Zivilgesellschaftliches Fallbeispiel: Wer hat Vorfahrt in Russland? Bonzen oder Menschen?

Wenn Menschen in gesundheitliche Not geraten, z.B. wenn sie eine Herzattacke erleiden oder beim Renovieren aus dem Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock auf die Strasse fallen, dann geht es nicht nur um Minuten, sondern oft auch um Sekunden, wenn ein Rettungswagen das gefährdete Leben in das nächste Krankenhaus bringen will: Vor allem schnell muss es gehen.
Um auch diesen 'Service' schnell aktivieren zu können, dafür hat sich weltweit - bzw. weitestgehend - die Telefonnummer 112 durchgesetzt. Wie das gelang, haben wir unter "112" - Die Geschichte einer Hotline beschrieben. Es war eine private Initiative, keine staatliche Maßnahme.

In Deutschland haben solche Rettungswagen absolute Vorfahrt. Egal, wer sonst auf der Strasse fährt: Minister oder 'normaler' Erdenbürger. Autofahrer sind gehalten, Rettungswagen Vorfahrt zu geben - egal, wer im Rettungswagen liegt: Politiker oder Zivilist.

In Russland ist dies vielfach anders. Nicht immer haben solche Autos Vorfahrt. Ist die Strasse für einen hochrangigen Politiker gesperrt, der hier demnächst vorbeizurauschen gedenkt, dann muss ein Rettungswagen bzw. ein 'normales' Menschenleben warten: Solange bis der "VIP" vorbeigefahren ist.

Dies hat schon mehreren Menschen das Leben gekostet.

Jetzt regen sich die ersten Menschen darüber nicht nur auf, sondern regen erste Aktivitäten dazu an: z.B. solche Situationen aufzuzeichnen und dies bekannt zu machen, beispielsweise im Internet.


Das Video vom 25. Oktober 2011

Eines der letzten Beispiele, das über die sozialen Netzwerke des Internet bekannt geworden ist, datiert vom 25. Oktober 2011. In die öffentliche Wahrnehmung der sozialen Netzwerke, insbesondere via YouTube, geriet der Vorfall aber erst Anfang Mai 2012 - im Zusammenhang mit den vorbereitenden Diskussionen in der Staats-DUMA, die darauf abzielten, das Gesetz zur Versammlungsfreiheit drastisch einzuschränken.

Und dies ist die Geschichte dieses Videos auf YouTube. Zunächst finden Sie das Video im Original. Danach erklären wir, was dort zu sehen ist und was gesprochen wird, bevor wir die "Karriere" dieses Themas kurz rekonstruieren.

Das Video ist knapp 5 Minuten lang und wurde aufgenommen am 25. Oktober 2011 von Nikita NAUMOV, einem Medizinstudenten, der gleichzeitig auch als Arzt arbeitet. Er wurde zufällig Zeuge dieses Vorgangs und stand mit seinem PKW direkt neben dem Rettungswagen. Beide mussten warten ...

Und dies sind die Wortwechsel im Video: links die Zeitleiste, rechts die einzelnen Szenen bzw. die relevanten Dialoge:

0:40

Der Rettungswagenführer, der einen schwerverletzten Menschen ins Krankenhaus bringen will, hupt die Polizisten an, die die Kreuzung gesperrt haben. Die Polizisten reagieren nicht

1:50

Die Polizisten heben ihre Polizeistöcke - die 'Bonzen'-Kolonne naht. Die Sirene des Rettungswagen heult immer noch - der Wagen muss warten

2:35

Der Rettungswagenführer schreit den Polizisten an: "Sind Sie verrückt? In unserem Auto stirbt ein Mensch! Lassen Sie uns ganz schnell durch!"
Die Polizisten reagieren nicht. Sie warten auf die 'Bonzen'-Kolonne, die kurz darauf die Kreuzung passiert

2:53

Jetzt erst kann der Rettungswagen weiterfahren.
Und auch für Nikita NAUMOV geht es weiter. Der aber fährt seinen Wagen an die Seite, will die Polizisten zur Rede stellen:

3:55

Guten Tag. Darf ich Ihre Ausweise sehen, bitte?

Weswegen?

Ich bin russischer Staatsangehöriger. Zeigen Sie bitte Ihre Ausweise vor!

Inspektor der Verkehrswacht (undeutlich), Spezialeinheit der Verkehrswacht im Wsewolzhskij Gebiet.

Gut, Sie haben die Personenkennnummer 471940. Welche Nummer haben Sie? Aha: 471932.

Warum interessieren Sie sich dafür?

Wegen der Verordnung (Befehl) mit der Nummer 185! In dem Rettungswagen liegt ein Verletzter und Sie lassen den nicht durch!?

Das Ehrengeleit! Das Ehrengeleit fuhr auf dem Gegenspur!

Was ist wichtiger? Das Ehrengeleit oder ein Menschenleben? Ich arbeite als Arzt.

Welcher Verletzte?

'Welcher Verletzte?!' Gerade fuhr hier ein Rettungswagen, ich habe alles aufgezeichnet, ich habe alles mit meinem Handy aufgenommen!

Der Rettungswagen fuhr doch nur zu seiner Ausgangsstation zurück.

Sie fuhren mit der Sirene und dem Blaulicht, auf dem Gegenstreifen, und in ihrem Wagen liegt ein Schwerverletzter, wie der Arzt im Rettungswagen gesagt hat. Haben sie das nicht gehört?

Niemand hat uns etwas gesagt!

Gut, ich gehe morgen zur Staatsanwaltschaft.

4:41

NAUMOW will wieder gehen, wendet sich abermals an die beiden Polizisten:
Warum steht Ihr Auto auf der Fußgängerweg?! Kennt Ihr nicht die Vorschrift Nummer 166 oder wie?
Fahren Sie weiter!

4:53

NAUMOV spricht in sein Handy, mit dem er diesen Vorfall aufgezeichnet hat:
Also die Ausweise haben sie nicht gezeigt und das Auto steht auf dem Fußgängerweg.

Nikita NAUMOV macht ernst. Er geht noch am selben Tag zur Staatsanwaltschaft Wsewolozhsk, um Anzeige zu erstatten. Der Versuch geht ins Leere - man nimmt die Anzeige nicht entgegen. NAUMOV probiert es einige Zeit später ein zweites Mal. Wieder nichts: Der Pförtner lässt ihn nicht passieren, sagt, dass er hier nichts zu suchen habe.

NAUMOV, der studiert und gleichzeitig arbeitet, hat ersteinmal keine Zeit, das Video ins Netz zu stellen. Außerdem kennt er sich nicht damit aus. Doch seine Freunde sagen ihm, dass man so etwas nicht einfach hinnehmen dürfe. Also muss das Video auf YouTube hochgeladen werden!


Die Themenkarriere des Videos: erst auf YouTube, dann mittels einer Nachrichtenagentur in vielen Tageszeitungen

Das Uploaden macht jetzt ein Kommillitone - am 5. Juni, kurz vor 15 Uhr. Jetzt ist der Vorfall im Prinzip öffentlich.

Die staatliche Nachrichtenagentur Rosblat mit Sitz in St. Petersburg und Moskau hat offenbar ein Auge auf das, was auf YouTube hochgeladen wird. Es dauert keine Stunde, bis die Agentur aus dem Video um 15:48 eine Meldung absetzt:

"Augenzeugen: In Wsewolozhsk ließen Verkehrspolizisten einen Krankenwagen nicht durch.
Sankt-Petersburg, den 5. Juni. Ein Video erschien im Internet, in dem folgendes gefilmt wurde: In Wsewolozhsk (Leningradskaja Landkreis) ließen Verkehrspolizisten unter dem Vorwand der Durchreise des Ehrengeleits einen Rettungswagen mit einem Kranken warten.


Auf dem Video kann man sehen, dass die Verkehrspolizisten auf der Kreuzung den Verkehr stoppen und darauf warten, dass mehrere Autos mit dem Blaulicht, von einem Polizeiauto begleitet, vorbeifahren. Der Rettungswagen ist gezwungen zu warten, bis die hochrangigen Abgeordneten durchgefahren sind. Der Rettungsarzt schreit den Polizisten an, dass im Rettungswagen ein Sterbenskranker liegt.

Auf das Verlangen eines anwesenden Autofahrers, dem dies nicht gleichgültig war, verzichteten die Polizisten Fragen zu beantworten. Außerdem weigerten sie sich, ihre Ausweise vorzuzeigen. Auf die Frage, was nach ihrer Meinung wichtiger ist, ein Menschenleben oder ein Ehrengeleit, sagte einer der Polizisten, dass der Krankenwagen nur zu seiner Ausgangssation zurückkehren würde. Dass der Arzt des Krankenwagen den Polizisten anschrie, dass sie einen Kranken im Auto hätten, habe der Polizist nicht gehört.
Die Pressestelle von Sankt-Petersburg und Leningradskaya Gebiet hat versprochen, in der nächsten Zeit die Situation zu kommentieren."


Diese Agenturmeldung wird noch am selben Tag von mehreren anderen Agenturen übernommen und weiter kommuniziert.

Am selben Tag teilt auch die Leiterin der Rettungswache des Zentralen Kreiskrankenhauses von Vsevolozhskaya, Ludmila TURLIUN, auf Nachfrage von Journalisten mit, dass ein Notfallpatient in diesem Rettungswagen Nummer O473ОТ in dem Video in die Reanimation gefahren worden war. Der hatte seine Wohnung renoviert, war auf das Fensterbrett getreten, gestolpert und dann nach unten gestürzt - vier Stockwerke tief. Die Verletzungen waren schwer. Das Rettungsteam tat alles Mögliche, um den Verunglückten noch lebend ins Krankenhaus zu bringen. Vielleicht habe der Mitarbeiter der Staatsinspektion für die Sicherheit des Autoverkehrs (GIBDD) nicht verstanden, dass sich ein Notfallpatient im Wagen befand, der dringend in die Reanimation gebracht werden musste? Im Ergebnis jedenfalls starb der Mann vor der Tür des Krankenhauses.

Am 6.Juni steht der Vorgang in sehr vielen kleineren Tageszeitungen. Blogger greifen das Video auf. Und auch Russlands größte Nachrichtenagentur, die zur staatlichen Medienholding WGTRK gehörende RIA Nowosti, kolportiert den Vorgang, der jetzt sozusagen in aller Munde ist, jedenfalls in der fraglichen Region. Alle schreiben das Gleiche.

Für die Novaja Gaseta, Redaktion St. Petersburg, recherchiert Nina PETLJANOVA. Recherchieren ist das A & O bei der kritischen Zeitung. Die Zeitung veröffentlicht ihre Rechercheergebnisse am 8. Juni 2012 unter der Überschrift Stopp auf Befehl:

  • Als Nina PETLJANOVA bei der Leiterin der Rettungswache des Krankenhauses Vsevolozhskaya, Ludmilla TURLIUN, ein weiteres Mal anruft, reagiert die nicht mehr so freundlich: Der Mann, der gestorben war, sei völlig unabhängig von diesem Vorfall gestorben. Es waren andere Gründe. Wegen der starken öffentlichen Resonanz führe man jetzt aber eine Nachprüfung durch.
  • Igor GALKIN, Abteilungsleiter bei der staatlichen Inspektion für die Sicherheit des Autoverkehrs (GIBDD) des Wsewolzhskij Kreises, erklärt: Von einer Seite fährt ein Ehrengeleit von VIP's, von der anderen ein Rettungswagen. Ich glaube, dass die Ärzte aktiver hätten sein müssen, um von den Polizeiinspektoren gesehen zu werden. Auf jeden Fall wird es eine Untersuchung geben
  • Die beiden Polizisten könne man nicht mehr fragen - sie hätten auf eigenen Wunsch im Dezember gekündigt, behauptet der Leiter des Pressestelle bei der Hauptverwaltung des Innenministeriums in Sankt-Peterburg und Leningradskaya Oblast, Wjatscheslaw STEPTSCHENKO. Trotzdem werde man eine Untersuchung durchführen. Und im übrigen würde sich aus dem Video ja nicht ergeben, dass dies ausgerechnet am 25. Oktober aufgenommen worden sei
  • An diesem Tag jedenfalls war Sergey NARYSCHKIN zu Besuch in Wsewolozhsk, berichtet stolz der Pressestellenleiter des Wsewolozhskij-Kreises.
  • NARYSCHKIN war im Oktober noch Verwaltungschef von Präsident MEDWEDEW und den Kandidat Nummer 1 für PUTIN's Partei „Einiges Russland“ im Leningradskaya Gebiet. Seit Dezember steht er als Präsident der Staats-DUMA vor. Im Zusammenhang mit den Wahlen fuhr NARYSCHKIN oft in seinen Wahlkreis
  • Die Verwaltung des Staats-DUMA hingegen will nicht bestätigen, dass der Rettungswagen durch den Aufenthalt von NARYSCHKIN aufgehalten worden wäre. Das seien alles "unglaubwürdige Informationen", verbreitet durch die "skrupellose Sensationspresse", ist sich Jurij SCHUWALOW sicher, stellvertretender Pressestellenleiter bei der Staats-DUMA und zuständig für "PR und die Zusammenarbeit mit den Medien".


Im Ergebnis löst ein kleines Video ein größeres Medienecho aus. Und vor allem: Diskussionen. In der Zivilgesellschaft. Aber vermutlich auch hinter den Kulissen der Mächtigen.Weitere Beispiele zur Frage "Wer hat Vorfahrt"?Das Video bzw. die Vorkommnisse vom 25. Oktober sind kein Einzelfall. Hier finden sich zwei weitere Fallbeispiele. Das erste 1 1/2 Minuten, das zweite 5 1/2 Minuten lang. Beide sind im Netz zu finden und finden dort auch ihre Verbreitung: 

Dass die Frage, wer hat Vorfahrt, viele Menschen tief bewegt, zeigen nicht nur solche Videos. Auch das deutschsprachige Portal der staatstragenden russischen Tageszeitung Rossijskaja Gazeta, www.russland-heute.de thematisiert das Problem Ende Januar 2012: VIP's haben Vorfahrt. Und das Portal gibt auch gleich einen praktischen Hinweis für Veränderungen: Wenn ein Rettungswagenfahrer die Polizisten darauf hinweist, dass sie verantwortlich seien, wenn der Kranke stirbt, "klappt das hervorragend."Dinge zu verändern, fängt - wenn man es von unten macht - im Kleinen an.

Zum Beispiel auch mit einem smartphone, mit dem man u.a. auch jene Dinge dokumentieren kann, die man verändern möchte ...

(SvetA, PR)