss.

Für panorama war der Fall Kevin der so genannte Gipfel des Eisbergs, da zu dieser Zeit, im Herbst 2006, in den Medien über viele ähnliche Kinderschicksale berichtet wurde. Noch im Laufe des Dienstags hatte sich die panorama - Redaktion von dem Thema wieder verabschiedet, weil es nach Meinung der Kollegen besser zu der NDR Sendung Menschen und Schlagzeile gepasst hatte. Beide Formate,panorama und Menschen und Schlagzeilen gehören zur Abteilung „Innenpolitik“ beim NDR. Es sind die beiden Hauptsendungen.

Zwischen beiden Sendungen gibt es natürlich auch Verzahnungen: Menschen und Schlagzeilen sendet mittwochs abends und da war Kevin natürlich ein Thema. Die politische Reißleine für panorama war aber dadurch gezogen, als die für Kevin politisch letztlich ‚zuständige’ Senatorin in Bremen am Mittwoch früh zurückgetreten war.

Als dann allerdings immer mehr neue Einzelheiten ans Tageslicht kamen, hatten sich Stefan WELS, der Redaktionsleiter von panorama, sowie der Chef der Abteilung „Innenpolitik“, am Donnerstagmorgen doch noch für einen Bericht in der panorama -Sendung entschieden. Es war eine Verkettung von Skandalen, Ungereimtheiten, falschen Handlungen - da schien eine Genese des Falls einfach geboten. Dazu Christoph LÜTGERT, Chefreporter beim NDR und einer der Autoren: „Es muss nicht jedes Stück die total neue Enthüllung haben. Manchmal ist wichtig, dass ein Magazin all das kompress zusammenfügt, was geschehen ist. Um damit dann noch mal die Ungeheuerlichkeit dieses Falles aufzudecken. Es war eine relativ nüchterne Darstellung!“

Man wusste, dass das Jugendamt versagt hatte, man wusste, dass vorher schon mal Alarm geschlagen wurde, von einem Heimleiter zum Beispiel. Als dann alles an Fakten zusammen getragen war, was zunächst bekannt wurde, da kam ein zusätzliches Erschrecken. Meistens ist Christoph LÜTGERT bei panorama - Sendungen gar nicht in Hamburg und oft auch nicht in Deutschland, doch zu diesem Zeitpunkt war er zufälligerweise im Hause und so wurden er und Robert BONGEN beauftragt, den Bericht über Kevin zu erstellen. Die Entscheidung für den Dreh fiel am Donnerstagmorgen auf der üblichen Konferenz. Unmittelbar danach machten sich BONGEN und LÜTGERT auf den Weg nach Bremen. In etwa 10 Stunden wollte panorama auf Sendung sein. In Bremen wurden sie mit offenen Armen von den Radio Bremen Kollegen empfangen.

„Die eigentliche, für mich ganz untypische oder ganz wichtige Leistung hat hier tatsächlich die entscheidende Rolle gespielt: die Zusammenarbeit. Oft stößt man bei anderen Redaktionen auf Ablehnung, aber bei Radio Bremen war gleich alles offen. Sie haben uns Anschlüsse bereitgestellt, ihre Leute zur Verfügung gestellt, ihr ganzes Material uns überlassen. Sie sind auch noch für uns drehen gegangen. Es gab permanente Spontankonferenzen. Und das alles parallel zu deren normalen Tätigkeit!“ so Christoph LÜTGERT über die einzigartige Kollegialität bei Radio Bremen.

Nun muss man wissen, dass es sehr ungewöhnlich ist, wenn man am Tag der Sendung noch ‚rausfährt’, um zu drehen und die Sendung dann auch noch in einer anderen Rundfunkanstalt produziert. Normalerweise wäre man in Hamburg geblieben und hätte sich das Material per Leitung überspielen lassen. Diesmal war es anders: Die Kollegen vor Ort hatten bereits bei den Nachbarn recherchiert, die Pressestelle der Polizei angerufen und auch schon mit Justizstaatsrat Mäurer gesprochen. Der hatte kurz darauf im Auftrag des Bremer Senats als erster einen offiziellen Bericht über den Fall Kevin zusammengestellt. Jetzt wurde das bereits vorhandene Material geschnitten, Radio Bremen stellte dafür Schnittraum und Cutter ab. Der Redakteur von Radio Bremen war ebenfalls beim Schnitt dabei – er sollte später die gesamte Berichterstattung für die ARD zu diesem Fall machen.

Mittwochabend, als Menschen und Schlagzeilen auf Sendung war, gab es noch kein Bild von Kevin. Niemand wusste wie er aussah. Als das Gerücht aufkam, dass die BILD Zeitung ein Foto hätte, riefen die Redakteure bei BILD in Bremen an. „Wir haben eins, aber das können wir ihnen nicht geben“, lautete die Antwort. Die BILD - Redakteure mussten dazu erst in der Zentrale in Hamburg anrufen. Aber auch die wollten ihr exklusives Bild nicht herausrücken.

Erst am Donnerstagmorgen, als das Bild in allen BILD-Zeitungen abgedruckt war, konnten die Redakteure das Foto abfilmen und so in ihrem Filmbeitrag zitieren. Christoph LÜTGERT über den außergewöhnlichen Dreh der Sendung: „Für eine Magazin-Produktion haben wir dieses Stück wirklich in einer extremen Kürze zusammengetragen. panorama - Stücke werden normalerweise in zwei Tagen geschnitten. Wir mussten ersteinmal nach Bremen fahren und das dann innerhalb von drei vier Stunden fertig haben. Der Film war dann auch erst kurz nach 21 Uhr fertig, wir konnten kaum mit der Moderatorin sprechen und sind in die Sendung fast reingeplatzt.“

Für das Regionalmagazin Buten un Binnen wurden von Oktober 2006 bis Ende Januar 2007 über 20 Magazinbeiträge erstellt. Mathias SIEBERT und Rainer KAHRS, Kollegen bei Radio Bremen, haben an allen Tagungen des Untersuchungsausschusses teilgenommen sowie an den Prozesstagen im Gerichtssaal. Außerdem haben sie sich mit Beteiligten aus dem „helfenden“ Sozial-Bereich getroffen, die zuständigen Politiker interviewt. Bis zum Schluss war es ihnen nicht möglich, an den „Sachbearbeiter“, den inzwischen „Angeklagten“, heranzukommen. Am beharrlichsten hat sich die Sozialbehörde quer gestellt und Informationen nur soweit heraus gegeben, wie die Presse und Medien sie ohnehin schon selber recherchiert und veröffentlicht hatten.

 

(RR / VR)