Datenrecherche zum Thema Unterrichtsausfall

2018 veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung eine Serie zum Unterrichtsausfall in Baden-Württemberg. Detaillierte Zahlen von Seiten der Behörden fehlten, weshalb die Redaktion selbst aktiv wurde. Stellvertretend für das Team erzählt Jan-Georg Plavec über die Recherchearbeit, Schwierigkeiten und behördliche Missstände, die aufgedeckt wurden. 

Von Zahlen, die es nicht gibt, und der Kunst, sie zu beschaffen

Für Jan-Georg Plavec ist es eine kleine Ironie: „Eltern wollen natürlich, dass möglichst wenig Unterricht ausfällt, die Beschulten wollen vielleicht das Gegenteil davon.“ Trotz der vielen individuellen Sichtweisen auf das Thema Unterrichtsausfall steht eins fest: Es ist ein jahrzehntelang anhaltendes Problem ohne Aussicht auf eine Lösung.

Inspiriert wurde das Projekt von einer Zusammenarbeit von Zeit und correctiv (2016/17) zum Unterrichtsausfall im Ruhrgebiet. Gleichzeitig problematisierte die baden-württembergische Elternvertretung das Thema. Daraufhin veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung 2018 eine zwölfteilige Serie.  „Zu diesem Thema gab es einfach keine detaillierten Zahlen, das war aus unserer Sicht wirklich ein Missstand, dem wir versucht haben zu begegnen“, sagt Plavec. Im Zuge dessen wurde eine eigenständige Datenerhebung durchgeführt, die das Kernstück der Serie ist. Das macht die Arbeit zu einem datenjournalistischen Projekt, das einem Mammutprojekt gleichkommt. Auch signifikant ist die geleistete Publikumsarbeit. Die Redaktion ist mit ihrem preiswürdigen Projekt der wichtigen journalistischen Wächter-Funktion nachgegangen: Ein unbeachtetes behördliches Versäumnis wurde ans Tageslicht gebracht. Die Jury des Wächterpreises zeichnete die Stuttgarter Zeitung dafür mit dem zweiten Preis aus.

Nicht nur die Wächterpreisverleihung ist stark beeinträchtigt von Corona, sondern auch die Preisträger und ihre Freude über den Preis“ erzählt Jan-Georg Plavec im virtuellen Interview. Er erfuhr von der Preisträgerschaft erst nachdem ihn eine Kollegin per Telefon informiert hatte. „In dem Moment habe ich mich natürlich extrem gefreut.“ Der Journalist der Stuttgarter Zeitung befindet sich zwangsweise im Home-Office und feiert die Auszeichnung deshalb von dort aus.

Nach seinem Studium der Kommunikations- und Politikwissenschaften in Hohenheim war es für Plavec noch unklar, ob er sich der Politik oder dem Journalismus widmet. Nach Praktika im Landtag, der taz in Berlin und dem EU-Parlament entschied er sich für den Beruf, der seinem Team und ihm heute eine der wichtigsten Auszeichnungen für kritische und investigative Berichterstattung eingefahren hat. „Im Journalismus liegt die Greifbarkeit der eigenen Arbeit näher“, begründet er seine damalige Entscheidung.

Heute hat der leidenschaftliche Journalist eine klare Vorstellung von seiner beruflichen Verantwortung und Rolle. Er wünscht sich, seine Arbeit könne an dem Anspruch gemessen werden, dass sie die öffentliche Debatte verbessert. „Sich selbst zu befähigen, sich ein Urteil zu bilden und teilweise Themen aufzugreifen und zu setzen, ohne dass jemand das einem einflüstert“ ist für ihn ein wichtiger Punkt des autonomen Journalismus. Mit diesem Antrieb hat er schon verschiedene erfolgreiche Projekte umgesetzt, wie zum Beispiel das „Feinstaubradar“. Sein Spezialgebiet: Der Datenjournalismus. Darunter versteht man eine Form des Journalismus, die Daten zum zentralen Gegenstand der Berichterstattung macht. Neben der Recherche in Datenbanken umfasst es auch die Analyse, Validierung, Visualisierung und Publikation von Daten (Mantel, 2018).

Für Plavec ist es ein vielversprechendes Teilgebiet des Journalismus. Nicht nur, weil Daten immer wichtiger werden, sondern auch weil er Journalismus autark macht. Man sei nicht mehr nur Überbringer von Informationen, sondern werde zum Akteur. Denn, so warnt der Journalist, man solle seine Rolle nicht überschätzen, sich nicht handlungsmächtiger fühlen als man es sei: „Ich sehe meine Rolle so, dass man im Idealfall eine Grundlage zur Debatte bietet, Daten erhebt und aufbereitet, die sonst nicht da wären; dass man letztendlich zu einer reflektierten politischen Diskussion kommt, die sonst nicht da wäre.“

Der Datenerhebungsteil war mit knapp drei Monaten der aufwendigste Part der Serie. Doch Aufgeben kam für das Team, zusammengesetzt aus Daten- und Lokalressort, sowie Landespolitik, zu keinem Zeitpunkt in Frage. Die Stuttgarter Gymnasien lehnten ihre Beteiligung an der Erhebung ab mit der Begründung, es sei zu aufwendig. Daten des Ministeriums zufolge, sei der Unterrichtsausfall an den Gymnasien am höchsten. Die Erhebung des Stuttgarter Zeitung ergab jedoch, dass selbst an Gemeinschaftsschulen bereits ca. 12 Prozent der Stunden nicht regulär stattfinden. Am wenigstens Unterricht falle an Sonderschulen aus.

Die Chefs waren sofort überzeugt - die Kolleginnen, die sich seit Jahren mit dem Thema Bildungs- und Schulpolitik auseinandersetzen,  anfangs eher zurückhaltend." Für sie war das Thema Unterrichtsausfall ein alter Schuh, weshalb sie die plötzliche Relevanz einer ganzen Serie zu dem Thema zunächst nicht nachvollziehen konnten. Zusätzlich schwang die Angst mit, sie könnten ihre wichtigen Quellen in den Kreisen der Schulbehörden für zukünftige Berichte verlieren. Denn keine Behörde fühlt sich gerne durch das Informationsfreiheitsgesetz zur Auskunft gezwungen. „Dann können wir es vergessen, dann versiegen unsere Quellen für alle anderen Berichte“, so der O-Ton der Redakteur*innen.  „Wenn man in so eine Subkultur von Journalistenexperten und deren Hauptansprechpartnern reinkommt, dann weckt man gewisse Ängste“, so Plavec.

Als größte Herausforderung erwies sich jedoch die Zusammenarbeit mit den Schulbehörden. Plavec erinnert sich: „Das Kultusministerium ist, was die Pressearbeit angeht, leider ziemlich negativ aufgefallen.“ Es gebe keine genauen Daten zum Unterrichtsausfall in Baden-Württemberg und wenn, erlaube der Datenschutz keine Weitergabe, behaupteten die Behörden. Doch eine Elterninitiative, die mit einer Klage gegen das Problem vorgehen, konnte das Gegenteil beweisen. Die Einstellung der Behörden machte Plavec sauer: Bei 18 Gymnasien in Stuttgart habe es nichts mit Datenschutz zu tun, wenn die Behörden herausgeben würden, wie viel Prozent Unterricht an diesen Gymnasien ausfällt. Aus welchem Grund die Behörden solche Zahlen nicht öffentlich machen, kann Plavec nicht sagen. „Ich weiß nicht, warum die solche Zahlen nicht öffentlich machen. Ich finde es eher andersrum interessant, dass diese Zahlen von der Öffentlichkeit nicht früher eingefordert wurden. Sei es von Journalisten, als auch von Eltern.

Dass das Thema in naher Zukunft vergessen wird, bezweifelt der Redakteur. Denn bereits in der Zeit nach der Veröffentlichung der Serie gab es einige Folgeberichterstattungen, wie beispielsweise von Welt.de, dem Südwestrundfunk und der Stuttgarter Zeitung selbst. Über die von der Elterninitiative eingereichte Klage auf Chancengleichheit wurde noch nicht entschieden. Auch durch Corona bedingt, stehen die Prozesse noch aus. Dennoch ist das Thema präsent geblieben. Das Kultusministerium habe die Datenherausgabe seit der Veröffentlichung der Serie deutlich verbessert.

Plavec selbst sähe es als sachlich beste Lösung für das altbekannte Problem, einen großen Springerpool von Vertretungslehrer/innen anzulegen, die flexibel eingesetzt werden können. Dazu müssten jedoch deutlich mehr Lehrer verfügbar sein, als man eigentlich brauche. Es sei ein schwieriges Thema und er hierfür kein Experte.  Er behält das Geschehen lieber als Journalist im Auge und erfüllt damit seinen eigenen Auftrag: Wächter sein.  

(hochschule macromedia köln)