Chronologie des Problems und der Recherchen zum (ständigen) Unterrichtsausfall

Das Thema Unterrichtsausfall beschäftigt die Gesellschaft seit Jahrzehnten. Die Stuttgarter Zeitung setzt mit ihrer Datenerhebung ein Zeichen. Doch sie sind nicht die Ersten, die sich mit dem Thema auseinander setzen. Alles Wissenswerte hier: 

Eine Reise zum Thema Unterrichtsausfall

Letztendlich kam die Inspiration von der Zeit, die hatten zusammen mit Correctiv eine Serie zum Unterrichtsausfall im Ruhrgebiet. Sie haben über Elternbefragungen versucht herauszufinden, wie viel Unterricht ausfällt, weil auch dort Zahlen gefehlt haben. So kamen wir auf die Idee“, sagt der Journalist Jan Georg Plavec. Er ist einer des Gewinnerteams der Stuttgarter Zeitung. Das Team, welches eine Serie sowie eine Datenerhebung über Unterrichtsausfall erarbeitet hat, wurde mit dem zweiten Platz des Wächterpreises ausgezeichnet.

Zum Thema Unterrichtsausfall gibt es zahllose Berichte, aber nur wenige Zeitungen führen eigene Datenerhebungen durch. Dennoch ist die Stuttgarter Zeitung nicht die Erste, die das Thema Unterrichtsausfall aufbereitet hat.  

1. Correctiv & Ruhr Nachrichten 2016/ 17: Für die Stadt Dortmund erhebt Correctiv, gemeinsam mit den Ruhr Nachrichten, eine eigene Stichprobe zum Thema Unterrichtsausfall. Ausgangspunkt der Dokumentation war die Stichprobe des NRW-Schulministeriums im Jahr 2016. Nach vier wöchiger Datensammlung steht fest: der Unterrichtsausfall an den Dortmunder Schulen ist doppelt so hoch wie die vorliegenden Daten des Schulministeriums. Über 41 Prozent der nicht planmäßig stattfindenden Schulstunden fallen ersatzlos aus. Blickend auf die Gymnasien, sind es 54 Prozent. Das Schulministerium hingegen spricht von 20 Prozent.    

 

Die besagte Stichprobe des NRW-Schulministeriums ist hier zu finden:  https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Unterrichtsstatistik/Unterrichtsausfall-2016/Bericht-Unterrichtsausfall.pdf 

 

2. Zeit & Zeit Online 2016/ 17: Im Jahr 2016 führen die Zeit und Zeit Online, unter ihren Lesern, eine bundesweite Erhebung über Unterrichtsausfall durch. Diese wird 2017 aufbereitet und dokumentiert. Auch hier wird festgestellt, dass die tatsächlichen Zahlen von den Aussagen der meisten Kultusminister und Behörden abweichen. Rund fünf Prozent des Unterrichts entfallen. Behörden und Kultusminister sprechen von ein bis zwei Prozent. Auch fällt die soziale Ungerechtigkeit, durch die Erhebung von Zeit und Zeit Online, auf. Eltern aus wohlhabenden Regionen, mit einem Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 5.000 Euro, melden 2,8 Prozent Unterrichtsausfall. Im Kontrast hierzu stehen Eltern aus ärmeren Gegenden. Sie melden 11,8 Prozent entfallenen Unterricht.  

Der Knackpunkt: der Erhebung von Correctiv und den Ruhr Nachrichten sowie der Erhebung von Zeit und Zeit Online fehlt es an konkreten und offiziellen Zahlen. Auch Jan Georg Plavec betont: „Uns wurde von dort klar gemacht, dass der Zugang über die Eltern schwierig ist, weil man kaum ein aussagekräftiges und repräsentatives Ergebnis bekommt.“ 

Genau hier hat die Stuttgarter Zeitung angesetzt. 

Die Erhebung der Stuttgarter Zeitung

Die Stuttgarter Zeitung hat lange um repräsentative und aussagekräftige Daten gekämpft. Letztendlich wurden diese mithilfe von Datenjournalismus aufbereitet und in einer zwölfteiligen Serie veranschaulicht. Kerndaten zum Thema Unterrichtsausfall sind der folgenden Auflistung zu entnehmen.

 

04. Mai 2018

Gymnasien im Stuttgarter Raum dürfen offiziell preisgeben, wieviel Unterricht ausgefallen ist. Die Genehmigung vom 24. April wird als „erfolgreicher Zwischenschritt“ betitelt. Zudem gehen Elternvertreter von einem höheren Wert an Unterrichtsausfall, als den landesweit ermittelten 5,4 Prozent, aus.

 

02. Juli 2018

Jede achte Schulstunde findet nicht wie geplant statt. Insgesamt 7,8 Prozent des Unterrichts fielen an den untersuchten Schulen aus. Dieses Ergebnis zeigt die Erhebung nach den ersten neun Wochen. Laut Kultusministerin Susanne Eisenmann sei das Hauptproblem der Lehrermangel.

  

27. Juli 2018

Erstmalig werden alle Schulen zum Unterrichtsausfall befragt und nicht nur Stichproben genommen. Auffällig: An Gymnasien fällt besonders viel Unterricht aus. In Stuttgart sind es beispielsweise 6,8 Prozent. Die Abwesenheitsquote der Lehrer liegt bei 10,4 Prozent. Mehr als jeder zehnte Lehrer fehlte im Juni aufgrund von Krankheiten, außerschulischen Veranstaltungen, Fortbildungen, Mutterschutz oder Elternzeit. Außerdem fordern Lehrer einen höheren Versorgungsgrad und dass die Krankheitsreserve aufgestockt wird. 

  

30. Oktober 2018

Kultusministerin Susanne Eisenmann fordert mehr Transparenz über ausgefallenen Schulstunden und Eltern bemängeln, dass die Schulbehörde die Datenerhebung blockiert hätte.

  

15. März 2019

Bereits im Herbst hatten die Elternvertreter mit einer Klage gedroht, diese bis dato aber noch zurückgehalten. Die Eltern suchen das Gespräch mit der Kultusministerin, obwohl eine Familie bereit war, den Fall vor Gericht zu bringen. Bei dessen Sohn seien 92 Stunden seit Beginn des Schuljahres ausgefallen. Das Ausmaß des gesamt ausgefallenen Unterrichts, lag laut Rechtsgutachten einer Stuttgarter Anwaltskanzlei, bei über acht Prozent. Das sei ein kritischer Wert, welcher das Erreichen der Unterrichts-und Bildungsziele behindere. Ein Sprecher der SPD unterstützt die Eltern in ihrer Bereitschaft zur Klage und wirft Eisenmann Tatenlosigkeit vor.

 

Die Klage der Eltern lenkt die Aufmerksamkeit noch stärker auf das Thema. Erstmalig wurde die Klage im September 2018 in der Stuttgarter Zeitung erwähnt. Die Arbeitsgemeinschaft der Elternvertreter (Arge) behielt sich damals vor, gegen das Kultusministerium vor Gericht zu ziehen. Doch da Susanne Eisenmann weder auf offene Briefe der Elternvertreter reagierte, noch Einladungen der Schüler entgegennahm, wird die nun Klage eingereicht. „Jetzt wollen wir eben erzwingen, was eigentlich selbstverständlich ist“ und „Frau Eisenmann muss herausgefordert werden, damit sie endlich reagiert“, heißt es Seitens der Elternvertreter.

 

Im November 2019 berichtete auch die Badische Zeitung über die Klage der Eltern. Diese sollte im ersten Halbjahr des Jahres 2020 durchgeführt werden. Susanne Eisenmann stellte außerdem ein Konzept vor, welches die Besoldung der Rektoren von Grundschulen und Leitern von Haupt-, Werkreal-, und Verbundschulen regeln soll.

 

04. November 2019

Susanne Eisenmann verteidigt die festgelegten Konsequenzen aus der Erhebung des Unterrichtsausfalls. Es sei ein Unterstützungsangebot, zur Sicherung der Unterrichtsversorgung. Gerhard Brand (Landeschef des VBE) hingegen fordert Unterstützung anstelle von Druck für die Schulen. Die Ursache des Unterrichtsausfalls habe die Fehlplanung des Landes zu verantworten.

  

13. April 2020

Die zwölfteilige Serie der Stuttgarter Zeitung zum Thema Unterrichtsausfall erhält den Wächterpreis. 

Aber litten die Noten der Schüler in Baden-Württemberg wirklich so massiv unter dem Unterrichtsausfall?

Aus Erhebungen von 2016 und 2018 geht klar hervor, dass Schüler aus Baden-Württemberg, im Vergleich zu anderen Bundesländern, deutlich schlechter abgeschnitten haben, als in den vorherigen Jahren. Der Leistungsvergleich wird als „überraschend schlecht“ betitelt und befeuert somit die Vermutungen über mangelnde Qualität im Bildungswesen Baden-Württembergs.

 

Die Stuttgarter Zeitung nennt die Ergebnisse des Leitungsausgleichs 2018 „enttäuschend“ und bemängelt vor allem die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Mathematik und Deutsch. Das Ministerium jedoch nennt die Leistungsnachweise lediglich „gering tauglich“ um Vergleiche zu ziehen, da die Aufgaben sich von Jahr zu Jahr ändern und auch in der Schwierigkeit nicht konstant seien. Kultusministerin Eisenmann möchte das ändern und will die Vergleichsarbeiten mit bundesweiten Lernstandserhebungen verbinden.

Die Historie des Unterrichtsausfalls

Das Unterrichtsausfall kein Problem ist, welches erst seit gestern existiert, ist bekannt. Schon vor 50 Jahren sagt der Politiker Oskar Marczy (FDP): „Einmal heißt es, es gibt keine Stellen, ein andermal, es gibt keine Lehrer. Dieses Spiel muss endlich aufhören.“ Anhand der folgenden historischen Veranschaulichung, wird die Tragweite des Themas bewusst. Diese basiert auf dem Archiv der Stuttgarter Zeitung, welches ab den späten 1940er Jahren die Diskussion rund um das Thema Unterrichtsausfall dokumentiert hat.  

 

2019: Eine Prognose der Kultusministerkonferenz zeigt, dass vor allem die Verteilung der Lehrer problematisch ist.  

2018: Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) sagt im September, sie könne gar nicht alle Stellen besetzen wegen Lehrermangels. 

2016: Der Philologenverband appelliert an die Länder, Unterrichtsausfall nicht absichtlich, aufgrund von Lehrermangel, in ihren Statistiken zu verschleiern. 

1989: Bilder von demonstrierenden arbeitslosen Lehrern finden sich in den Zeitungen sowie Meldungen wie: „Im Kreis Böblingen fällt keine Stunde Pflichtunterricht aus“.

1982: Die Lehrergewerkschaft GEW setzt sich gegen die Streichung, anstelle der Schaffung, von Lehrerstellen ein.  

1980: Der Landeselternbeirat fordert eine Lehrerversorgung von mehr als 100 Prozent.  

1976: Die Stuttgarter Zeitung kommentiert: „So gröbliche Verletzungen der Unterrichtspflicht können Eltern und Politiker nicht mehr hinnehmen“ 

1973:  Circa fünf Prozent der Mathestunden würden vornherein wegen Lehrermangels gestrichen, räumt das Kultusministerium ein. 

1971: Man spricht von einer Katastrophe. Eltern und Schüler suchen per Plakat oder Zeitungsanzeigen selbst nach Lehrkräften. Der Philologenverband berichtet, dass an den Gymnasien im ganzen Land 8000 Stunden ausfallen und das in einer Woche. 

1968: Hans Filbinger (ehemaliger Ministerpräsident) nimmt das Thema in die Hand. Mit der steigenden Anzahl von Lehrerinnen, kämen, aufgrund von Schwangerschaften, „erhebliche Unsicherheiten in der Personalplanung“ auf. Auch Eltern schalten sich erstmals mit ein.  

1967: Der Lehrermangel ist offenkundig“ und „Tausende Schulstunden fallen aus“ titelt die Stuttgarter Zeitung. Erste Beschwerden über ausfallenden Unterricht kommen schon bald danach auf. 

1956: Ein Bericht beklagt den „lästigen Schichtunterricht“. Kinder werden mittags, dann morgens oder nachmittags unterrichtet. Im Fokus steht Unterricht überhaupt stattfinden zu lassen und die Klassen zu verkleinern.  

1835: Schon in diesem Jahr gab es Unterrichtsausfall, was diese anonyme Beschwerde an das Königlich-Preußische Konsistorium in Köln belegt. 

Zurück ins "Hier und Jetzt" in Baden-Württemberg

Wie sieht es mit der Zukunft von Baden-Württemberg aus? Welche Handlungskonzepte zur Überprüfung und Minimierung von Unterrichtsausfall wurden ausgearbeitet?

Die Schulaufsicht wurde aufgefordert, mit den Schulleitern Gespräche über die Ursachen und Auswirkungen des Unterrichtsausfalls zu führen. Um drohende Ausfälle zu kompensieren, soll gemeinsam nach geeigneten Maßnahmen gesucht werden. Die Lehrerversorgung spielt hierbei eine große Rolle. Es sollen mehr Vertretungslehrer und Lehrer eingestellt werden. Zudem sind regelmäßige Vollerhebungen über den ausgefallen Unterricht ein wichtiger Aspekt.

(hochschule macromedia köln)