Die Berichte der Stuttgarter Nachrichten, 23.02.2008

von Jürgen BOCK

Blaulicht, enge Lifte und viel Überredungskunst

Während Politik und Öffentlichkeit darüber diskutieren, wie man die Stuttgarter Notfallrettung verbessern kann, sind deren Mitarbeiter unterwegs, um Menschen zu helfen. Mit dem Rettungswagen im Einsatz: eine atemlose Aufgabe zwischen Blaulicht, Stau und privaten Schicksalen. 

Der Tag beginnt stereotyp. Für den Laien steht er glänzend da, der Rettungswagen (RTW) mit der Kennung 1/83-6. In Reih und Glied mit den anderen Einsatzfahrzeugen in der Hauptrettungswache des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in der Neckarstraße wartet er auf den Startschuss. Doch drin runzeln Diana Muscella und Philipp Böhmer die Stirn. Liegt alles an seinem Platz? Sind die Medikamente vollständig, die Sauerstoffflaschen aufgefüllt? Erst, wenn die Rettungsassistentin und der Rettungssanitäter zufrieden sind, geht es los.

Was folgt, hat mit Eintönigkeit nichts mehr zu tun. "Kein Tag sieht aus wie der andere", sagt Diana Muscella. Ein Funkspruch unterbricht die 27-Jährige. Einsatz, aber nicht dringend. Das Martinshorn bleibt aus - zumindest für eine Minute. Plötzlich ein neuer Funkspruch, der Disponent in der Leitstelle hat einen Notruf erhalten. Das Ziel wechselt. Die beiden fahren kurz an den Straßenrand, suchen im Stadtplan die schnellste Route. Der 20-jährige Philipp Böhmer tritt aufs Gas und rast los. Durch Stadtbahnhaltestellen und an ausweichenden Autos vorbei geht es binnen weniger Minuten in den Stuttgarter Osten.

Ein Rentner ist in einer Bäckerei umgekippt. Die beiden Helfer befragen ihn, testen Blutdruck und Zuckerwert. "A bissle neben der Kapp" fühle er sich, sagt der Mann. Das ändert sich schlagartig, als er ins Krankenhaus soll. "Mir geht's wieder gut", befindet er. Freunde überreden ihn, zur Abklärung mitzukommen. "Zwingen kann ich ihn nicht", sagt Muscella. Wer partout nicht mitwill, muss eine Erklärung unterschreiben. Manchmal ist sogar die Polizei nötig. "Man braucht viel Überredungskunst", weiß die 27-Jährige. Zum Schluss können sie den Mann doch ins Krankenhaus bringen.

Die Besatzung desinfiziert das Auto, kurz bleibt Zeit zum Durchatmen. "Stressig ist der Job auf jeden Fall", sagt Diana Muscella, "oft startet man von null auf hundert durch, gerade nachts." Trotzdem war der Beruf schon immer ihr Ziel. Bei Böhmer ist das anders. Der 20-Jährige hat beim DRK während eines freiwilligen sozialen Jahres die Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert und wartet nun auf einen Studienplatz. "Die Zeit bis dahin will ich sinnvoll nutzen", sagt er.
Für ihn, der noch zu Hause wohnt, sei die Bezahlung in Ordnung. Wer von einem Nettolohn um die 1100 Euro leben muss, tut sich allerdings schwerer. Und die Diskussion um nicht eingehaltene Hilfsfristen? "Wir haben nicht das Gefühl, langsam zu sein", sagt Muscella. Dass die Situation trotz neuen Fahrzeugen und Räumlichkeiten in Stuttgart anderswo besser ist, hat sich aber auch hier herumgesprochen.

Schon ruft der nächste Einsatz. Ein älteres Ehepaar atmet schwer, die Diakonie hat die Rettungskräfte angefordert. Beim Abhören des Mannes stößt Muscella auf "ein Brodelkonzert" in der Lunge. Sein Zustand wird zunehmend schlechter, sie verständigt den Notarzt und einen zweiten Rettungswagen. Nach und nach treffen sieben Helfer ein, auch besorgte Nachbarn tummeln sich in der Wohnung. Beide Patienten kommen in unterschiedliche Kliniken - je nachdem, wo gerade Platz ist.

Zeit zum Luftholen bleibt nicht. Kaum sind die Medikamente in den Notfallkoffern wieder aufgefüllt, folgt der nächste Funkspruch. Es geht mit Vollgas nach Vaihingen, ein Mann ist gestürzt. In der Einbahnstraße drängen sich die Autos, es gibt kein Durchkommen. Ein Taxifahrer springt aus seinem Wagen und lotst den RTW durch.

Der Patient ist kaum ins Marienhospital eingeliefert, da dröhnt das Martinshorn schon wieder. In einem Unigebäude liegt eine chinesische Studentin am Boden und krümmt sich unter Magenkrämpfen. Zum dritten Mal an diesem Tag treffen wir auf den Notarzt. Auf Englisch befragt er die Patientin, die vermutlich einen allergischen Schock erlitten hat. Die chinesischen Kommilitonen beobachten den Auftritt des deutschen Rettungswesens mit einer Mischung aus Sorge, Respekt und Faszination. Weil der Aufzug zu klein ist, kommt keine Trage zum Einsatz. Mit vereinten Kräften wird die Studentin auf einem Tuch zum Fahrzeug getragen. Ab ins Katharinenhospital.

Erst am Schichtende rollt der RTW wieder in die Wache. Langweilig ist dieser Beruf nicht - aber auch nichts für schwache Nerven. "Es ist hart, und man muss wissen, wie man damit umgeht", sagt Muscella, "aber es gibt immer jemanden, mit dem man sprechen kann." Wenn Zeit dafür bleibt.

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